...eine neue Fabelbestzeit zu laufen und auf den Boden der Tatsachen zurück geholt wurde.
Was hatte ich mir nicht alles ausgemalt:
Wie ich strahlend durchs Ziel laufe und meine neue Bestzeit, die bei 3:30 liegen sollte feiere. Wie ich mir in der Ergebnisliste angucke, dass ich in meiner AK nun zu den Top 300 gehören würde und so weiter.
In aller Herrgottsfrühe mache ich mich auf. Noch schnell am Bahnhof vorbei und das Gepäck ins Schließfach tun, dann die U2 nehmen um mit einigen anderen Frühanreisern an der Haltestelle "Messegelände" auszusteigen. Während des Fußmarsches zum Eingng überkommt mich an diesem Morgen wohl zum vierten Mal das dringende Bedürfnis Wasser lassen zu müssen. Die ersten Dixies kommen in Sicht und noch stehen keine Schlagen davor. So gehört das erste Klo dann auch mir. Auf einmal überkommt mich das Gefühl nun auch das große Geschäft erledigen zu müssen. Ich suche in meinem Kleiderbeutel nach dem Klopapier und habe natürlich keine Ahnung wo ich das verstaut habe. Da nehmen meine Augen etwas völlig ungewohntes wahr: Klopapier in Dixietown. Völlig baff lasse ich mich auf die Brille sinken und versinke ins Grübeln über Klopapier, lange Schlangen, frühes Aufstehen und gucke auf die Polar an meinem Handgelenk: es ist erst 7 Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Start. Was mit denen anfangen? Nun gut, erst mal Hintern abputzen und dann auf das Gelände.
Dort angekommen, stelle ich mit meinem scharfen Blick fest, dass mein Kleiderbeutel wie üblich wieder mal der prall gefüllteste von allen ist und ich frage mich wie üblich, wie es anderen gelingt mit so wenig Zeug auszukommen. Ich habe doch auch nur das nötigste dabei. Ein Badetuch und ein Handtuch. Hose, Socken, Unterhose, (Finisher) T-Shirt) für nach dem Lauf. Auf Schuhe habe ich dieses mal sogar verzichtet sondern nur Sandalen eingepackt und Badelatschen. Dann noch mein kleiner Kleidersackkulturbeutel. Nach dem Umziehen kommen noch meine Longtights, mein dünner Pullover und meine Laufjacke dazu. Dafür sind nicht mehr drin 3 Bananen.
Im übrigen sehen - wie üblich - alle anderen, im Gegensatz zu mir, wie richtige Läufer und gut trainiert aus. Was soll das heute nur werden.
Mit noch ungefähr drei Mal pinkeln (und jetzt auch anschließendem Händewaschen) vergeht die Zeit unglaublich schnell. Um 8 Uhr beginne ich mich umzuziehen. Vaseline an allen möglichen Stellen (nach dem Zieleinlauf und abends merke ich, dass es noch mehr möglich Stellen gibt), Franzbranntwein auf die Beine, Nipple-Protection-Plaster an die vorgesehenen Stellen, Druckstellenpflaster auf das Überbein am linken Fuß – noch was vergesssen? Mir fällt nichts mehr ein. Der Gürtel mit den Gel-Chips ist präpariert und wird umgeschnallt. Das Klopapier habe ich jetzt auch gefunden und klemme es zwischen Gürtel und Bauch. Ich werde es (wie immer) bis zum Ziel mit durchschleppen um es dort, völlig aufgeweicht, unbenötigt und unbenutzt zu entsorgen - aber das weiß ich schon vorher. Doch noch ist es nicht so weit. Das neu erworbene Cappy (schwarz und faltbar) und die unvermeidbare Sonnenbrille (it’s never to dark to be cool) aufgezogen, den gelben Beutel übergestülpt, den Kleiderbeutel verschnürt und abgegeben – jetzt kann es losgehen. Doch von wo? Dieses Jahr ist alles anders. Ich erinnere mich aber, dass mein Startblock "G" vom Goch-Fock-Wall aus auf die Reise geht also mache ich mich um 8:30 auf den Weg dorthin.
