Den Tag vorher bin ich trotzdem ein rechtes Nervenbündel. Wie gut, dass Fori oLi und meine gute Freundin Imke auf mich aufpassen und sich nicht über meine Sprachstörungen wundern. Ich ahne, dass spätestens mit dem Moment, an dem ich zu laufen anfangen kann, alle Anspannung abfallen würde.
Morgens Treffen an der Messe. Ich vier Mal auf Klo wegen Blasendruck. Himmel, wie sollte das auf der Strecke erst werden? Na, zum Glück würde es ja genug Dixie-Toiletten unterwegs geben. Gab es dann auch (ich muss aber wie durch ein Wunder nicht) – warum sich während des Laufs vor einigen Dixies trotzdem Schlangen von bis zu 2-3 Personen bilden, während einen Kilometer weiter alles leer ist: keine Ahnung. Wahrscheinlich waren diese Läufer sogar noch weniger auf die Zielzeit fixiert als ich. Gut für sie.
Nicht wissend, wie viel Flüssigkeit ich nach so viel Pinkeln noch in mir habe, nehme ich dann auch pflichtschuldigst JEDEN Getränkestand an der Strecke mit (Vorsicht ist die Mutter der Wasserkiste oder so). Jeden bis auf den, an dem ich Ann-Kathrin verliere (die mich netterweise auf den ersten Kilometern in Othmarschen gefunden hatte, sodass wir einige Zeit zusammenlaufen konnten). Sie holt mich aber später wieder ein: „Hallo, Sie auch zur Kur hier?“
Was soll ich sagen: Noch Stunden später nach dem Lauf habe ich keinen Durst.
Also jeden Getränkestand mitnehmen. Wenn ich jetzt zeiten-geil wäre, müsste ich mir sagen „Das geht alles von deiner Zeit ab!!“ Bin ich aber ja nicht.
Das Publikum ist wirklich so genial, wie alle sagen, und ich verbringe den Großteil der Zeit damit, mir alles/alle genau anzuschauen, mit einem Grinsen im Gesicht. Einiges bleibt in Erinnerung:
- Es muss erst Kilometer 7 sein, da steht ein großes Plakat „ACHIM ZIEL“ – darunter der ganz kleingeschriebene Zusatz hinter dem ACH „wär ich doch nur schon“. Fiese Möpp, diese Othmarschener
- Von den Häuserfronten der Speicherstadt hallt der bedrohliche Rhythmus einer Riesenpauke wieder, an Galeeren erinnernd. Ich rufe Ann-Kathrin zu: „Das klingt ja wie auf dem Gang zum Schafott!“ ... eine Läuferin, die auf gleicher Höhe lief, stimmt mir grinsend zu.
- Ein fieser Moment ist irgendwo in Barmbek (KM 20 ff.), wo doch tatsächlich allerleckerster (fieser) Grillgeruch über die Laufstrecke hinwegzieht. Ich denke zu mir: „Neee, nä, das können die doch jetzt nicht im Ernst machen, uns hier so zu quälen!“ Keiner der Läufer und Läuferinnen um mich herum sagt was, als wir durch die Grillwolke laufen, aber ich bin mir SICHER, dass sich jeder etwas Ähnliches denkt. Grrr!!
- Wahnsinn, wie viel Energie manche Groupiegruppen aufwenden, um so oft wie möglich an der Laufstrecke zu stehen. Viele sehe ich mehrmals, in besonderer Erinnerung bleiben mir zwei riesengroße gelbe Plakate, auf denen HEINZ – HEINZ – HURRA! steht, und die ich bestimmt fünfmal (!!) sehe.
- Ack, so manche fies-laute Tröte/Trillerpfeife/Hupe, die einem scheinbar DIREKT ins Ohr trötet, wenn ich vorbei laufe, belege ich dann doch mit ner leisen Verwünschung.
