In einem Artikel der „Psychologie Heute“ aus dem Jahre 2001 steht geschrieben, Marathonläufer machen auf dem Weg zum Ziel einen vielschichtigen psychischen Prozess durch:
Zu Beginn voller Euphorie und strotzend vor Selbstbewusstsein, begegnen sie irgendwann ihrem inneren Schweinehund, der ihnen einen Vogel zeigt und das starke Ego zu einem willenlosen Häufchen Elend macht, welches sich anschließend durch das Tor der Leiden schleppt um sich dann am Ende wieder selbst davon zu befreien und belohnt durch ein unglaubliches Glücksgefühl durchs Ziel zu fliegen: Eine Doppelrolle sozusagen: Opfer und Erlöser zugleich. Wie beeindruckend.
Bei mir funktionierte das schon in der Vorbereitung nicht – mit der Doppelrolle. Irgendwie hatten sich da zwei Typen breit gemacht in mir, dieser und dieser Und diese beiden Typen diskutierten bis aufs Messer:
: "Na? Das solltest Du Dir auch mal antun… so richtig quälen (Frei nach dem Motto: Quäl Dich, Du Sau)"
: "Wozu? Ich genieße jeden Meter der zweiundvierzigtausendeinhundertfünfundneunzig. Da hab ich doch viel mehr davon"
: "Dann wirst Du `s nie erfahren, was den wirklichen Zauber des Marathon ausmacht"
: "Mir hat`s bis jetzt gefallen, es war Zauber genug, ich habe mir geschworen, Marathon soll Genuss bleiben"
: "Du willst doch auch mal heulen im Ziel! Das wolltest Du doch schon in Berlin… Du wirst heulen im Ziel…"
: " Ok, das will ich!!! Endlich mal heulen im Ziel! Ja, da könnt ich mich auf einen Kompromiss einlassen"
: "Nix Kompromiss, wo kommen wir denn da hin. Oder vielleicht doch?"
Der Kompromiss kam in Form einer Zeittabelle daher, die bis Kilometer 30 ein Tempo versprach, welches Genuss genug sein sollte. Und wenn ab da dann der Genuss immer noch ein solcher ist, dann wird das Tempo verschärft.
Na gut: will mich also quälen und will heulen. Oder war es umgekehrt???
29.10.2006
Verdammte Zeitumstellung. Seit über einer Stunde liege ich wach. Ich will endlich laufen. Ich will jetzt raus, ich will auf die Strecke… Endlich klingelt der Wecker. Frühstück, rein in die Laufsachen, der Blick aus dem Fenster (verdammte Klamottenfrage). Wie mag ich doch die Hitzemarathons. Da stellt sich die Frage nicht wirklich. Kniehose, Kurzarmshirt und Weste, das muss passen.
Guten Morgen Hammermann, Foritreffen, noch mal aufs Klo und noch einmal, Banane, Wasser, Garmin an, Zappeln im Startblock, Luftballons in den Himmel schicken, Piepen der Zeitmatte, Start und los geht es: Zum Marathon Nummer 4.
Im anderen Frankfurt. Zum ersten Mal. Dabei bin ich 30 km von Frankfurt aufgewachsen. Und doch war dieses hier unereichbar für mich. Nun darf ich hier sein. Und Marathon laufen. Das ist toll. Das ist Gänsehaut. Der Messeturm grinst mich an.
Ich finde keinen Rhythmus, schnaufe viel zu sehr, finde mein Tempo nicht. Bin zu langsam, laufe schneller. Bin zu schnell und bremse mich aus. Es läuft nicht rund. Aber es fliegt. Ein Kilometerschild nach dem nächsten. Jetzt hab ichs. Jetzt läufts.
Das ist wohl Phase 1 des Psycho-Marathons. Die mit dem Selbstbewusstsein. Die ist cool. Die führt auch über die Mainbrücke mit der Skyline im Hintergrund. Ich bin fasziniert. Inmitten dieser Faszination überhole ich den Teekessel, den unsere Frauschmitt auch bereits kennenlernen durfte. Ich hau mich fast weg, vor Lachen. Blos keine Seitenstiche bekommen. Das gibt’s doch nicht: der pfeift. Der pfeift wirklich. Das muß der Gleichesein.
