Kennen Sie Buchholz? "Klar", werden die meisten sagen, Horst Buchholz, der Schauspieler. Der Paradekerl für Halbstarke, der fünf Sprachen sprach und zu internationalem Ruhm kam in der Verfilmung von Thomas Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull". (Nun sage keiner, man könne sich in laufen-aktuell nicht vorbereiten für "Wer wird Millionär?" mit Günter Jauch). Turnierschachspieler werden noch die Buchholz-Wertung nennen, mit der man
bei Rundenturnieren mit großer Teilnehmerzahl die am Ende punktgleichen Spieler auf verschiedene Plätze unterteilt, indem man die Punkte der jeweiligen ausgelosten Gegner summiert. (Keine Sorge, ich verstehe den Satz auch nicht). Das Buchholz, von dem hier die Rede ist, liegt im Westerwald und ist der Austragungsort des dritten Bonn-Cup Laufs. Mir als Bonner war es bisher unbekannt. Kein Wunder, es liegt direkt jenseits der Ländergrenze in Rheinland-Pfalz, und ist dieses Jahr erstmalig mit dem 10 km "Bahndammlauf" im Programm des Bonn-Cups, einer Laufserie von sechs Volksläufen.
Morgens, beim Erwachen im Bett, sind die Gedanken meist noch nach innen gerichtet. Wie ist das werte Wohlbefinden, Traumfetzen rufen Gefühle wach, die Stimmungslage kommt einem zu Bewusstsein. Kurzum, man hält Nabelschau, bevor der Tag losgeht. Das ist die Innenwelt. Tagsüber im Büro, auf Montage oder sonst wo auf der Arbeit agiert oder reagiert man auf die täglichen Anforderungen fast mechanisch, bevor man bei Feierabend registriert, dass der Nacken verspannt ist oder der Kopf schmerzt. Das ist die Außenwelt. Normalerweise berühren sich die beiden Welten kaum, außer beim Laufen. Wo sonst kann man gleichzeitig mit geschärften Sinnen die herrliche Natur rundum wahrnehmen und gleichzeitig besorgt in sich hineinhorchen, ob das Trainingstempo vom Körper gut angenommen wird. Peter Handke muss ein Läufer sein, wie sonst hätte er sein Werk "die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" verfassen können. (keine Ahnung, was Handke genau darin schreibt, ich habe von ihm nur "Begrüßung des Aufsichtsrats" als Schullektüre gelesen und später auf einer langweiligen Bahnfahrt "die Angst des Torwarts beim Elfmeter"). Mein Bericht wird deswegen zum Teil von meiner Innenwelt und der Buchholzer Außenwelt handeln.
Der andere Teil meines Berichtes gilt überwiegend meinem achtjährigen Sohn Felix, der meiner Frau und mir dickköpfig (von wem hat er das nur?) die Erlaubnis abtrotzte, seinen ersten 5 km Volkslauf zu absolvieren, der - mit Walken und Nordic Walking - parallel zum 10km Lauf ausgetragen wurde. Im Gegenzug hatte ich meinen Freund Dieter als Begleitung und Coach für ihn verpflichtet, und außerdem mein fast zwölfjähriges Patenkind Aaron zu
diesem Rennen mitgenommen.
