Das Wunder von Duisburg
1Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.
Der Sturm, 4. Akt, 1. Szene / Prospero, William Shakespeare
Dieser Bericht müsste eigentlich märchenhaft beginnen mit "Es war einmal".
Ich hatte einen Traum, der in den letzten 12 Jahren fast zu einem Trauma geworden war: Einmal, "Once in a Lifetime" wollte ich einen Marathon unter 4 Stunden beenden.
Ich hatte die Chance schon einige Male verschenkt, dann mit diesem Thema zeitweise komplett abgeschlossen und das Kapitel Marathon seit 2003 nicht mehr aufgeschlagen.
In diesem Jahr wollte ich es noch einmal wissen, jetzt oder nie. Ich bereitete mich 12 Wochen lang gewissenhaft und systematisch vor und alles deutete darauf hin, dass es realistisch war, auf eine sub 4 zu spekulieren.
Alles, was ich dazu beitragen konnte, hatte ich getan - was nicht in meiner Macht stand, waren die äußeren Bedingungen.
Mit jedem neuen Sonnentag, mit jedem Blick in die Wetterprognosen schrumpfte mein Optimismus.
Nachdem Samstags klar war, dass der Sonntag zwar wolkenlos, aber weniger heiß werden würde als die letzte Woche, keimte das Pflänzchen Hoffnung wieder zaghaft auf.
Ich war bereit, alles für diesen Traum zu tun, sogar jedwede Eitelkeit über Bord zu werfen und das seit Jahren in die Schublade verbannte kurze Flatterhöschen, das zwar wenig attraktiv, dafür aber superbequem und luftig saß, anzuziehen.
Beim letzten langen Lauf hatte ich nämlich Probleme à la "Arsch frisst Hose" (nämlich die Unterhose) gehabt, und sowas konnte mit der Flatterhose, die einen eingebauten Slip hat, nicht passieren. Außerdem hatte man in ihr maximale Beinfreiheit und Kühlung - also war mir egal, wie's aussah.
Als mich ich um kurz nach 9 Uhr zwei Reihen vor den 4 Stunden Läufern aufstellte, fröstelte ich in heißem Höschen und dünnem Leibchen - puuh, es war richtig kühl und ein kalter Wind blies, der mir Gänsehaut an den Beinen bescherte.
Ich hatte den Pottie mit 4 Stunden und 18 min total merkwürdig gemixter Musik bestückt und verpulverte vor dem Startschuss schon mal das erste Stück, und zwar Summer Nights aus "Grease" dargeboten von John Travolta & Olivia Newton-John.
Den Startschuss hörte ich nicht, aber die Horde setzte sich zügig in Bewegung, so dass ich nach einer Minute schon die Startlinie passierte. Jetzt war es also soweit, endlich!
Mit meinem Garmin habe ich wohl leider ein Montagsmodell erwischt, er bekam einfach keinen Empfang und nachdem ich wild darauf rumgedrückt hatte, gab es noch eine Schrecksekunde, als er wieder "Battery low" anzeigte.
Ich stellte mich schon darauf ein, nach Gefühl laufen zu müssen, aber dann funktionierte das Ding wieder, allerdings ohne Satellitenempfang. Den hatte er dann erst bei Halbmarathon, aber bis dahin konnte ich ja manuell die Kilometer stoppen.
Plötzlich hörte ich trotz Musik im Ohr hinter mir ein "Da ist sie ja!" - drehte mich um und freute mich, Ralf-Charly und Toto zu erblicken. Mensch, Ralf-Charly, das laufende Uhrwerk! Jetzt konnte ich den Kopf zumachen, die Mucke voll aufdrehen und einfach mitlaufen!
Ich war immer eine Fußlänge voraus, total unangestrengt und wäre ich allein gelaufen, hätte ich jetzt vielleicht zu viel Gas gegeben. Meine Laune wurde immer besser, ab und zu nervte ich die beiden mit ein paar Gesangseinlagen bzw. sagte das Stück an, das ich gerade hörte.
Das Wetter war zu diesem Zeitpunkt phantastisch, noch schön kühl im Schatten, und die sonnigen Passagen warteten mit erfrischendem Gegenwind auf. Der Wind blies teilweise wirklich stark, aber ich mag das, jedenfalls dann, wenn ich noch bei Kräften bin.
Und an Kraft mangelte es zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir pendelten uns bei 5:30 min/km ein, ein Tempo, das mir wie im Training vorkam und bei dem ich das Gefühl hatte, leicht gebremst zu laufen.
Die Stimmung an der Strecke war superklasse, und überhaupt hat der Duisburg-Marathon einige wirklich tolle Streckenabschnitte, der Innenhafen, die Ruhr, der Rhein, die Brücken - das tröstet über ein paar triste Passagen hinweg.
Ich genoss es, so unangestrengt die Party an der Strecke mitzuerleben, und mit jedem Kilometer, den ich in diesem Tempo zurücklegte, stieg mein Optimismus.
Ich hatte einen guten Tag erwischt heute, meine Taktik konnte nun nur sein, Kilometer zu fressen, solange es ging, und darauf zu hoffen, dass es lange ging!
Bei der Halbmarathonmarke ging es mir immer noch prächtig, aber Ralf-Charly wollte 10 sec Tempo rausnehmen. Ich überlegte kurz, ob ich das sicherheitshalber auch tun sollte, entschied mich dann aber, mit Toto weiterzulaufen. Schlecht gehen würde es mir hinterher sowieso noch, und je mehr Strecke ich bis dahin gemacht hatte, desto besser. Wir liefen jetzt wohl die schnellsten 10 km und überholten viele, viele, denen es schon merklich schlechter erging.
