Hallo Steif!
Steif hat geschrieben:Bisschen entnervte Grüße
Ich gebe zu, meine erste spontane Reaktion: „Hui, ein Spießer.“
„Die Definition von Spießigkeit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn jemand intolerant ist und anderes nicht zulässt, ist er ein Spießer. Das ist der Hausmeister, der nicht will, dass man draußen Fußball gegen die Garagentore spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahnsinnig darüber aufregt, weil ein Punker einen Irokesenhaarschnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der anderen nicht zu akzeptieren – das ist spießig, meine ich.“
(Christian Ulmen bei Spiegel Online)
Schnell ist man versucht zu sagen: „Du musst sie alle doch nicht lesen, nicht anklicken. Braucht dich doch nicht interessieren. Wenn es dich stört, ignorier es.“
Aber das wäre zu einfach. Auch Toleranz kann eine Form in der Intoleranz sein. ;-) Und zwar, indem man Kritik oder Einwände unter dem Totschlagargument „Lass jeden doch tun, was er mag“ abbügelt. Damit erstickt man jeden Diskurs im Keim.
In Bargteheide saß eine bunt gemischte Truppe zusammen (Tagebuchschreiber mit viel Feedback, mit weniger Feedback, Nicht-Tagebuchschreiber, die teils Tagebücher lesen, teils aber auch nicht, es war also alles dabei) und jeder von ihnen hat exakt dasselbe angemerkt wie du: Eine Tagebuchschwemme ist zu verzeichnen. Dieses Phänomen beobachteten also mittlerweile so einige.
Einen größeren Erkenntnisgewinn verspricht also, den Diskurs nach philosophischen Kriterien anzugehen:
„I’m trying to break you of the habit of automatically saying, „Yes, this makes sense. I’ll accept it.“ I’m trying to train you to pause and say, „Yes, this seems to make sense. But does it?“
(Daniel Quinn – If they give you lined paper, Write Sideways)
Steif hat geschrieben:versucht sich jeder hübsch ins dekorative Licht zu rücken?
Hm. Hiermit vermutest du aber hoffentlich nicht, dass dies der alleinige Grund für sämtliche Tagebuchschreiber ist? Falls ja, wäre die Schwemme bald gelöst. Diejenigen, die kein oder nicht genügend Feedback bekommen, würden demnach schnell in der Versenkung verschwinden.
Ich glaube, es gibt so vielfältige Gründe, wie es Tagebuchschreiber gibt.
Wenn es „Fame“ wäre, würde ja jeder möglichst unterhaltsam schreiben. Manche listen aber nur Tabellen auf oder schreiben nur Fakten runter. Wenn jemand nur für sich selbst schreiben würde, warum dann veröffentlichen? Warum nicht nur in der privaten Word-Datei auf dem heimischen PC schreiben? Wenn jemand nur Rat wollte, warum dann nicht explizit im entsprechenden Bereich diese spezielle Frage stellen?
Nein, die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen. Und es ist selten nur ein Faktor, sondern meist multikausal. Die Kommunikation hat sich durch die sozialen Medien verändert und kommt dem entgegen. Ich kann hier mehrere Faktoren hervorragend unter einen Hut bringen:
zusammengefasst:
Effizienz in der Kommunikation.