Startschuss! Eine Runde auf diesem Aschenplatz. Staubig, heiß! Verdammt, der Staub trocknet mir den Mund aus. Locker bleiben. Die beiden da vorne überholen. Bin ich zu schnell? Schultern zurück, Rhythmus finden. Raus aus dem Stadion. Da vorne steht mein Freund Jörg mit der Kamera. Lächeln! Die 5 km Läufer durften vor dem Stadion starten und sind bereits nach rechts abgebogen, Walker inklusive. Wir müssen nach links. Ist das Tempo zu schnell? Puls 177, schon fast am Limit. Meine Position scheint stabil, keiner überholt oder wird überholt. Der erste Kilometer. 3:51 Minuten! Bist Du wahnsinnig! 47:30 Minuten müssen es mindestens sein, 45 Minuten dürfen es sein. Deinem Sohn hast Du im Vorfeld immer wieder gepredigt, langsam anzugehen, Und jetzt rennst Du los für sub 40. Langsamer! Kurve! Jetzt geht es raus aus dem Ort. Unebener Boden, unrhythmisches Laufen. Sonne - heiß! Schatten - warm! Die Beine fühlen sich etwas weich an. Bin ich locker? Der Mund wird trocken, der Körper heiß. Der rechte Oberschenkel beginnt hinten leicht zu pochen. Die Atmung - normalerweise kein Problem - ist am Limit. Keuch, keuch, keuch! Jetzt geht es in den lichten Wald, leicht bergan. Puls 180. Der zweite Kilometer in 4:20, immer noch zu schnell. Eine Fünfergruppe passiert mich nach und nach, mein bisheriger Vordermann ist bereits 50 Meter weit weg. Lass sie ziehen! Sonne - heiß! Schatten - warm! Immer noch geht's stetig bergauf. Wo ist das 3km Schild? Schon über fünf Minuten seit dem letzten Kilometer. Innenweltcheck: Körper heiß, Mund und Kehle staubtrocken, Atmung am Limit, Beine weich, zwei Stellen an den Oberschenkeln aua! Ralf, Du Idiot! Hast Monate trainiert und setzt diesen Lauf in den Sand wie ein Anfänger. Aufhören? Dieses leise Stimmchen findet kein Gehör. Ich fühle mich mies, aber diesen Kelch trinke ich aus, schließlich habe ich mir den Schlamassel selbst eingebrockt. Die nächsten zwei ziehen an mir vorbei. Deprimierend, aber egal! Zuwenig Wald, zuwenig Schatten. Bahndammlauf! Wo sind die Schienen? Ich würde gern ein Stückchen mitfahren, nur ein Stückchen. Das 4km Schild! 9:41 für die beiden letzten Kilometer, Puls schon bei 182. Gesamtzeit ausrechnen! Wieso kann diese #@$&% Uhr nur die Zwischenzeit des letzen Kilometers angeben und nicht die insgesamt verstrichene Zeit. 3:51 + 4:20 + 9:41 sind - verhedder! grübel! 18:52, oder nicht? Raus aufs Feld! Sonne - heiß! Von hinten kommen wieder zwei Läufer. Dieser lange Kerl mit seinen langen, platschenden Schritten bringt mich völlig aus meinem Rhythmus, hänge ich mich halt an den anderen, am
Lulatsch wieder vorbei! Windschatten! Bergab! Erholung! Erholung? Puls 181, wie estgeklebt ist die Anzeige. Herrliches Panorama, Labsal für Trainingsläufe. Es geht wieder hoch. Mist! Was steht auf dem Schild? Getränkestation. Wasser! WASSER! schreie ich innerlich, wie Quasimodo im "Glöckner von Notre Dame", wahrscheinlich sehe ich auch so aus, Quasimodo im Hohlkreuz statt mit Buckel. Lulatsch ist wieder an mir vorbei. Egal. 5. km - 4:14 Minuten - Puls immer noch 182 - Getränkestation - Wasser! Becher greifen und oben einknicken, um beim Weiterlaufen nichts zu verschütten. So wenig im Becher? Die Kehle wird kaum feucht. Die Beine sind wie Pudding, bleiche Beine, Vanillepudding.
