Ja, was schreibt man über einen Marathon, der 700 Meter unter der Erde stattfindet, bei dem es landschaftlich nicht besonders viel zu entdecken gibt, bei dem es keine „Lauf Papa“ oder „ Wir essen zeitig“ - Schilder gibt und bei dem man nicht durch die Zuschauer auf den letzten Kilometern ins Ziel getragen wird?!
Ein Marathon, im Inneren also, nicht nur im Erdinneren, auch im Körperinneren vielleicht... ist man doch so ganz und gar bei sich selbst, diese 42,195 km lang. Nicht abgelenkt von der Außenwelt, hat man Zeit, im Schein der Lampe seinen ganz eigenen Gedanken nachzuhängen, seinen Körper mehr denn je zu spüren. Deshalb wird wohl auch in der Ausschreibung neben der hohen physischen auf die psychische Belastung hingewiesen.
Aufgeregt stehen wir in der zugigen Halle vor dem Förderkorb. Eine Box, ein bischen erinnert sie an einen Viehtransport, schluckt 20 Läufer, Rollo runter, Eisentür zu, ein lauter Gong ertönt und ab geht es, in die Tiefe. Im Korb ist es dunkel, dicht gedrängt stehen wir, die meisten schweigen, manche kommentieren belustigt das rustikale Rumpeln des Korbes an die Schachtwände, andere haben mit dem Druckausgleich zu tun. Beim Lied aus meiner Signatur wird diese Situation so beschrieben:
Eng in den Förderkorb gedrängt,
Sieht er sich selbst dort eingezwängt,
Als ob ein Film vor ihm abliefe.
Alle Gespräche sind verstummt,
Nur das gewalt‘ge Stahlseil summt
Während der Reise in die Tiefe.
Nach 3,5 min sind wir angekommen... eine Bergmannskapelle begrüßt uns mit zünftiger Blasmusik, es hat etwas Beruhigendes, Gemütliches hier unten. Gänsehaut beim aussteigen aus dem Förderkorb. Aber nicht vor Kälte, die herrscht hier wahrlich nicht, obwohl es nicht so warm ist, wie angekündigt. Aber das wird sich noch ändern.
Wir treffen dann auch auf Schwabenpfeil und Claudi II, sie nimmt freundlicherweise meinen Fotoapperat an sich und wir vereinbaren, daß sie ihn mir nach der ersten Runde reicht.
Dann geht es endlich los, mit einem großen Gong wird der Marathon eröffnet. Mein Marathon Nummer 5 mit der Startnummer 55 auf dem Bauch, mein Dessert, ungeplant, spontan entschieden, auf „Gut Glück“ eine Mail an den Veranstalter geschickt, von Euch motiviert, es zu tun... laufe ich los! Ich merke, wie das Endorphin während der ersten Meter durch meinen Körper strömt. Ruhig bleiben, nur nicht zu schnell loslaufen, denke ich mir. Doch ich brauche mich nicht lange zurückhalten, der erste Anstieg bremst mich von selber aus. Schön, ich genieße das Laufen hier unten, teste mit den Schuhen den Grip, teilweise ist es recht rutschig hier. Immer noch finde ich es sehr, sehr aufregend hier unten. Ausgediente Fahrzeuge, abgestützte Stollen, ein Wasserloch, eine Art Pausenraum, auf dem noch eine typische DDR-Tischdecke an frühere Zeiten erinnert... Es ist phantastisch, der Gedanke von der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ nimmt Gestalt, Formen und Gefühle an. Kein GPS, kaum Kilometerschilder, nichts, was Dich dazu bewegen könnte, Dein Tempo zu ändern, nichts, nur die riesigen, steilen, unendlichen Anstiege und im Gegenzug die Gefälle, der teilweise rutschige Boden. Noch ist das Feld recht dicht zusammen, trotzdem hört man kaum Gespräche, irgendwann steigt eine unendliche Hitze in den Kopf, doch irgendwann ist das auch vorbei, spüre ich die Wärme nicht mehr, habe mich daran gewöhnt. Das viele Trinken (alle 2,5 km zwei Becher) hilft, Durst verspüre ich eigentlich kaum. Die letzten zwei Kilometer der Runde gehen seicht bergab, man fliegt förmlich in den Zuschauerbereich hinein und die Strapazen der zurückliegenden 8 Kilometer werden auf diesen letzten zwei Kilometern wieder recht gut kompensiert. Wie soll man da ans Aufhören denken? Claudi drückt mir meine Kamera in die Hand, aber ich fühle mich viel zu frisch für Fotostops und bitte sie darum, sie mir nach der zweiten Runde noch einmal zu geben.