Es ist so praktisch. Und so zeitsparend: Ich schreibe es für mich auf und zeitgleich muss ich nicht mehr jedem meiner Freunde oder Bekannten separat (1:1) von etwas erzählen, sondern muss es nur einmal online setzen (1:n). Wenn ich 5 Freunden bei RW nicht mehr separat erzählen muss, wie der gestrige Lauf war, sondern alle 5 im Blog nachlesen können, ist das rein faktisch eine effiziente Kontaktverwaltung. Und ich muss eine Frage nicht 5x beantworten, sondern nur 1x. Das Feedback wird ebenfalls effizient an Ort und Stelle gebündelt. Faktor Teamarbeit: Befrage ich mit einer Problemstellung 5 Personen einzeln oder tauschen sich 5 Personen mit ihrem Wissen darüber aus, was meinst du, was ergiebiger sein wird? Zudem muss ich all die Themen, die mich beschäftigen, nicht einzeln in irgendwelche Unterforum (Training, WK, Equipment, Gesundheit) setzen, sondern kann sie alle in einem Thread abhandeln. Gleichzeitig wird das Tagebuch zu einer Art „Exposé“ über sich selbst, welches weitere „Interessenten“ anlockt. Dies erleichtert weitere Kontaktaufnahmen und erhöht so zu den Zugriff auf weiteres Fachwissen, mehr Hilfestellungen, mehr Mutmacher, mehr Kontakte, mehr Laufverabredungen, mehr Wissen, mehr Unterhaltung, mehr Unterstützung, mehr Motivation, mehr Austausch. Natürlich nicht alles auf einmal. Hier kann der Tagebuchschreiber selbst die Auswahl vornehmen, sprich: Mit der Art zu schreiben steuert man selbst. Will ich Unterhaltung und Spaß, schreibe ich so. Will ich mit nur auf Fachebene austauschen, beschränke ich mich aufs Fachliche. Benötigt man Motivation oder Mutmacher, schreibe ich ebenfalls entsprechend. Die Gründe mögen vielfältig sein und die Gründe mögen wechseln. Letzten Monat brauchte ich Hilfe, letzte Woche benötigte ich Motivation und heute ist nichts los, deshalb will ich Spaß. Ich glaube, es gibt nicht diesen einen speziellen Grund. Und manche haben einen großen Pool, auf den sie nach Bedarf zugreifen können.
Zu mir selbst: Als ich mein Tagebuch erstellte, war mir kein spezieller Grund bewusst. Ich gestehe, ich dachte überhaupt nicht so recht drüber nach, was ich da tat. Und dann war die große Dynamik da. Wie damit umgehen? Nun ja, mittlerweile befinde ich mich in Tagebuch-Rente (wenn auch noch recht frisch). Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die unbewussten Gründe, aus denen ich damals das Tagebuch gestartet habe.
Zusammengefasst: Ein Bedürfnis entsteht dort, wo ein Mangel herrscht.
Momentan ist mein Bedürfnis, ein Tagebuch zu führen, einfach weg. Dafür habe ich mehr das Bedürfnis nach direkter 1:1 Kommunikation im Stillen, im Privaten. Bei all den Vorteilen, die Tagebücher leisten können, kommt es irgendwann (jedenfalls bei über 100.000 Klicks) zu Nebeneffekten, über die etwas mehr Reflexion angebracht wäre, als ich es an den Tag gelegt habe. Ich ahnte ja nicht… Und ist stellte mir die Frage, inwieweit ich eine Effizienzsteigerung und Maximierung überhaupt als gewollt und gewünscht ansehe. Hier hat sich also durch einen Mechanismus der Übersättigung mein Bedürfnis ins Gegenteil gekehrt.
Steif hat geschrieben:Wer will die alle lesen, die ganze Vorgeschichte behalten und sinnvoll drauf eingehen?
Dass die Häufung als störend empfunden wird, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass der Mensch bei einer zu großen Auswahl unzufriedener wird. Wer mag, googelt das „Marmeladenexperiment“ – es gibt aber noch zig andere Experimente und Studien zu diesem Thema. Wenn die Auswahl steigt, steigt das Interesse des Menschen. Gleichzeitig nimmt die Entscheidungsfähigkeit ab und die Unzufriedenheit steigt.
Also typisch menschlich. Dein Interesse ist erregt, du klickst dich durch und je weniger Perlen darunter sind, desto unzufriedener wirst du.
Wenn ich unter 10 Muscheln eine Perle finde, bin ich mit meiner Trefferquote auch zufriedener als bei der Sucherei mit 1 Treffer unter 1000 Muscheln.