... oder mein Weg nach, und vor allem DURCH Mainz
Anmeldung zum Gutenberg-Marathon Mainz im Herbst 2004. Ich weiß noch nicht, ob ich das so richtig will. Ups, jetzt ist es passiert. Ich fühle mich trotzdem gut.
Intensive Vorbereitung ab Ende Januar: Die Grippe ist auskuriert, jetzt wird es ernst. Ein Trainingsplan muss her. Nach dem Studium mehrerer Möglichkeiten, einschließlich Steffny und Greif, stricke ich ihn mir selbst. Ich muss schließlich Beruf, Hobbys und Ehrenämter unter einen Hut bringen. Ich fühle mich gut.
Im Training über 12 Wochen wechselt die Form durch Höhen und Tiefen, Tendenz steigend. Details würden Seiten füllen. Ich fühle mich sehr gut.
Ein Brief kommt: Die Startnummer F3715 soll mich ins Ziel tragen. Oder soll ich die Startnummer F3715 ins Ziel tragen?
Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass der ersehnte Tag des Rennens näher rückt:
- Ich trinke wochenlang keinen Alkohol.
- Mein Tagesablauf richtet sich immer mehr nach dem Training aus.
- Ich beobachte täglich, später stündlich die kommende Wetterlage in Mainz.
- Ich weiß nicht was ich anziehen soll.
- Mein rechter Fuß tut weh.
- Mein linkes Knie tut weh.
- Mein linker Fuß tut weh.
- Alles tut weh.
- Ich weiß immer noch nicht was ich anziehen soll.
- Donnerstag und Freitag vor dem Rennen bin ich ganz krank.
- Ich fühle mich nicht so gut.
Samstag, den 7. Mai fahren wir zu zweit nach Mainz. Direkt hinein, immer geradeaus bis zum Rhein und ins Parkhaus. Dann geht es zu Fuß zur Rheingoldhalle. Dort erhalte ich im Nullkommanix Startunterlagen und Champion Chip. Der grasgrüne Kleiderbeutel sieht eher aus, als ob ich von einer Landwirtschaftsmesse komme. Der Inhalt: ein Handtuch (ok), ein gepresstes Schwämmchen (na gut) und ein kleines Stück Traubenzucker (wow). Der kurze Rundgang durch die Marathonmesse ist Pflicht, ebenso eine kleine Stippvisite an der morgigen Strecke: man sieht noch nicht viel.
Ich kann in Mainznähe übernachten. Die Freunde kochen perfekt: Kohlehydrate, Mineralien, Vitamine (Pasta mit Tomatensoße, dazu Salat). Vor dem Essen mache ich ein kleines 4 km-Läufchen, damit die Muskeln noch wissen was morgen zu tun ist. Ich fühle mich supergut.
Essen: die anderen stoßen mit Wein an, ich trinke brav mein Mineralwasser. Ich bekomme Bauchweh. Endgültig VWKGJ? Ich fühle mich gar nicht gut.
Dann bekomme ich ein Bild präsentiert: „So jubelt man im Ziel – merk dir das – so musst du morgen aussehen.“ Ich verspreche so auszusehen. Ich fühle mich immer noch nicht gut.
Nicht zu spät gehe ich ins Bett und schlafe tatsächlich relativ schnell und entspannt ein.
Am Sonntagmorgen klappen die Augendeckel exakt um 5.11 h schlagartig hoch: Heute laufe ich einen Marathon. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ich fühle mich mittelgut.
Ich dusche, damit sich das spätere Schwitzen lohnt. Manche duschen vorher nicht und stinken auf der Stecke wie ein Iltis. Die Aufregung steigt. Was ziehe ich an: lang oder kurz?
Kurzer prüfender Blick aus dem Fenster: die Sonne scheint, aber es ist kalt. Egal, das kurze Höschen muss her. Wer rennt, der schwitzt. Dazu ein T-Shirt und um den Hals ein Alibi-Buff.
Ich dehne mich.
Ich fühle mich prächtig.
Wir fahren mit dem Bus nach Mainz hinein. Immer mehr grüne Landwirtschaftsbeutel steigen zu. Viele kennen sich, fachsimpeln. Ich bin still, höre zu. Ich fühle mich gar nicht gut.
Vom Bahnhof aus müssen wir zu Fuß zum Rhein. Es ist saukalt, ich friere. Ich fühle mich überhaupt gar nicht gut.
Am Start ist die Hölle los. Wir erleben den Start der Handbiker. Dann renne ich schnell noch auf´s „Örtchen“. Dort herrscht Massenbetrieb, aber alles läuft diszipliniert und recht flott. Das war wichtig, jetzt kann man befreit auf die Strecke gehen.