Nach 10,55 Kilometern werde ich mit 1:07:45 gescannt und liege auf Platz 178 (2. Frau). Dies jedoch werde ich, bis auf die Uhrzeit, erst später aus den Ergebnislisten erfahren.
Ich fühle mich frisch, als es in die zweite Runde geht. Nun wird das Läuferfeld spärlicher, die Gänge dunkler, die Stille stiller. Nun habe ich Zeit, ganz bei mir zu sein. Die steilsten Anstiege, die ich in schnellem „Gehschritt“ nehme, weil ich sie auch nicht schneller erlaufen kann, genieße ich. Ich geb mir die volle Breitseite, es ist eine Art Steigen, was ich da mache. Ich komme mir großartig vor, als würde ich gerade eben etwas Gigantisches tun, keinen Marathon laufen, nein, das muß was Anderes sein. Und Außerdem will ich überhaupt nicht mehr fotographieren. Ich will hier nicht stehen bleiben, ich hab dazu keine Zeit, ich will mir die Kante geben... So richtig austoben will ich mich hier. Aber wie sag ich das Claudi, die extra da wegen mir wartet... Ich werde ihr sagen, daß Läufer eben manchmal doof sind. Ich versuche jetzt irgendetwas von einer Hochrechnung, indem ich die Verpflegungsstellen zur Orientierung nutze... auch hier sind Läufer eben manchmal doof... aber das ist ja bekannt.
Halbmarathon, die zweiten 10,55 Kilometer erreiche ich nach 01:08:59, habe sechs Plätze gutgemacht und liege in der Frauenwertung auf Platz 3. Claudi steht wieder mit der Kamera da, ich erzähl ihr was von doofen Läufern, schütte zwei Becher Wasser in mich hinein und verschwinde in der Dunkelheit der dritten Runde.
Jetzt wird es still, ganz still. Und noch dunkler. Ich bin allein. Und wenn ich doch einmal auf einen anderen Läufer stoße, dann gibt es keinen Wortwechsel. Ich will in Ruhe gelassen werden und ich habe den Eindruck, das geht jedem hier so. Ich genieße dieses Alleinsein mit mir, dieses Rendezvous mit meinem Körper, diesen Einblick in mich selbst...
Schweißtropfen ziehn durch sein Gesicht,
Bahnen im Staub, er spürt es nicht,
Er treibt den Stollen mühsam weiter,
Spricht mit sich selbst, er ist allein,
Den unruhigen Lampenschein
Und die Gedanken als Begleiter.
Und während ich allein mit mir bin, entdecke ich immer neue Dinge in diesem Raum zwischen den Welten. Salzkristalle leuchten im Schein der Lampe, manchmal staubt die Luft, manchmal hört man in der Ferne irgendwo ein Dröhnen eines Fahrzeuges. Und ist allein. Mit sich selbst und seinen Gedanken. Seinen Gefühlen, seinen Schmerzen und seinen Hoffnungen. So wie die Strecke, so gehen auch die Gefühle rauf und runter. Während ich den Berg hinaufmarschiere, möchte ich laufen, laufe ich, möchte ich gehen... nein, ich werde doch nicht gehen, wo ich laufen kann... Ich will nicht langsamer werden, ich will konstante Rundenzeiten. Während ich einen dieser ewigen Anstiege hinaufkämpfe, zerstört ein lautes gequältes „Vorsicht“ und ein Stöhnen die Ruhe. Der spätere Sieger überholt mich, er hat es fast geschafft, und trotzdem möchte ich nicht mit ihm tauschen. Er verschwindet irgendwo da oben im Berg und wieder bin ich allein. Und ich freue mich darüber. Mir fehlen weder die Zuschauer noch das laute Bum Bum der Samba Bands, mir fehlt nicht die Atmosphäre der Stadtmarathons, die ich doch so sehr liebe. Hier ist es angenehm. Hier ist es einsam. Hier bin ich mit mir.
