So, jetzt kommen wir mal zum eigentlichen Lauf. Ich hätte noch viele andere Überschriften finden können:
- Wie man sich schon vor dem großen Lauf selbst fertig macht
- Warum man während des Laufs nicht Blümchen pflücken sollte, wenn man auf Bestzeiten aus ist
- Warum man zehn Wochen trainiert, um dann nicht die volle Leistung zu geben
- Wenn ich nur wüsste, warum ich Marathon laufe
VWKGJ
- Stille -
Wie, kein Gejammere? Na gut, eine kleine Mandelentzündung zu Beginn des 10-Wochen-Trainingsplans (Steffny, 3:30). Aber alles längst wieder aufgeholt. Das Training lief hervorragend. Sämtliche Einheiten locker absolviert, teilweise 2 langsame Einheiten pro Woche mehr gemacht. Für den zweiten Marathon sollte es halt eine systematische Vorbereitung sein.
Beim ersten bin ich in der Vorbereitung einfach schnell und viel gelaufen (siehe auch mein damaliger Thread). Im Wettkampf hatte ich das Tempo bis km 25 gehalten und war danach eingebrochen. Mit großen Schmerzen damals mit 3:37:58 ins Ziel gekommen. Überglücklich, aber drei Tage lang kaputt. Wenn es ein Vorwettkampfgejammere gab, dann vielleicht die Angst, dass es wieder so hart wird.
Allerdings: In der letzten Woche vor dem Hamburg-Marathon überkam mich eine regelrechte Lustlosigkeit, Trainingsmüdigkeit. Obwohl ich fleißig taperte. Ich machte mir schon Gedanken, was nach dem Marathon kommt: Das Leben geht weiter, es gibt wichtigeres (Familie, Beruf, ...), beruhige dich, oLi. Das war fatal. Das war der Beginn des Suchens nach Entschuldigungen. Was ja auch nur eine Form der Bewältigung von Versagensangst ist.
[indent]Lektion 1: Wenn du eine Bestzeit laufen willst, dann denke nicht über den Tag X hinaus!
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Vor dem Start
Auch nachts wieder Selbstberuhigungen, obwohl ich ja gar nicht nervös bin. Im Gegenteil, ich bin viel zu ruhig. Wo ist die Aufregung? Bin ich mir meiner Sache zu sicher? Kommt da schon die Selbstüberschätzung durch?
[indent]Lektion 2: In der Ruhe liegt *keine* Kraft. Du brauchst die Aufregung.
[/indent]Essen und Trinken: Zwei Sachen, die ich bisher nicht in den Griff bekommen habe. Getreu den (Greif'schen) Vorschlägen fange ich schon drei Tage vor dem Marathon mit viel Trinken an. Die Folge: Alle 30 Minuten renne ich aufs Klo. Auch der Zusatztrunk von 0,5 Litern exakt 15 Minuten vor dem Start wird dazu führen, dass ich bei Km 3 zum ersten Mal in die Büsche muss. Und das Frühstück, 3 Stunden vor dem Start eingenommen: Wo bleibt es? Um es vorwegzunehmen: Es ist mir am Sonntag überhaupt nicht mehr begegnet. Hätte ich gewusst, dass da nichts passiert, wäre ich sicherlich ruhiger gelaufen.
[indent]Lektion 3: Man kann vor dem Wettkampf auch zuviel trinken!
[/indent]Wo sind denn jetzt die Mitläufer aus dem Forum? Ich wollte doch nicht allein laufen. Mit mehreren kann man sich gegenseitig Kraft geben, ziehen, bremsen, etwas erzählen. Aber in Hamburg starten in einem Abschnitt gleich 500-1000 Leutchen, da findet man sich nicht zufällig wieder. Das war für mich ein absoluter Demotivator.
[indent]Lektion 4: Lauf in der Gruppe!
[/indent]Tja, und warum hab ich mir keinen Pacer gesucht? Abgesehen davon, dass ich durch die Menschenmassen unter Umständen gar nicht zu ihm/ihr hingekommen wäre, bin ich noch nicht mal auf die Idee gekommen.
[indent]Lektion 5 = Lektion 4 für Dummies: Lauf nicht alleine!
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Kilometer 1
Die Menge setzt sich in Bewegung. Langsam, träge. Um mich herum zu jeder Seite ca 1 Meter Platz. Es ist eng wie in einer Telefonzelle. Überholen ginge nur mit Rempeln. Was steht in jedem Lehrbuch fünf Mal: Nicht zu schnell angehen. Also trotte ich mit der Herde. Ergebnis 5:42 Min statt 4:57. Jetzt hätten alle Alarmglocken schrillen müssen! Aber ich dachte mir: Das hol ich locker wieder rein. War das jetzt Übermut oder Nicht-wirklich-wollen? Keine Ahnung. Es war ja so bequem, vor sich hinzueiern und als Entschuldigung hab ich die Enge vorgeschoben.