Meine Drüber-Klamotten lasse ich bei meinem Anhang, schüttle mich noch mal. Ich laufe am Start vorbei nach hinten. Ein endloser, aufgeregter Läuferwurm wippt auf der Stelle. Minutenlang trabe ich weiter: Elite, 2:30, 3:00, 3:30, 4:00, 4:30, … Hier reihe ich mich ein, direkt kritisch beäugt von meinen Mitstreitern. Ich wippe mit. Ich fühle mich supergut.
Dann der Start, Begeisterung und Beifall brausen auf. Ok, wir stehen noch mehrere Minuten auf der Stelle, gehen dann langsam und – tatsächlich: ICH LAUFE LOS!!!
Wo soll ich denn laufen, so viele Leute um mich herum. Na gut, das Tempo stimmt einigermaßen. Ich winke ins Publikum, erwische tatsächlich meinen Anhang – und renne …
Die ersten Kilometer versuche ich meinen Rhythmus zu finden. Der Puls ist zu hoch 165-170, wahrscheinlich die Aufregung. Ich will zunächst knapp unter 160 laufen. Erst nach dem ersten Wasserfassen bleibt es bei 158. Ich rechne kurz nach und bleibe bei der Vernunfttaktik: die erste Hälfte kontrolliert auf Ankommen laufen, dann gucken was geht. Zur Not den Halbmarathon finishen. Primäres Ziel: die ganzen 42,195 km.
Ich komme recht spät in einen regelmäßigen Lauf, der Puls beruhigt sich. Die Strecke ist anfangs etwas öde. Als kleines Highlight geht es durch die Schott-Werke, dann ist es wieder grau. In Mombach wird es bunter, hier stehen Menschen und feuern an. Es läuft gleichmäßig. Ich fühle mich gut.
Manche laufen in Fleecepullis, Westen, Jacken aller Art, Longtights, Mütze, Schal und Handschuhen, haben sogar noch die Plastiktüten übergestülpt. Ich bin froh um kurze Hose und T-Shirt. Ich fühle mich gut.
Ab und zu beflügelt mich Musik – live oder wummernd aus der Box. Der Straßenrand füllt sich, die Zuschauer applaudieren. Es läuft gleichmäßig. Ich werde seit dem Start immer wieder überholt. Etwas kleiner ist die Zahl der von mir überholten. Egal, heißt es nicht: Du wirst sie alle wieder sehen? Mal sehen. Ich bezwinge mich nicht schneller zu laufen. Ich fühle mich ziemlich gut.
Die Mainzer Innenstadt ist voll Sonne und voller begeisterter Anfeuerer. Meine Beine sind kleine Maschinchen mit regelmäßiger Drehzahl. Ich trinke an jeder Station und ziehe mir dazu seit km 12 ab und zu ein wenig Powergel rein. Ich kann sogar die Highlights Christuskirche, Theater, Dom und Augustinerstraße genießen. Das dortige Kopfsteinpflaster wird durch Zuschauermassen und Sonne kompensiert. Ich fühle mich supergut. Auch die lange Gerade nach Weisenau und zurück kann ich genießen. Die Pulsanzeige wechselt zwischen 0 und 239. Ich beruhige mich: Das wird hoffentlich eher die Eisenbahnoberleitung sein, und nicht organische Unregelmäßigkeit. Bald sehe ich das Ziel. Hier horche ich in mich hinein: „kein Schweini weit und breit, alle Organe an ihrem angestammten Platz, Knie ist noch dran, genügend Power in den Muskelchen – und vor allem unbändiger Wille im Hirn.“ Ich ordne ich mich links ein, um ja nicht aus Versehen vorzeitig zu finishen.
Unglaublicher Jubel um mich herum. Ich winke in die Menge. Meinen die alle mich? – Später wird sich herausstellen, dass der Sieger kurz vor mir angekommen ist. Dabei hatte ich erst Halbzeit.
Wir laufen die Brückensteigung hoch. Oben erwischt mich eiskalter Wind. Sofort verhärtet die Beinmuskulatur: das tut richtig weh. Der Schmerz wird mich bis zum Ziel nicht mehr verlassen.
Aber bevor mich die Jammerei aufgeben lässt, reißen mich die geschmückten Straßen und der Applaus mit. An der Mainz-Kostheimer Bühne vorbeilaufend werde ich ausgerufen: Zuschauerjubel, ich juble zurück. Ich fühle mich supergut.
Zurück über die Brücke entscheide ich mich auch gegen das 2/3-Marathonziel.
