Der Samstag verläuft hektisch. Der Terminplan ist eng. Einkaufen, Startunterlagen holen, Tasche packen, zum Helferfest der örtlichen Laufveranstaltung radeln. Dort halte ich mich zurück, trinke nur zwei Apfelschorle.
Zuhause fängt mich meine Noch-Ehefrau ab. Unsere Tochter hat im Rahmen der Untersuchungen einer Virusinfektion auch Blut abgenommen bekommen. Die Werte der weißen Blutplättchen sind alarmierend, so dass für einen Blutspiegel noch einmal eine etwas größere Menge Blut abgenommen werden musste. Die Wahrscheinlichkeit der Diagnose Leukämie ist gering, aber mit einem mulmigen Gefühl gehe ich ins Bett.
Obwohl die Fenster geöffnet sind, ist es heiß und ich mache mir Sorgen, drücke kaum ein Auge zu.
Sonntag. Um 6:15 klingelt der Wecker. Ich dusche kalt und trinke Kaffee, um munter zu werden. Frühstücke Toast mit Honig und eine Banane. Als ich um sieben abgeholt werde, steigt meine Laune langsam. Wir sind fröhlich, reißen Witze.
Da wir einen Boschler dabei haben, gehen wir ganz frech auf das Bosch-Sportgelände und ziehen uns um, kein Gedränge, keine Hektik. Wir geben unsere Taschen ab und trollen uns Richtung Benzstrasse.
Der Start der Inliner hat Verspätung, so dass das Gedränge auf den Zugangswegen immer stärker wird. Es ist ohnehin schon schwül und ich habe das Gefühl, wenn es nicht bald losgeht, falle ich um. Endlich sind die Startbereiche frei und ich gehe in den dritten, den gelben Block. Zum ersten Mal werden in Stuttgart jeweils zwei Blöcke mit Zeitabständen gestartet und ich komme in der Tat besser weg als sonst. Bereits den zweiten Kilometer laufe ich in 5:15. Aber ich finde keinen Rhythmus. Die Kilometerzeiten variieren ungewöhnlich stark.
Nach einer Stunde hat sich die morgendliche Wolkendecke aufgelöst und es wird nun richtig zäh. Zum ersten Mal denke ich kurz ans Aufgeben, aber nach der ruhigeren Passage am Neckar entlang gibt es im Ortsteil Münster wieder Anfeuerungsrufe durch die Zuschauer, die die schlechten Gedanken vertreiben. Meine Pausen an den Verpflegungsstationen sind längst ausgiebiger geworden. Ich nehme immer zwei Becher, trinke ein paar Schlucke und nehme den Rest als Dusche. Jeder Gartenschlauch, den die Anwohner ins Läuferfeld richten, ist willkommen. Trotzdem werden die Beine schwerer, ich versuche bewusst, runter auf 5:40er Zeiten zu gehen.
Es nützt nichts, bei km 16 krampft schlagartig die linke Wade. Und noch lange fünf Kilometer zum Ziel! Trotzdem: Jetzt möchte ich ins Daimlerstadion. Ich versuche, möglichst zügig zu gehen und immer mal wieder zu laufen, was auch jeweils für 100-200 m gelingt. Der Schnitt liegt nun bei 7-7,5 Minuten pro Kilometer, hunderte von Läufern ziehen an mir vorbei, aber das ist mir egal.
Da die Vornamen auf den Startnummern stehen, bekomme ich vermehrt Aufmunterung. Dummerweise muss ich die Zuschauer wegen der Wade enttäuschen. Irgendwann, nachdem auch der 2-Stunden-Luftballon grußlos an mir vorbeigeschwebt ist, kommt auch das Daimlerstadion in Sichtweite und lässt den Schmerz ein wenig vergessen, ich laufe und schneide eine Grimasse fürs Zielfoto. Zeit: 2:02:46 netto.
Nach drei Bechern Wasser fläze ich mich auf den Rasen, doch es ist mir ringsherum zu unruhig. Ich verziehe mich in Richtung Gegentribüne, die weitgehend leer ist. Plötzlich fühle ich mich unendlich müde, traurig und einsam, ringe mit den Tränen. Es ist auf einmal alles zuviel.
Als ich langsam wieder meine Umwelt wahrnehme, entschließe ich mich, in Richtung Marathontor zu gehen, um die Ankunft der Läuferinnen und Läufer ins Stadion zu beobachten. Ein faszinierendes Schauspiel. Es ist allen die Erleichterung anzusehen, es geschafft zu haben. Die meisten zeigen eine unbändige Freude. Einen Läufer allerdings hat es böse erwischt, ein Gemisch aus Blut und Schweiß verfärbt sein Shirt von der Brustwarze bis zur Hose. Da wird er noch einige Zeit Freude dran haben.
Ich klatsche unentwegt. Wer ernst blickt, dem rufe ich zu: „Lächeln!!!“. Bei vielen klappt es und meine Laune steigt immer weiter. Es laufen Leute ein, die 2:30 bis 2:50 Stunden gebraucht haben. Die allermeisten sehen sehr zufrieden aus.
Langsam muss ich los, ich möchte, bevor ich mich mit Kollegen an der Veranstaltungsbühne treffe, geduscht sein. Es wird ein bisschen geplauscht, Maultaschen gegessen, Radler getrunken.
Am Nachmittag gehe ich aufs Warmbronner Open-Air. Die Sonne lacht. Es wird Reggae bis in die Nacht gespielt, die Stimmung bei Alt und Jung ist unglaublich relaxt und das Bier schmeckt. Ein merkwürdiger Tag neigt sich dem Ende.
Dienstag kam der Befund für mein Mäuschen. Die Blutwerte sind bestens. War wohl nur der Virus.
Stuttgart HM 2006 - Ein Desaster mit Blut, Schweiß und Tränen
1"Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein."" (Voltaire)