Ein entsprechendes Lauferlebnis, dass ich wohl nie vergesse, hatte ich am letzten Wochenende:
Die lange Nacht von Reichenbach stand zum 20. Mal auf dem Programm: Die Deutschen Meisterschaften im 24-Stunden-Lauf. Angestachelt durch den Bericht von Rymax über seinen Lauf vom letzten Jahr (Axel, Du hast Schuld!), liebäugelte auch ich schon lange mit einer solchen Herausforderung.
Doch mir war klar: Ohne ein Mindestmaß an Betreuung ist so ein Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deswegen war hier ein gewisses Maß an Überzeugungskraft erforderlich, um meine Frau dafür zu gewinnen, mich dabei zu unterstützen. Und das tat sie dann auch: Mit aller Kraft und Überzeugung! Aber dazu später.
Reichenbach im Vogtland erreichen wir am Freitag, gegen 16 Uhr – es ist warm.
Zelt aufbauen, Essen, Startunterlagen ausfassen, „Inspektionsrunde“: Der Lauf wird auf einem Rundkurs von 2,1164 km ausgetragen – durch ein Wohngebiet im Plattenbaustil… Über Gehwegplatten und Pflastersteine, auf Asphalt und über Bordsteine. Eine Runde hat 28 Höhenmeter. Die Spitzenläufer machen da ihre 100 Runden – also so nebenbei noch eine kleinere Bergbesteigung
Wir rüsten uns für die Nacht. Ohropax rechts und links, Pupille auf Null – abschalten, einschlafen – alles klappt.
Halb Acht wache ich auf. Meine Frau kommt vom Duschen – ich hatte nicht gemerkt, dass sie schon aufgestanden war. Ich nehm’ auch die Waschsachen unter den Arm und dann geht’s ans Frühstück. Ich esse reichlich, nehme keine Rücksicht auf irgendwas weniger gut verdauliches oder so. Zurück zum Zelt. Die gewohnte Prozedur vorm Lauf beginnt. Es ist genug Zeit – keine Hektik. Noch ein paar Anweisungen an meine Frau und nebenbei verfolge ich die Ansagen des Sprechers. Wer hat wie viele Male hier teilgenommen, welche Streckenrekorde gibt es etc. Ein Aufruf in die Menge: Es werden noch Läufer für eine Endlosstaffel gesucht: Jede Runde bringt Geld zugunsten eines guten Zwecks: für UNICEF. Meine Frau meldet sich spontan an. Um 5 Uhr – gerade bei Sonnenaufgang - darf sie ran! Sie freut sich, die Laufsachen nicht umsonst mitgenommen zu haben und darf aktiv dabei sein in der langen Reichenbacher Nacht...
Der Sprecher wird vor dem Start geehrt: Seine 1000 Moderation einer Sportveranstaltung – alle Achtung!
Dann geht es los. Neben den etwa 125 Startern stehen noch 13 Staffeln am Start. Sie tragen schwarze Nummern. Die 24-Stundenläufer haben rote Nummern: Je eine vorn und eine hinten. Ein zweiter Satz Nummern für ein Wechselshirt lag den Startunterlagen vorsorglich bei – prima!
Ich mache noch Fotos am Start und komme fast zuletzt an die Startlinie und stehe nun in vorderster Front.
Den Startschuss zum schwersten 24-Stundenlauf in Europa gibt um 10 Uhr ein Schützenverein mit Gewehrfeuer. Die Staffelläufer schießen vorbei wie die Windhunde. Eine rote Nummer ist noch nicht vorbeigekommen. Na, was soll’s! Im Training habe ich mich gezwungen, langsam zu laufen – es ging nur bedingt! Was hab ich nicht unternommen, um mal einen Schnitt über 6:30 Minuten hinzubringen: Mit Trinkrucksack auf dem Rücken bin ich gelaufen. Selbst das war dann schneller… Ich konnte nicht anders – ich lief mein Wohlfühltempo und ich wusste, dass dieses Tempo irgendwann von ganz allein langsamer werden würde... Auf diese Erfahrung, die ich ansatzweise beim Bieler Hunderter machen konnte, war ich schon gespannt. Unbekümmert lief ich Runde um Runde. 10 Runden waren nach 1:50 absolviert – der erste Halbmarathon. Die Sonne brannte heiß: Bis 29°C waren gemeldet worden. Zu meiner Freude hatten sich meine Eltern im Verpflegungsbereich eingefunden, um tatsächlich in dieser sengenden Hitze 3 Stunden an der Strecke das Geschehen zu verfolgen. Und da gab es doch sehr eigenartige Laufstile zu bewundern, die ich noch nicht zuvor gesehen hatte. Jeder hatte da wohl sein Rezept, was die Technik betraf. Auch die Outfits waren teilweise verwegen: Strohhüte, teilweise mit Blumenschmuck, lange Laufhosen bei Tag – kurze dann in der Nacht, Röcke – alles war vertreten – ein wirklich buntes Völkchen bildeten die 24-Stundenläufer von Reichenbach, die auch eine gewisse fröhliche Stimmung verbreiteten, die nicht unbemerkt blieb. Ein Unikum - Günter Menzel - zum zehnten Mal dabei, mit einem Rauschebart, der allein schon eine Gute Laune und stoische Ruhe erzeugte, von der man sich gern anstecken ließ.