- „Nein, die nicht, die Flasche ist für Oma“: Das schnappe ich von einem Mann am Straßenrand der Alsterkrugchaussee, an seinen kleinen Steppke gerichtet, der aus Langeweile die Taschen durchwühlt. Daraufhin sinniere ich minutenlang darüber nach, wie geil es sein muss, mit (ich schätz jetzt mal einfach) 60 Jahren noch so fit zu sein, dass man einen Marathon laufen kann – und dass ich das auch machen will! Vor lauter Sinnieren verpasse ich um ein Haar meine Chefin (selbst Cyclassics-Teilnehmerin), die nicht weit davon entfernt am Rand stand und jubelt.
Schließlich haben sich einige Teile meines Hirns (Kurzzeitgedächtnis ; )) ja auch schon verabschiedet und nehmen sich ein freies Wochenende. Dass langes Laufen mich irgendwie debil macht, wusste ich aber auch vorher.
In Barmbek laufe ich eine Zeitlang hinter einer Läuferin, wo ich die ganze Zeit überlege „Sunflower-Birgit? Ist sie’s, ist sie’s nicht?“ – nach einer Wasserstation kann ich sie überholen und jaa, die Startnummer bestätigt es mir: Birgit! Schön, dass wir uns noch (wenn auch kurz) gesehen haben. Das letzte Jahr flogst du bei KM 41 an mir vorbei, du als Läuferin, ich als Groupie, das erinnere ich noch gut. Hoffe, dass du gut ins Ziel gekommen bist mit deinem Lauffreund, hab nichts von dir gelesen.
Ohlsdorf bei KM 30!! Enge Laufgasse durch ein Spalier von metertiefen Zuschauerscharen – Gänsehaut pur! Schmerzende Muskeln sind wie ausgeblendet.
Das Größte für mich: Ich muss gar nicht gehen! (außer natürlich kurz bei Trinkstationen, und das zählt ja nich ...) Das hätte ich nie für möglich gehalten. Sicher, die Oberschenkel sind irgendwann schwer und ich hatte mir ja auch „nur Ankommen“ vorgenommen. Aber dadurch, dass an jeder Ecke Groupies von mir lauern können , wird jeglicher Impuls zu Gehen immer schon im Keim erdrückt. Und ich bestätige hiermit den guten Rat, den mir eine Lauffreundin vor dem Wettlauf gab: Postiere auf den hinteren Kilometern möglichst viele Fans – die helfen dir weiter. Absolut – nichts ist schöner, als zu wissen, hinter der nächsten Ecke steht der und der! Zur Not hätte man mit dem Wissen noch kurz vorher ein Lächeln aufsetzen können .... das ist aber gar nicht nötig, weil ich nämlich fast die ganze Zeit mit einem Lächeln laufe. Habe auch viele Groupies (Freunde, Familie, Arbeitskollegen) am Rand postiert, die alle kurz begrüßt werden wollen. Wenn ich jetzt zeiten-geil wäre, müsste ich mir sagen „Das geht alles von deiner Zeit ab!!“ Bin ich aber ja nicht, hah. Ich will ja nur auf Ankommen laufen.
Tipp: Groupies suchen lenkt total ab von schweren Beinen.
Es bringt mir sehr viel, dass ich die Strecke fast aus dem Effeff kenne – zu wissen, dass es um die nächste Ecke so und nicht anders aussieht, hilft ungemein. So kann ich (besonders in der zweiten Hälfte) immer abschätzen, wo ich bin und was noch kommt. Dann noch mit ein bisschen positivem Denken gewürzt („Ach, nur noch 10 Kilometer, das ist deine Hausrunde, die hast du doch locker in der Tasche“), kommen negative Gedanken gar nicht erst auf. Sogar die von vielen als nervig empfundenen Strecken Maienweg (KM 32-33) oder Alsterkrugchaussee (KM 33-35) wecken bei mir eher Heimatgefühle (ähem ), denn das ist Teil meines Wegs zur Arbeit, da kenn ich jeden Baum, jedes Haus! Wie wird es wohl sein, wenn ich den Weg wieder per Auto fahre ...?