Cut! Startschuss! Felix, Aaron und Coach Dieter haben sich brav hinten im Feld der 50 Läufer aufgestellt, aber Aaron geht ab wie der Blitz. Felix als jüngster Teilnehmer liefert sich mit der ältesten Läuferin (W70) ein Positionsduell, das bis zum Schluss anhält. Er überholt eine andere Läuferin und bekommt ein scherzhaftes "Unverschämtheit" mit auf den Weg. Der erste Kilometer wird in sechs Minuten zurückgelegt. Dieter versucht ihn zu bremsen, denn beim Training hatte Felix Durchschnittszeiten von 7 Minuten und 6:30 Minuten. Aber Felix hört nicht auf ihn und läuft das Tempo weiter. Beim ersten Anstieg zeigt sich der Unterschied zwischen 22 Kilogramm, die es hochzuwuchten gilt, und dem drei- bis vierfachen. Hier werden Plätze gutgemacht. Aaron ist mittlerweile weit voraus. Den zweiten Kilometer legt Felix ebenfalls in sechs Minuten zurück. Vergeblich mahnt Dieter wieder zur Vorsicht, zumal Felix Gesicht mittlerweile vor Hitze und Anstrengung gerötet ist, aber der kleine Kerl ignoriert wieder die Anweisung des Coachs. Das wird nachher Ärger mit dem Papa geben, oder? Nach 2,5 km greift Felix an der Getränkestation nach einem Becher Wasser, knickt ihn oben ein, und trinkt ihn aus, während er weiterläuft. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Kurz danach kommt ein sehr langer Anstieg und Aaron in Sicht, das ist Wasser auf die Mühlen meines Sohnes, davon hatte er vorher geträumt, seinem großen Freund Paroli zu bieten. Coach Dieter versucht wieder - oder immer noch - zu bremsen, aber Felix wird eher schneller. An der nächsten Getränkestation gibt Felix seinem Coach wenigstens die Hälfte seines Becherinhaltes ab.
Szenenwechsel! Weiter geht es durch ein Dorf, Autos warten bei einem Posten, bis unser Lindwurm aus Läufern vorüber ist. Hitze! Sonne - heiß! Schatten - warm! Bergan - bergab. Die Beine sind immer noch weich, aber ich überhole Lulatsch bergab. Ich kann es schaffen bis ins Ziel! Kilometer sechs, nur noch vier mehr. Tief atmen! Mhhh - mhhh - mhhh - mhhh - pfff - pfff - pfff - pfff! Im Viererrhythmus meiner Schritte, die Lunge arbeitet wie ein Blasebalg. Ein Glück, dass die langen Patscheschritte des langen Kerls mich nicht beim Atmen irritieren. Es geht eine lange Strecke bergab, vorbei an herrlichen Wiesen, etwa 150 Meter vor mir eine Läuferin, 50 Meter davor mein kurzzeitiger Windschattenspender. Lass sie ziehen. Nach etwas mehr als sieben Kilometern ist die Talfahrt zu Ende. Spitzkehre, rein in den Wald, Schatten - warm! In der Spitzkehre der Blick zurück. Lulatsch und fünf weitere Läufer hinter mir, zum Teil aber erheblich. Ob Felix schon im Ziel ist? Hoffentlich läuft alles glatt bei ihm. Aaron ist bestimmt schon da. Holprige Strecke, unrhythmischer Lauf, schmerzende Beine. Weiter! Den mickrigen Rest schaffst du noch. Das 2km Schild der 5km Läufer in umgekehrter Richtung kommt in Sicht. Hier ist Felix vorhin vorbeigekommen. Noch eine Wasserstelle. Ich trinke zwei Schlucke, der Rest geht über den erhitzten Kopf. Das langersehnte 8km Schild. Zeit? keine Ahnung? Puls? 183! Schatten, etwas Wind. Schritte hinter mir. Lange Schritte. Langer Läufer? Beschleunigen? Nichts geht mehr. Locker? Schultern zurück, Armschwung, Beine schwingen lassen. Geht nicht, schwer wie Blei. Atemholen zählen, ein Mal ein und aus, das macht acht Schritte. Eins, zwei, ... , fünfzehn. Schritte hinter mir, lange Schritte.