An manchen Häuserblocks staute sich die Hitze. Duftende Beetblumen nahmen einem den Atem. An schattiger Stelle verbreitete ein Pfeifenstrauch seinen intensiven Duft der weit angenehmer zu ertragen war.
Die mitleidigen Blicke der Anwohner halfen da nicht wirklich gegen die knallende Sonne, aber einige ergriffen die Initiative und stellten uneigennützig ein paar Waschschüsseln mit Wasser oder Trinkbecher auf Tischen bereit, was von den Läufern zahlreich und dankend angenommen wurde, obwohl die Runde ja ziemlich kurz war und man so relativ schnell an Start und Ziel und der dort befindlichen Verpflegungsstelle vorbeikam.
Nach einer knappen Stunde laufe ich bereits auf den Vorjahressieger Dietmar Mücke auf. Er ist in meiner AK – seine Nummer hatte ich mir gemerkt. Etwas seltsam ist mir schon, als ich ihn passiere. Als ich kurz nach Mittag zum zweiten Mal auf ihn auflaufe, ist mir noch mulmiger: Er schleicht mehr, als dass er läuft. Obgleich ich weiß, wer er ist, spreche ich ihn an, ob er derjenige sei, welcher… - er bestätigt und läuft seinen Stiefel weiter. Ich nehme sein Tempo an. Wir kommen ins Gespräch. Wir tauschen uns aus, über Laufstil, Tempo, Ernährung - bis ich in seinem Tempo nicht weiterlaufen kann und verabschiede mich nach vorn. Mein Gefühl sagt, dass ich alles richtig mache – mir geht es gut, doch mein Kopf sagt: Was tust Du hier? Und: Du bist viel zu schnell!
Nach drei Stunden gibt es nur noch 3 Läufer, die sich in ein und derselben Runde befinden. Ich weiß, dass ich noch immer in Front bin. Ich weiß auch, dass ich dafür irgendwann quittieren muss... Noch vor 14 Uhr sind die 20 Runden voll – Marathon knapp unter 4 Stunden, 50km in 4:50. Nach 7 Stunden wurde das WM-Achtelfinale Deutschland-Schweden angepfiffen. Nur kurz darauf schon ein vielstimmiger Jubelschrei aus der Wohnsiedlung. Viele der mir zu dem Zeitpunkt sichtbaren Läufer rissen die Hände hoch und jubelten ebenfalls. Das gab neue Kraft und auch das 2:0 hatte seine Wirkung. Die Rennsteigdistanz gab es nach 7:40 Stunden – wenngleich hier nur mit etwa 1000 Höhenmeter bis dahin.
Zwischenzeitlich hatte ich mir den Luxus gegönnt, um mich für knapp 10 Minuten beim Wettkampfrichter abzumelden. Ich wollte sehen, wie ich eine kleinere Unterbrechung wegstecke und wie ich dann wieder in Schwung komme. Um die Zeit nicht sinnlos zu vertrödeln, bemühte ich die Massageabteilung, die mir kurz die Beine lockerten. Der gelungene Wiedereinstieg machte mir Mut, diese kleinen Unterbrechungen doch öfters einzulegen. Ich konnte wirklich wieder relativ frisch weiterlaufen, was mich doch überraschte. Auch die Unterstützung durch meine Frau war hervorragend. Das Reichen der Trinkflasche, die Durchsage der Runden etc. die mich zu dieser Zeit eigentlich überhaupt nicht interessierten. 150km waren mein Ziel, 160km waren ein Wunsch, jeder km darüber wäre eine willkommene Zugabe, die ich ohne Zweifel dankbar mitgenommen hätte...