Und auf einmal ist es schon Kilometer 35! Hier muss es irgendwo sein, dass oben besagte „in Gottes Hand“-Territorium, wo alles passieren kann und man sich über nichts mehr sicher sein kann. Aha. Soso. Also, ich muss sagen: Da geht noch was. Eigentlich ist das eher der Zeitpunkt, wo ich alle Vorsicht (na ja, fast alle, Freunde, die mich kennen, wissen, was ich meine ) in den Wind schieße und meinen bis dato durchgehaltenen vorsichten Schnitt gegen einen höheren tausche.
Irgendwo in Eppendorf sehe ich ein Bastkäppi walken: Martin, der Niederträchtige. Jetzt räche ich mich für sein schadenfreudiges Überholen irgendwo im Westteil der Strecke und ziehe grüßend an ihm vorbei. Er zeigt sich beeindruckt.
Viele viele müssen bereits gehen. Manchmal ist es auf der Rothenbaumchaussee so eng, dass man als „laufender“ Läufer Probleme hat, daran vorbei zu kommen, und ich denke mehr als einmal keck zu mir selbst „’Tschuldigung, darf ich mal vorbei ...“ während ich wieder einen hinter mir lasse (ein bisschen Niederträchtigkeit muss doch abgefärbt haben von Herrn M.) ... ich versuche aber, den Überholten mein breites Grinsen nicht zu zeigen. Muss ja nicht noch Salz in die Wunden der armen Männer streuen. Aber, was hab ich euch gesagt auf den ersten zehn Kilometern, als ihr mich alle überholtet? Na?? Na gut, lassen wir das .
Eppendorft KM 37-39!!! Wahnsinn, wie begeistert das Publikum alle Läufer (und die Gehenden) trägt. Oh, und da ist auch auch Martina, die mein breites Grinsen gleich auf Film festhält – danke!
Es wird Kilometer 40 – was, nur noch zwei Kilometer? Ein Blick zur Uhr zeigt, dass ich es wohl nicht schaffen werde, meine (eigentlich auch utopische) Traumzeit von 4:45 noch zu erreichen, aber möglicherweise irgendwas knapp dahinter. Kurze Rücksprache mit den Beinen, Beine geben grünes Licht, und zur Freude der am Wegesrand stehenden Zuschauer, die mit so viel Elan in diesem hinteren Läuferdrittel wohl nicht mehr gerechnet hatten, gelingt es mir, den Turbo einzuschalten und noch mal an allen vorbeizuflitzen. Kurz noch die Laufen-Aktuell-Groupies am Gorch-Fock-Wall erschreckt „Huch, da kommt ja schon Tessa!“, und ab geht’s auf den letzten Kilometer.
Jetzt will ich’s aber doch wissen: In einem Tempo, dass ich sonst nicht mal auf 10er-Wettkämpfen laufe. Müssen die den die Straßenkurven hier so rechtwinklig machen, das geht alles von meiner Zeit ab!
Da, das Ziel! In 4 Stunden und 45 Minuten laufe ich tatsächlich ein.
Hinter der Linie angekommen kenne ich keine Tränen – nur totales, absolutes Glück! Ich habe es geschafft, ich bin einen Marathon durchgelaufen!
Hinter dem Einlaufbereich warten Oli und Steffen auf mich – das ist auch gut so, denn wer weiß, wohin ich sonst vor lauter Glück geflogen wäre Und nur minimal später tickt mich jemand auf die Schulter: Ann-Kathrin!! Du hast auch deine Traumzeit erreicht! Waaah Gott, kann das Leben schön sein! Wir sind durchgelaufene Marathonis!
- The End (das breite Grinsen müsst ihr euch denken) –
Tessa