Im Startblock, der mehr wie ein Käfig anmutet in welchem die bestzeitgierigen Lauftiere eingesperrt sind und auf ihre Freilassung und die Jagd nach der Beute warten, herscht eine freundlich und doch angespannte Stimmung. Noch 20 Minuten bis zum Start. Ich bin froh in den gelben Sack geschlüpft zu sein, denn so richtig warm ist es noch nicht. Ich vertreibe mir die Zeit mit Beobachten der Vorbereitungsrituale der anderen. Sie haben keine. Genauso wenig wie ich. Ich mache also einige Alibi-Dehnübungen und Kopf- und Nackenspielereien. Noch fünf Minuten. Von überall her kommen gelbe Beutel an mir vorbei geflogen, aber auch alte Pullover und Hemden. Noch eine Minuten, jetzt erst streife ich – ganz Routinier – meine Tüte ab. Falte sie sorgsam und lege sie ordentlich an die Seite. 10 Sekunden. Ich ziehe meine Sonnenbrille an und dann fällt der Startschuß. Das Läufervolk setzt sich in Bewegung.
Der erste Kilometer geht sehr verhalten vor sich. Ich komme nicht richtig in Gang und bei der Markierung traue ich meine Augen nicht: 5:55!!!! Ich musste einen Schnitt von 4:59 laufen, wenn ich die 3:30 knacken will. Ab jetzt wird Gas gegeben und wie. Langsam wird mir warm. Die Reeperbahn ist heute morgen so richtig tot. Nur ein paar Betrunkene grölen aus dem dritten Stock und ansonsten ist die sündigste Meile der Welt eine einzige Baustelle und so leer wie noch nie.
Bei km 5 bin ich fast dran: 25:20 ein Schnitt von 5:04. Würde mir doch reichen 3:34 – wäre immer noch klasse und so bleibe ich dran. Ich denke noch, dass ich unbedingt auf Ottoerich achten muss, der ja bekanntlich bi 9,5 km stehen will – doch schon versinke ich wieder ins Bestzeiten grübeln. Königsstrasse. Das ist doch die Haltstelle bei der ich aussteige wenn ich in der Palmaille zu meinem Bekannten will. Doch das Haus steht direkt bei km 10 und jetzt bin ich bei ca. sechs. Hmm... grübel, die km fliegen und auf ein Mal stehen sie da: Ottoerich und Karin seine Frau. Sie sehen mich nicht und ich brülle eine lautes OTTO und beide Gesichter samt Transparent wenden sich nun mir zu und ich gebe die Fünf und merke, wie ich von den anderen Läufern beneidet werde und merke aber auch wie gut es tut jemanden an der Strecke zu kennen und zu erkennen. Das sollte nicht das letzte Erlebnis dieser Art für heute sein.
Zum ersten Mal wiederholte es sich ca. 500 m später. Denn nun war die Läuferschar in der Palmaille bei km 10 und hier wollte mein Bekannter, bei dem ich übernachtete und von dessen Wohnung im 15 Stock ich abends zuvor das Auslaufen der "Freedom of the Seas" hautnah beobachtet hatte, stehen und Fotos machen. Im Vorjahr hatte er mich verpasst und war nicht rechtzeitig unten. Sollte ihm das gleiche in diesem Jahr wieder passiert sein? Wir waren für 9:55 verabredet und ich war pünktlich!!!! Bei km 10 zeigte meine Uhr 50:37, also immer noch auf 3:34 Kurs. Was wäre das für eine Endzeit. Kurz bevor ich am Hochhaus vorbei war, habe ich ihn entdeckt. Er ist nur ca. 1,65 groß und muss sich gewaltig recken um jemanden zu finden in der Masse aber nun sieht auch mich, aber da bin ich schon vorbei. Doch da er erfahrenen Fotograf ist macht er noch drei schnelle Fotos von mir. Wir winken uns zu und weg bin ich. Bei km 10 hatte ich also - vermeintlich - mein Fanpotential aufgebraucht es sei denn ich würde noch irgendwo die LA-Groupies entdecken, was mir aber die gesamte Strecke nicht gelungen ist.
Hier, am relativen Anfang der Strecke, ist das Publikum zwar zahlreich aber weitest gehend stumm, so dass ich es immer wieder anfeuere mit "Da geht noch was", "Kämpfen Leute kämpfen" und "Gebt alles"-Rufen, was auch regelmäßig erst zum Lachen und dann zum Applaus zumindest für die Nachfolgenden führt. Später soll sich das gravierend ändern.
Am Ballindamm bei km 16 traue ich dann meinen Augen zum ersten Mal nicht. Da steht einer von meinen Badmintonspielern die ich in einem Verein im Nachbarort betreue. Ich laufe auf ihn zu um ihn zu begrüßen und dabei zwei nachfolgende Läufer fast über den Haufen – peinlich – aber ich war so überrascht und erfreut, dass ich auf nichts und niemanden geachtet habe. Ich habe mich dann aber auch dafür entschuldigt und die Sache erklärt. Vollstes Verständnis der beiden Youngster im Werder-Bremen-Trikot für den alten Mann. Ich fühlte mich gut. Ich fühlte diese sagenhafte Bestzeit in greifbarer Nähe. Ich 53 Jahre alt, seit 2 ½ Jahren erst beim Laufen, würde eine Zeit um die 3:35 laufen – unfassbar. KM 20 und ich liege mit 1:41:24 und einem Schnitt von 5:04 noch richtig gut im Rennen.