Bei meiner zweiten Massagepause wollte ich noch effektiver sein: Ich nahm noch reichlich vom Verpflegungsbuffet, um mich dann eilends auf die Massageliege zu schwingen. Das war wohl alles ein wenig hastig. Die Finger und Zehen kribbelten mir, als wenn sie blutleer wären. Hatte der Körper das ganze bisschen Blut zum Magen und in die Verdauungsgegend gepumpt? Mir war klar: Diese Pause musste so lange dauern, bis ich wieder vollkommen in Ordnung (und im Vollbesitz meiner Kräfte – haha!) wäre. Ein gesundheitliches Risiko wollte ich keinesfalls eingehen. Dann war es auch wieder soweit: Die ersten zaghaften Dribbelschritte, es rollte gleich wieder wie zuvor – es ging weiter, Runde um Runde. Ca. 45 Minuten hatte ich pausiert. Die Führung hatten nun andere übernommen. In der AK-Wertung war ich wohl zu dem Zeitpunkt mit dem Vorjahresgesamtsieger in gleicher Runde, doch mir war ehrlich gesagt mehr daran gelegen, in mich hineinzuhorchen und etwaige Zeichen des Körpers rechtzeitig deuten zu können. Ich versuchte, eine relativ aufrechte Haltung beim Laufen an den Tag zu legen, um den Rücken zu schonen. Die Überdistanzläufe hatte ich in Vorbereitung auf diesen Lauf einfach weggelassen. Eine Aussage, wie man eine solche Belastung verkraftet, war also schwer möglich.
Zu schaffen machten mir weniger die Anstiege, als die Gefällestücke. An diesen waren die vorderen Oberschenkelmuskeln die Leidtragenden. Deswegen nahm ich nun in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen noch drei Auszeiten, wodurch sich nach späterer Betrachtung meine Pausen doch zu erstaunlichen 2:50 Stunden summierten.
In meiner AK ging es Kopf an Kopf zwischen dem bis dahin noch amtierenden deutschen Meister und mir, dem Greenhorn, dass doch von Anfang an viel zu schnell war, um dann zwischenzeitlich immer mal wieder bei den netten Masseusen vorbeizuschauen.
Übrigens: Es gab auch einen Mann im „Massageabteil“. Er war blind und hatte – vielleicht deswegen? – aus meiner Sicht eine besondere Gabe, was die Beinmassage anging! Er selbst ist auch leidenschaftlicher Läufer, wie er mir erzählt. Später gab er auf einer der Wohltätigkeitsrunden zugunsten UNICEFs eine Kostprobe seines Könnens und das war nicht nur in Relation zu den Ultra-Schleichern extrem schnell – aber Hallo! Er wurde vom vermutlich schnellsten Mann am Platz – einem Sektionsleiter des Veranstalters – geführt, der ihn auch sonst im Training begleitet. Beachtlich, dieses tatsächlich blinde Verständnis!
Nach 11:30 Stunden befinde ich mich in Runde 47 – die 100km werden voll.
Gegen 22 Uhr dann ein kleines Feuerwerk: Halbzeit! Ein etwas beklemmendes Gefühl überkommt mich: Das war erst die Hälfte der Zeit! Um Mitternacht stehen 118,5 km zu Buche. Die dritte Pause wird eingelegt. Schon um 2:30 Uhr die nächste. Dann läuft es wieder. Der Morgen graut, die Vögel zwitschern zunächst vereinzelt, dann lautstark und geben neuen Mut. Gegen 5 Uhr ist Sonnenaufgang – meine Frau macht sich auf Ihre Staffelrunde – läuft an mir vorbei, mit breitestem Grinsen. Ich freue mich, sie auf der Strecke zu sehen: Noch vor einer Woche hatte ich sie bei Ihrem Halbmarathon begleitet – einer Hitzeschlacht! Nun zischte sie an mir vorbei und ich gönnte ihr dieses Gefühl! Sie hatte sich nachts wohl hingelegt, konnte jedoch nicht schlafen. Zu aufgeregt und überrascht war sie über den doch unerwartet erfreulichen Verlauf des Rennens... Ich machte nochmals eine ziemlich lange Pause. Bei der Massage machte man mir betreffend der Oberschenkel keine großen Hoffnungen. Da war doch der eine oder andere Muskel etwas härter, als dass man damit noch große Bäume ausreißen könnte.