Und nach weiteren 01:09:37, einem Gesamtplatz 113 bin ich weiterhin die 3. Frau. Aber davon ahne ich überhaupt nichts. 3:26 bin ich jetzt unterwegs, und während ich mich auf die letzte Runde mache, spinnt sich mir der Gedanke, meine Frankfurt-Marathon-Zeit auf die Minute genau um eine Stunde zu verlängern. Jetzt brauche ich mir keine Kräfte mehr einteilen, jetzt geb ich mir die Berge im Laufschritt, so lange es geht. Nur, wenn es besonders steil ist, gehe ich mal ein Stück. Jetzt muß ich beißen, danach wieder anzulaufen. Nur nicht zögern, keinen Schritt zuviel gehen. Um so schwerer fällt es dann. Zwischen Kilometer 35 und 37 ist es dann wieder da, wenn ich mein Herz am „Rechten Fleck“ hätte, müsste ich mir Sorgen machen. Dieses Stechen, das dann ganze zwei Kilometer lang von der rechten zur linken Seite hinüberwandert und sich dann in Luft auflöst. Ich kenne das aus jedem Marathon. Was ist das? Ein Test? Keine Ahnung. Pünktlich an Km 37 ist es wie immer verschwunden. An der letzten Verpflegungsstation kämpft ein Läufer mit Krämpfen. Ich biete ihm Salz an, erst mag er es nicht, dann nimmt er es doch. Ich wünsche ihm alles Gute und laufe weiter. Viele stehen jetzt und dehnen. Ich bin froh, dank einer Tick-Tack-Schachtel mit Kochsalz um dieses Problem herumgekommen zu sein. Das Laufen geht jetzt nur noch mechanisch, der Körper funktioniert, schwitzen tue ich schon lange nicht mehr. Ich versuche, bei den wenigen ebenen Passagen etwas Tempo aufzunehmen und habe auch das Gefühl, das es mir gelingt. Dennoch wird dies mit 01:13:45 meine langsamste Runde. Als ich die Musik aus dem Zielbereich höre, durchströmt mich ein wahnsinniger Stolz. Ich habe diese harte Nuss geknackt. Ich habe das tatsächlich geschafft.
Du bist so lange mit Dir allein in dieser Dunkelheit tief unter der Erde, nun spielt da diese Musik im Ziel, und sie spielt nur für Dich.
Nach 04:39:45 erreiche ich das Ziel, als Dritte Frau, als Zweite meiner Altersklasse und als Gesamt – 95ste von 288 Finishern. Am Start standen 401 Läufer.
Als der Förderkorb uns nach 17 Uhr wieder an die Erdoberfläche bringt, ist es ebenso dunkel, wie im Schacht. Noch bin ich viel zu aufgewühlt und überwältigt, doch als ich heute morgen die Zeitung rein hole, überkommt mich eine ungeheuere Lust, in den neuen Morgen zu laufen.
So bin ich, völlig unplanmäßig, in meine Laufschuhe geschlüft, bin an der Oder entlang dem Sonnenaufgang entgegengelaufen und war wieder einmal mit mir ganz allein. Und das war ein guter Morgen.
„Das ist ein guter Tag, der über den Dächern der Stadt aufgeht,
Wie all die unerwähnten, in Erinnerung verschwomm‘nen.
Denn auch über dem unscheinbarsten, alltäglichsten weht
Der Hauch des Einzigen und das Versprechen des Vollkomm‘nen
Ich bin bereit, zu lernen, seine Kostbarkeit zu sehn,
Mich auf ihn einzulassen und ihm jede Chance zu geben,
Ich bin bereit, den langen Weg bis ans Ende zu gehn
Und bis zum allerletzten Ton den Ausklang zu erleben.
Im Wissen, daß ich eines Tages nichts anderes mehr
Erbitten und ersehnen, daß ich gar nichts auf der Erde
So sehr wie einen neuen Morgen, eine Wiederkehr
Des unscheinbarsten, alltäglichsten Tags erflehen werde.
Ich weiß, was ich sag -
Das ist ein guter Tag!“
R. Mey aus „Das war ein guter Tag“
Die phantastische Reise zu mir selbst - tief im Innern der Erde
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Entscheide Dich. Und wenn Du Dich entschieden hast,
vernichte die Alternativen.
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