Der graue Streckenteil ist entvölkert. Auch die Läuferreihen haben sich deutlich gelichtet. Eine Zeit, deutlich über 4:35 zeichnet sich ab. Jetzt spüre ich langsam die bereits gelaufenen km. Trotzdem ziehe ich mit Puls 165 gleichmäßig meines Weges. Ab km 30 ziehe ich das Tempo an. Dass die Pulsuhr wieder mal 0 anzeigt erklärt sich durch die Stromoberleitung. Ich beginne zu überholen. Immer wieder klatsche ich Hände ab. Bei zwei kleinen Jungs treffe ich ins Leere. Die machen sich einen Spaß draus, uns aus dem Rhythmus zu bringen. Egal.
Es beginnt ordentlich zu regnen. Egal. Mittlerweile gehen viele, manche stehen, dehnen gegen den Krampf. Ich laufe wie ein Uhrwerk und überhole weiter. Bei Puls 170 immer vorausschauen und Ideallinie einhalten. Gedanken an den Mann mit dem Hammer verdränge ich: Positiv denken!!! Überholen!!! Bald bin ich wieder trocken. Weiter trinken, den Rest Powergel reinziehen. Mein seit km 5 festgefrorenes Dauergrinsen animiert die Zuschauer immer wieder zum Klatschen. Ich rufe immer öfter zurück: „Danke, ihr seid Klasse!“ Bei km 35 ist man nicht mehr originell.
Die Schritte werden schwerer, ich rufe mir den Streckenverlauf ins Gedächtnis und repetiere, weiter überholend: „Du schaffst das, …“. Ich rase den letzten km mit Puls 180 das zweitemal durch die Augustinerstraße. Die Zuschauer treiben mich trotz der schmerzen in den Beinen voran. Zweimal links abbiegen und ich befinde mich auf der Zielgeraden. Tempo durchhalten. Ganz kurz bringen mich die Emotionen durcheinander. Ich zwinge mich in den Rhythmus zurück, passiere kurz vor dem Ziel eine langsamere Läufergruppe und FINISHE.
DAS ZIEL: Ich reiße die Arme hoch. Noch eine Zeitmessmatte: Ich reiße wieder die Arme hoch.
Zur Sicherheit reiße ich die Arme ein drittes Mal hoch. Ich muss doch jubeln. Schwupps, da steht ein junger Mann mit Medaillen. Ich neige mein Haupt und nehme meinen Preis in Empfang.
ICH BIN EIN SIEGER!!! EIN FINISHER!!! EIN MARATHONI!!!
Ich fühle mich saugut.
Danach:
Die Stufen abwärts zum Rheingoldhalleneingang waren mir bisher noch nicht aufgefallen. Alle Marathonis eiern seitlich mit schmerzverzerrtem Gesicht hinunter. Ich bin keine Ausnahme. Ich falle über das Schild „Rückgabe Champion Chip“. Ups, das hätte ich verpeilt.
Aber wie komme ich zu meinen Schuhen hinunter? Das Problem haben die anderen aber auch. Der einzige Stuhl wird frei: ich kann noch spurten, au, au, au …
In der Schlange für die Urkunden steht wieder ein Iltis vor mir. Ich muss länger warten. Meine Nase ist beleidigt. Nach vielen Minuten des Luftanhaltens erlöst mich ein freundlicher Soforturkundenausdrucker.
Ich treffe mich mit meinen Leuten. Wir gehen zum Bahnhof zurück. Ich brauche die doppelte Zeit im Vergleich zum Hinweg. Ich fühle mich supergut, die Beine weniger, der Fuß brimmst.
Zurück bei den Freunden nehme ich eine ausführliche heiße Dusche und suhle mich anschließend in Arnikaöl. Der Fuß meldet zwei blaue Zehen samt zwei blauen Nägeln. Das sieht nicht gut aus. Ich versuche es zu ignorieren und das klappt auch. Ich fühle mich supergut.
Jetzt wird gegrillt: dicke Steaks gibt es, dazu Spargel. Und ein Bier. Ich fühle mich total gut.
Dann fahren wir heim. Die Medaille hängt um den Hals. Alles tut weh. Ich fühle mich genial gut.
PS: MUSKELKATER, und es ist noch eine Zeit sub 4:30 geworden.
Mit Stolz: 4:27:52
Ich habe in Mainz gefinisht ...
1Liebe Grüße aus der Eifel____________Nele
Lesen gefährdet die Dummheit
26.8. Maare-Mosel-Lauf 9,693 km in 49:08; 2. Platz AK; 9. Platz in der Frauenwertung
24.9. Berlin-Marathon vorne steht jetzt eine 3; 66. Platz AK
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