Doch was nun geschah, ist für mich auch heute, einen Tag später, nicht zu erklären: die 1,2 km bis zur HM-Zwischenzeit bin ich mit einem Schnitt von 5:51(!!!) gelaufen und von nun an ging es nur noch bergab. Vielleicht kamen jetzt die Gedanken, dass das doch noch gar nicht geht, jetzt schon diese Endzeit zu laufen, dass das alles viel zu früh ist. Dass ich den Schnitt ohnehin nicht bis zum Ende werde durchhalten können. Jetzt kommt die Erinnerung an meinen Trainingseinruch beim 35er vor vier Wochen als ich nur kriechend zu Hause ankam. Hey, Du bist schon 53. Mach mal Halblang. Ich specke meine Zielzeit ab. 3:40 wäre ja auch noch gut. Bei km 23 erneut ein unerwartetes bekanntes Gesicht am Straßenrand. Ich sehe ihn, ich rufe ihn an, er reagiert aber er erkennt mich wohl nicht weil er auch nicht mit mir rechnet und ich, versteckt unter Mütze und hinter Sonnenbrille, bin wohl auch nicht so leicht zu identifizieren. Aber er grüßt zurück – seine Frau ist Triathletin und läuft wohl auch mit, schießt mir durch den Kopf. Ein möglicher Adrenalinstoß bleibt aus. Bei km 25 kommt dann das endgültige Superbestzeitenaus. Beim Bücken um meinen Schwamm zu tränken spüre ich ein ziehen im linken Oberschenkel: Krampf. Ich laufe weiter und versuche ihn rauszulaufen, was mir bis km 30 auch gelingt aber erstens ist jetzt die Zeit zwar noch nicht vollends im Eimer 2:35:42 (5:11) was auf eine Endzeit von unter 3:40 zielen würde und zweitens habe ich dadurch wohl andere Körperpartien so belastet, dass sich nun Krampfanzeichen an allen möglichen Muskeln bemerkbar machen.
Von nun an weiß ich es zu schätzen, dass ich zum einen Michael heiße und zum anderen der Name auf der Startnummer steht. Die gezielten Anfeuerungen dich ich nun erfahren habe und die vielen Michael-Rufe, auch wenn sie mir nicht galten, haben mich – der sich von nun an nur noch mit Durchhalte-Parolen geholfen und der Überlegung, dass ich selbst wenn ich von nun an gehen müsste, immer noch eine Bestzeit erreichen würde, getröstet hat, im Rennen gehalten. Jetzt, bei km 39 tauchte mein Badmintonschützling erneut am Straßenrand auf und diesmal sah er mich, der nichts mehr richtig wahrnehmen konnte, zu erst und feuerte mich an. Ich konnte jetzt nur noch im Rennen bleiben, denn am Montag wird er beim Training sein und mein Endzeit wissen wollen – meine Reputation als Trainer stand auf dem Spiel. Trotzdem, bei km 40 und 3:33:45 wusste ich, dass ich – so wie meine Beine sich anfühlten – heute nicht einmal mehr die 3:45 knacken würde. Aber ich bin weiter gerannt und das Publikum in Hamburg hat mich ins Ziel gebracht. Bei 3:46:44 blieb die Uhr stehen und ich habe die Arme hoch gerissen und ich habe geheult – vor Glück. Ich hatte wieder einmal 42,195 km bewältigt. Nun schon zum fünften Mal. Meine alte Bestzeit habe ich um ca. 12 Minuten übertroffen und ich habe noch Platz für weitere Steigerungen.
Anders als im September in Berlin, wo ich mich während des Rennens zig Mal gefragt habe, warum ich mir das eigentlich antue, wusste ich dieses Mal: es wird eine neues Rennen geben und eine neue Chance und so schlecht war es ja eigentlich auch nicht.
Ciao
Michael
Von einem der Auszog in Hamburg...
1Link zum Erdinger-Tippspiel
Wäre die Welt eine Bank, hättet ihr sie längst gerettet (Greenpeace)
und
Nichts ist scheißer als Zweiter (Eric Mejer)
und
Die Nahrung soll Deine Medizin sein
und nicht die Medizin Deine Nahrung
Hippokrates
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