Cut! Der Anstieg erstreckt sich bis Kilometer drei, Aaron hört nun unentwegt eine Kinderstimme schwätzen, vom gelegentlichen "psst!" eines erwachsenen Begleiters unterbrochen. Die Portion Extraluft hätten andere gut brauchen können. Kurz hinter dem höchsten Punkt holt Felix Aaron ein, und sie laufen bis hinter Kilometer vier fast gleichauf. Hier ist Coach Dieter endlich sicher und erleichtert, dass Felix sich nicht übernommen hat. Doch bergab ist es von Vorteil, mit Gewicht zu laufen. Aaron zeigt sich von der Steigung erholt und zieht erneut davon. Trotzdem überholt hier Felix zum letzten Mal die ältere Läuferin. Bald ist das Stadion in Sicht und Aaron zaubert einen gewaltigen Schlussspurt aus dem Hut. Jörg schießt ein Photo von ihm, auf dem er zu fliegen scheint. Wer so gewaltig spurten kann, für den ist beim nächsten Mal und anderer Renneinteilung sicher mehr drin. Trotzdem, 29:34 Minuten und Platz 31 (von 49) können sich sehen lassen. Felix, dem auf dem letzten Stück die Schulter etwas schmerzt, kommt 20 Sekunden und drei Plätze später ins Ziel. Unter 30 Minuten! Jetzt folgt die bange Wartezeit, ob Papa es schafft, in weniger als einer Viertelstunde nach ihm anzukommen, wie wir beide gewettet
hatten.
Kilometer neun, na endlich. Zeit und Puls sind egal, nur schnell das Knöpfchen auf der Uhr drücken, für später. Die Kinder warten jetzt bestimmt schon ungeduldig. Ralf, du alter Angeber! Erzählst allen bei jeder Gelegenheit von deinem gewaltigen letzten Kilometer, und jetzt hast du nichts mehr drauf. Oder doch? Etwas schneller geht bestimmt - mhh mhh pff pff mhh mhh pff pff. Die Schritte hinter mir entfernen sich, oder nicht. Locker bleiben,
Schultern nach hinten, Armeinsatz! Komm, alter Bursche, das hältst du durch, oder? Was? Erst 1:30 Minuten seit dem letzen Kilometer verstrichen, das sind noch mindestens 650 Meter bis zum Ziel, 650 lange Meter. Schneller. Mhh pff mhh pff mhh mhh pffffff. Die Läuferin vor mir kommt in Sicht, der Kirchturm hinter dem Stadion, das Stadion. Ich nähere mich der Läuferin. Mhhhh pffff mhhhh pffff. Sie biegt auf den kurzen Weg zum Stadion, hinterher! Sch... auf Puls und Beine, schneller! Überholen! Kontert sie? Nein. Da steht die Fotografin des Veranstalters! Gesichtszüge glätten, wie siehst du denn aus, du Hohlkreuz-Quasimodo. Rein ins Stadion, spurtet die Frau hinter mir? Links nehme ich schemenhaft Aaron war, der das letzte Stück mit mir läuft. Einen Spurt kann man das nicht nennen, was ich mache. Felix rechts, die Ziellinie. ENDLICH! Unmittelbar dahinter gehe ich erst einmal noch keuchend in die Knie, Puls fast 200. Felix stürmt jubelnd auf mich zu, um mir seine Zeit zu berichten.
Ich winke grinsend und stoßweise keuchend noch ab, erst einmal den Puls wieder in zivilisierte Regionen transferieren. Jemand von der Organisation kommt und rät mir, mich in den Schatten zu setzen, Dieter holt mir einen höchst willkommenen Becher Wasser. Felix gibt einer Frau ein Interview und ich habe nun Zeit, meine Zeit zu prüfen. 44:37. Der letzte Kilometer in 4:09 Minuten. Donnerwetter! Nach dem verkorksten Rennbeginn und dem subjektiven Empfinden während des Laufens bin ich sehr zufrieden, meine Zielvorgabe erfüllt zu haben. Noch zufriedener bin ich, dass ich etwas weniger als eine Viertelstunde mehr als mein Sohn gebraucht habe. Aber am meisten freut mich, dass der kleine Kerl so glücklich über seine großartige Leistung ist; und mächtig stolz bin ich ebenfalls auf ihn.
1. Bild: Tochter Paula, Sohn Felix, Patenkind Aaron und Coach Dieter nach dem Lauf bei offensichtlich guter Laune
2. Bild: der Verfasser hat es geschafft und ist geschafft
Vaterstolz und Peter Handke zu Besuch bei Horst Buchholz (Vorsicht, lang)
1langsam läuft am längsten