[indent]Lektion 6: Für alle: Starte nicht schneller als in deinem geplanten Marathon-Tempo. Für oLi: Aber auch nicht langsamer!
Lektion 7: Korrigiere Abweichungen sofort. Mach was!
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Kilometer 2-5
Unverständlich: 5:26/5:33(Pipi 1)/5:20/5:15.
Ich hab nicht wirklich versucht, schneller zu laufen. Das macht einen Rückstand von fast 2,5 Minuten und damit war das Rennen eigentlich schon gelaufen. So langsam dämmerte mir, dass ich Gas geben muss, um überhaupt noch eine Chance zu haben. Aber von dem Moment an kam die Unsicherheit auf.[indent]Lektion 8: oLi, du weißt doch, dass du auf den ersten Kilometern immer schlecht drauf bist und bummelst. Überwinde dich!
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Kilometer 6-10
Aufholjagd: 4:49/5:02(Pipi 2)/4:57/4:46/4:42. Rückstand jetzt 1:52 Min.
O.k., die Strecke ist prima zum schnellen Laufen. Durch Övelgönne zurück nach Altona unter Schatten spendenden Bäumen, nicht zu viele Zuschauer, man verpasst nichts. Mir gehts eigentlich prima. Mit Schrecken überhole ich den Pacer für 3:45 Stunden.
Kilometer 11-15
Aufholjagd weiter: 4:50/4:44/4:51/5:48/4:51. Rückstand jetzt 1:30 Min.
Einlauf an den Landungsbrücken: Phantastische Stimmung, Musik, Menschenmassen und es geht bergab! Ich laufe auf locker, weiß, dass das jetzt meine stärkste Phase ist, Puls bleibt dabei unter 85%. Einer meiner Wünsche war, diesen Marathon voll zu genießen und nicht wie in Köln die Hälfte nicht wahrzunehmen. Jetzt kommen ganz andere Gedanken auf: Wieso will ich eigentlich so schnell sein? Wer langsamer läuft, hat mehr von seinem Startgeld (sorry, der Scherz musste sein). Bestzeit und Genuss, das widerspricht sich doch.[indent]Lektion 9: Bist du bereit, für deine Bestzeit die Schönheiten der Strecke zu ignorieren? Entscheide dich vor dem Lauf!
[/indent]Zwischenfall bei Kilometer 14/15 im Wallringtunnel: Der Forerunner bekommt kein Signal und ist der Meinung, Kilometer 14 habe 7:48 Min gedauert. Der Rückstand wächst anscheinend schlagartig auf fast 4:30 Minuten. Ich habe keine sichere Zeit-/Entfernungsangabe mehr. Ich korrigiere gedanklich um mindestens 2 Minuten.
Lektion 10: Trau keinem Forerunner! Drucke lieber Tempotabellen aus.
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Kilometer 16-20
Erste Verzweiflung: 4:53/4:52/4:55/5:44(Pipi 3)/5:11 (Wasserstelle). Rückstand rechnerisch: knapp 2 Minuten, Anzeige: 4:30 Minuten
Grandiose Bilder rund um die Binnenalster. Wieder Menschenmassen, freundliche Zurufe, Sonnenschein. Kleiner Zwischenfall hinter der Kennedybrücke: Ich knicke mit dem rechten Fuß um, nach 200 Metern ist es wieder in Ordnung. Hat trotzdem weh getan und führt dazu, dass ich schon bei Km 17 das erste Mal ans Aufgeben denke. Aber ich weiß, dass ich darüber hinweg muss und dass das noch öfter passieren wird. Durchhänger bei km 19 und 20. Tiefpunkt Nr. 1.[indent]Lektion 11: Du darfst dir keine Durchhänger erlauben! Nicht einen einzigen Kilometer.
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Kilometer 21-25
4:49/4:51/5:02/4:56/5:10. Rückstand: ca. 2:50 Minuten
Die HM-Marke zeigt es deutlich: zweieinhalb Minuten Rückstand und ich fühl mich beschi**en. Die Aufholjagd hat Kraft gekostet und ich bin demotiviert. Ich kämpfe noch dagegen an, aber der Forerunner bewegt die Gesamt-Pace ums Verrecken nicht unter 5:09 min/km. Obwohl ich ja weiß, dass der Wert nicht stimmt, lasse ich mich doch davon beeinflussen. Da hilft auch die Zimmerstraße in Uhlenhorst nicht so richtig: Live Band und Lautsprecher mit Musik aus den Häusern!
[indent]Lektion 12: Schau nicht auf den Forerunner! Lauf nach Gefühl und Stoppuhr.
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Kilometer 26-30
4:57/4:46/4:56/4:53/4:57. Rückstand unverändert ca 2:50 Minuten.
In Köln hab ich ab km 25 langsam abgebaut. Heute geht es noch, also schon mal ein qualitativer Fortschritt. In der City Nord ist aber auch wirklich der Bär los und auch am Bahnhof Alsterdorf brennt die Luft. Viele Läufer gehen schon, einige haben erste Krämpfe.