Inzwischen hatte sich jedoch auch mein ärgster Wiedersacher in der AK-Wertung eine Pause gegönnt. Ich hatte mir bis hierher niemals eine minimale Chance gegen ihn ausgerechnet, doch nun... Letztes Jahr hat er mit 210km auf dieser Strecke allen anderen das Nachsehen gegeben. Als ich gegen 6 Uhr wieder ins Rennen eingriff, erarbeitete ich mir von Runde zu Runde einen größeren Vorsprung. Wenn ich jetzt nicht nochmals pausieren müsste – ich wagte nicht weiter zu denken…
Ich lief nun fast genau 4 Runden pro Stunde. Ich hatte mir tatsächlich einen langsameren Schritt angewöhnt *grins*! Ab und zu ging ich nun auch die zwei oder drei Anstiege, um nichts mehr zu riskieren. Die Abwärtspassagen versuchte ich so schonend als möglich zu passieren. Mein Vorsprung wuchs weiter. Gegen 8 Uhr kam dann der „Angriff“. Er lief auf mich auf und staunte ein wenig über meinen noch runden Laufstil. Ich winkte nur verlegen ab, wusste mit dieser Äußerung nichts anzufangen und gab zurück: Er wäre jetzt tatsächlich flotter unterwegs, als zu Beginn. Ich rechnete, beschloss dann jedoch, unbeirrt weiterzulaufen. Mit höher steigender Sonne wurde es auch wieder wärmer, doch das war auch Balsam für’s Gemüt, den es war zugleich ein untrügliches Zeichen dafür, dass nun bald „abgeschossen“ wurde - nicht der Bär und nicht die Läufer – das Rennen natürlich Zu diesem Zweck war (vermutlich?) wieder der Schützenverein angetreten. In der letzten halben Stunde wurde den Läufern bei passieren des Zieldurchlaufs eine Markierung mit der eigenen Startnummer mitgegeben, um die Restmeter genau bestimmen zu können. Die letzte Runde ging noch mal in flottem Schnitt über die Bühne. Die letzten 5 Minuten des Rennens schenkte ich mir: ich suchte ein schattiges Plätzchen an der Strecke, legte meine Markierung auf der Strecke ab und sah den Läufern, die noch liefen gelassen und üüüüüüüberglücklich zu. Meine Kilometer erfuhr ich erst bei der Siegerehrung, bei der es keinen Preis aber dafür eine Goldmedaille gab. Mit den 182,6 Kilometern war ich mehr als zufrieden...
Neben vielen Unterhaltungen auf der Strecke mit Rymax, JensR, netten Mädels mit Zöpfchen und scheinbar immer guter Laune, dem mit 82 Jahren ältesten Teilnehmer, mit „Rauschebart“ Günter Menzel, Martina Hausmann, Anke Drescher, Heike Pawcik, dem äußerst sympathischen Deutschlandlauf-Sieger Reiner Koch, einer Gruppe von Walkern, die sich 120km zum Ziel gesetzt hatten und mit den netten Staffelläuferinnen, mit denen man doch ab und zu ein paar Meter mithalten konnte, gab es noch endlos viele nette Unterhaltungen, die ich jetzt gar nicht alle wiedergeben kann. Es war sehr eindrucksvoll, sich mit diesen "Verrückten" zu unterhalten, zu denen ich nun auch gehöre.
Gruß!
Burkhard
PS: Fotos folgen!
So, nun die Fotos:
- Streckenbegehung am Vorabend: Immer dem Pfeil nach...
- Achtung Kante! ...und dann ab durchs Gebüsch!
- Verpflegungszone - Ruhe vor dem Sturm
- Foris unter sich
- das musste sein: Foto mit dem längsten Bartträger und 10-maligen Teilnehmer Günther Menzel aus dem vogtländischen Plauen - ein Fels der Gemütlichkeit
- Reichenbacher Schützenverein - kurz vor dem Start-"Schuss"
- die Meute lauert schon
- der Sprecher bei seiner 1.000. Moderation - kannte leider nur die alten Hasen :-(
- Rasenkantenlatscher - was es nicht alles gibt :-)
- am Morgen - Anstieg an der Kontrollstelle
- die Siegerin der Damenkonkurrenz Marika Heinlein
- Axel mit Laufkollegen zum Verpflegungsstand
- Martina Hausmann - das perpetuum mobile - 3. der DM
- Martin Sattler - 4. der DM
- "Schlurfschrittmeisterin" in Perfektion Heike Pawzik DM-Vize
- Nr. 16 Baldur Buchwald vom Bodensee; dahinter: Reiner Koch, bei dem es nicht so lief, wie er wollte - 3. MHK
- Vorjahressieger Dietmar Mücke - 3. AK40
- Yetis liefen auch mit ;-)
- Neben Vize-Präsident der DUV Herbert Hausmann: Der überraschende neue Deutscher Meister Florian Reus (22 Jahre) beim ersten 24-h-Lauf mit 205,3km! Er wusste bis weit in die Nacht nicht, dass er führte...
- Siegerehrung Männer gesamt: Hubert Karl (links/2.), Florian Reus (1.), Christoph Lux (3.)
- Die besten Frauen in der DM-Wertung
- M35: Jochen Höschele (links/2.), Bert Lindner (1.), Axel "Rymax" (3.)
- M40: Ullrich Gottschall (links/2.), "42bis182" (1.), Dietmar Mücke musste wohl Mittag zu Hause sein...;-)
- Mannschaften: Schwaikheim (links/2.), Würzburg (1.), LG Nord Berlin (3.)