Ich warte auf die zweite Phase! Wo bleibt der Schweinehund? Komm raus, Du Mistvieh, du verdammtes! Er winselt nur und versucht es mit einem Trick. Er versteckt das Wasser vor mir, irgendwo bei Kilometer 25… da kommt nur noch so ein Schorlezeug, das ist mir nix, das trau ich mich nicht… Na gut, dann muß ich wohl den Tee nehmen. Verdammter Schweinehund. Das hast du clever gemacht. Mein Magen rebelliert. Aber nur kurz, glücklicherweise kann ich ihn dann doch mit einer Banane beruhigen.
Weiter geht’s! Phase 3 bitte. Das wäre jetzt die des Häufchen Elends. Ok, ich habe keine Lust mehr. Die Beine werden schwer und das Tempo ist hoch. Kein Wunder, ich habe ja auch noch mal etwas angezogen. Das halte ich ganze 3 Kilometer aus. Jetzt ist das Häufchen am schleppen. Ist das also das Tal der Leiden? Pah, na ja, gut, dann ist es das. Dann bin ich da jetzt angekommen. Dann lauf ich mich da wieder raus. Aber nicht mit Fünfnull. Das schaff ich nicht. Na und. Lauf ich langsamer, kann ich länger genießen. Oder leiden. Was denn nun….
Vor mir hüpft ein schwarzes Shirt mit dem Aufdruck „Marathonmädchen“. Ich spreche sie an… „Laufen aktuell?“ "Ja!!! Und du bist Kathrin?"
"Ja, genau!" Ich überhole sie, später tut es mir leid, nicht wenigstens noch 3 Worte mehr mit ihr gewechselt zu haben. Ich bekomme Gänsehaut. Mitten auf der Mainzer Landstraße, dieser „Durststrecke“, treffe ich in einer mir völlig fremden Stadt 650 km von Zuhause weg ein Marathonmädchen und sie kennt mich… Und überhaupt, ich bin nur am Überholen… immerzu!
Und irgendwann, wir haben immer noch Phase 3, halte ich Ausschau nach Rosapuscheschmittfrau… Jaaaa, da ist sie! Und sie läuft ein paar Meter mit mir, so wie Mandy in Berlin. Das tut so verdammt gut. Danke Heidi!
Fragt mich, wie`s mir geht… „Scheiße“, antworte ich. „Nur noch 4 Kilometer“ „Ja, ich weiß“. So, weiß ich? Dann wird es Zeit, in Phase 4 überzugehen. Also raus aus dem Tor der Leiden, war sowieso nicht so doll, auf zum Befreiungsschlag, jetzt ist es Zeit für Glücksgefühle. Die kommen, als ich die rosa Püschel wieder sehe, Kilometer einundvierzig und auch wenn das Zweiundvierzigerschild ewig nicht auftauchen will… Gleich hab ichs geschafft.
Hinein in die Festhalle, im Gleitflug über den Teppich, mit ausgebreiteten Armen durchs Ziel bei 03:39:53! Ist das geil!
Das nächste Absperrgitter brauch ich zum Festhalten, nur kurz durchatmen, fehlt da nicht was? War nicht heulen angesagt? Na gut, weiter im Läuferpulk, zu den Medaillen, eine Treppe runter – was? Das soll jetzt der Heulgrund sein? Oh man, so hatte ich das doch nicht gemeint.
Medaille um den Hals, Folie um die Schultern, Wasser, Banane, Kaffee, so sitze ich schließlich inmitten von vielen in Folie gehüllten Läufern auf den Gehwegplatten vor der Festhalle… sitze da und heule! Verdammt ist das schön!
Danke Frankfurt, für diesen Moment!
Etwas Statistik gibt’s noch, wär doch schade, wenn jetzt einer heult!
ZEITEN
5 km 0:26:05
10 km 0:50:52
15 km 1:17:11
20 km 1:43:00
Halb 1:48:52
25 km 2:09:17
30 km 2:35:57
35 km 3:01:44
40 km 3:28:41
Ziel 3:39:53
GESAMTPlatz (Gesamt)189
Platz(Altersklasse) 38
Mit Vollgas durch die Häuserschluchten - auf der Suche nach dem Sinn des Marathons
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Entscheide Dich. Und wenn Du Dich entschieden hast,
vernichte die Alternativen.