Kilometer 31-35
5:24(Wasser)/5:04/5:05/5:02/5:40(Wasser). Rückstand wächst auf fast 4 Minuten.
Noch einmal ein letzter großer Push am Bahnhof Ohlsdorf, dann wird es etwas ruhiger und das erste Massensterben setzt ein. Maienweg und Alsterkrugchaussee ziehen sich, und zum ersten Mal bin ich froh, dass wirklich so viele Läufer dabei sind. Der laufende Menschenstrom reißt nicht ab, sondern zieht einen mit sich.
Ab km 30 hab ich das Rennen um meine Zielzeit aufgegeben. Bei fast 3 Minuten, die noch aufzuholen wären, hab ich keinen Chance mehr gesehen. Ich gönne mir jetzt auch kurze Gehpausen an den Wasserstellen, bekomme etwas Hunger und bräuchte jetzt eigentlich Zucker. Bin zu niedergeschlagen, um mein Maoam aus der Tasche zu kramen. Tiefpunkt Nr. 2.
Vielleicht hab ich zu früh aufgegeben. Die Kraft hätte sicher für mehr gereicht, wenn der Kopf mitgespielt hätte. Tief im Inneren glaube ich immer noch:
[indent]Lektion 13: Wenn du bis km 35 deiner Zeit bleibst, wirst du auch kämpfen!
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Kilometer 36-40
5:17/5:50/5:33/5:33/5:34. Rückstand jetzt egal.
Die Tarpenbeckstraße geht bergab, das tut gut. Aber danach wird es doch noch hart. Die Beine tun jetzt einigermaßen weh, ist aber noch gut auszuhalten. Also experimentiere ich etwas: Käme da noch was an Endbeschleunigung, wenn ich wollte? Nein, nicht wirklich, wie man an den Zeiten sieht. Konstant, aber nicht schnell genug. Trotz der wogenden Zuschauermassen am Eppendorfer Baum und am Klosterstern komme ich nicht mehr an die 5:00 min/km heran. Die endlos lange Rothenbaumchaussee tut ihr übriges zur Motivationslage. Ich will nur noch ins Ziel.
[indent]Lektion 14: Du musst an deiner Endbeschleunigung arbeiten!
[/indent]Kilometer 41-42,2
5:45/5:20/0:50. Zielzeit verfehlt um 07:46 Min. Endzeit: 3:37:46.
Kurz von dem Anstieg der Gacischaussee zum Ziel ein zweites Mal die laufen-aktuell Foris gesehen. Den konnte ich jetzt schon zurufen "Leider nicht geschafft". Die 12 Sekunden, die ich schneller als in Köln war, sind nun wirklich kaum eine neue Bestzeit wert.
Vorbei, aus, verloren!
[indent]Lektion 15: Lerne, auch mit Niederlagen umzugehen!
[/indent]War es denn eine Niederlage? Sicher ist:
- Ich hatte mir vorgenommen, eine bestimmte Zeit zu laufen und hab das Rennen zu Anfang verbummelt. Anfängerfehler und/oder zu wenig Selbstvertrauen.
- Viel schlimmer: Ich habe den ganzen Winter und 10 Wochen im speziellen trainiert und dann nicht den Willen gehabt, die Leistung abzufordern. Mentale Fehlleistung/Aussetzer? Trainingsmüdigkeit?
- Der Hamburg-Marathon ist viel zu schön, um mit einem Tunnelblick dort durchzuheizen.
Ich bin deutlich besser trainiert als beim ersten Marathon in Köln. Nach dem Lauf in Köln brauchte ich erst einmal eine Stunde in der Horizontalen, bis ich wieder ganz da war. Diesmal war ich voll dabei, konnte bis km 35 steuern und hatte noch deutliche Reserven. Bereits nach 10 Minuten ausruhen konnte ich mit lockeren Beinen wieder lostraben. Und auch am Montag nach dem Rennen spüre ich lediglich ein leichtes Ziehen in den Oberschenkelrückseiten. Ich bin absolut nicht an meine Grenzen gegangen. Blöd, oder?
Ich muss mir mal wieder die Sinnfrage stellen:
- Warum laufe ich eigentlich (Marathon)?
- Damit es möglichst schnell wieder vorbei ist?
- Damit ich schneller und noch schneller bin?
- Macht es mehr Spaß, Bestzeiten zu laufen oder den Lauf zu genießen?
So, jetzt wisst Ihr, was mich umtreibt, woran ich momentan knabbere.
Auf jeden Fall habe ich am Sonntag sehr viel über mich und das Marathonlaufen gelernt. Und dabei Lehrgeld bezahlen müssen.
oLi
[Ist Euch so etwas eigentlich auch mal passiert? Würde mich sehr beruhigen, wenn ich nicht der einzige Dooftrottel bin, der einen solchen Blackout hat.]