Die Rheinbrücke bei km 25, vor der mir gegraut hatte, weil ich sie als steil und in praller Sonne liegend in Erinnerung hatte, stellte kein Problem dar - wir liefen sie flott hoch.
Ab und zu erzählte ich Toto, dass ich gleich mal Tempo rausnehmen müsse, aber dann lief ich doch weiter im 5:20er Schnitt.
Bei km 30 erwartete ich eigentlich Stefan mit dem Tütchen Hammergel. Die erste Portion hatte ich bei km 13 genommen, die zweite bei Halbmarathon. Ich wollte dann eine kurze Gehpause machen und hielt das Tempo nur noch, weil ich mich darauf freute. Aber da stand niemand, also war nix mit Gehpause. Ich merkte aber nun, dass die Sonne mehr Kraft hatte und dass ich irgendwann einbrechen würde...aber noch war es nicht soweit.
Bei km 32 schickte ich Toto fort, denn er war gut drauf und ich lag so gut in der Zeit, dass ich die sub 4 Stunden weiterhin anpeilte. Er konnte also guten Gewissens sein eigenes Ding laufen. Mir war es sehr recht, die Qual der letzten Kilometer allein zu erdulden, ich mag es nicht, wenn man mir beim Leiden zuguckt :-)
Aber noch litt ich nicht, ich wartete auf Kilometer 33, weil spätestens dort Stefan stehen würde - aber wieder nichts. Später erfuhr ich, dass der Bus, der Zuschauer von km 13 nach km 33 bringen sollte, sich verfahren hatte und er somit zu spät vor Ort war.
Eigentlich war es aber gut, dass er nicht dort stand, denn so verschob ich die ersehnte Gehpause bis km 35. Bis dahin hatte ich immer noch einen 5:30er bis 5:40er Schnitt gehabt, aber die Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, keine Kraft mehr.
Noch 7 km und ich konnte mir fortan leisten, an den Wasserstellen zu gehen. Trotzdem traute ich der Sache nicht, lief mal einen Kilometer komplett durch um zu schauen, wie langsam ich war - aber Überraschung: 5:40 min. Der anschließende Kilometer mit Gehpause unter 7 min. Das würde reichen.
Km 38 - Sonne, Kraftlosigkeit, Erschöpfung - ich ging mitten auf der Strecke, verdammt, würde ich es jetzt doch noch vermasseln? Ich rief mir den Bericht über eine Bestzeit in Bonn in Erinnerung, den ich letztens bei drsl gelesen hatte, und einen bestimmten Satz hatte ich mir gemerkt, der sinngemäß so lautete, dass man nochmal so viele Kilometer so schnell laufen müsse, um wieder diese Chance zu haben.
Und ich dachte an die Hamburg-Marathonis, an die Daumendrücker, an Stefan und David und Oma & Opa im Ziel!
In dem Moment drückte mir ein unbekannter Läufer, wohl aus Mitleid mit mir armer, gehender Gestalt, eine angebrochene Flasche Redbull in die Hand. Das war ein Zeichen, ich trank sie leer und lief wieder.
Kilometer 40 und noch viel Zeit! Der km 41,195 wurde extra angezeigt, nur noch 1 km! Ich gönnte mir eine letzte, ganz kurze Gehpause und hörte schon die Stimmung im Ziel, sah das Stadion, sammelte Kraft für die letzten 950 Meter, die ich wie im Traum lief. Ich dachte, das ist es also, so fühlt sich das an - ich schaffe es! Im Stadion angelangt, legte ich einen ziemlich geilen Endspurt hin, ein Schnitt von 3:09 (auf 150 m;-), so läuft also die erweiterte Weltspitze die komplette Strecke durch, das fühlt sich richtig gut an!
Insgeheim hatte ich mir das gewünscht, brutto wie netto unter 4 Stunden zu bleiben, so als Sahnehäubchen, und selbst das war mit 3:57:31 h brutto gelungen. Nettozeit 3:56:27 h .
Meine HM Splits sagen über das Elend am Ende gar nichts aus, weil das mit 1:56:31 h und 1:59:56 h viel gleichmäßiger aussieht, als es eigentlich war. Leider gab es keine 5 km Zwischenzeiten, aber ich denke, der Abschnitt zwischen km 21 und 32 war der schnellste des Laufs, deswegen geben das die Splits nicht her.
Trotzdem, genau so musste es sein, hätte ich weniger Polster gehabt, wäre ich trotzdem durch die Wärme, die in der letzten Stunde doch mit Macht kam, an meine Grenzen gekommen. Ob ich dann noch richtig um Sekunden hätte kämpfen können? Ungewiss - ich weiß es nicht. Ich glaube, es war richtig so, wie ich es gemacht habe.
Fehlt eigentlich nur noch der Dank an alle, die mir Glück gewünscht, Selbstvertrauen und gute Ratschläge gegeben haben. Danke auch Ralf-Charly für das Bremsen bis zur Hälfte, Toto für's Pacen bis km 32 und die Drohung, wehe, ich hätte keine 3 vorne stehen! Und ganz ausdrücklich möchte ich mich auch bei meiner Familie bedanken, die mich so toll unterstützt hat: Großer Sohn und große Tochter haben manches Mal Babysitterdienste geleistet, damit ich meine Läufe absolvieren konnte.
Und Stefan, Dir danke ich auch! Du hast mir vor 5 Jahren schon erzählt, dass ich es drauf hätte. Aber da habe ich Dich nur ausgelacht, Dir vorgeworfen, als Handballer ja keine Ahnung zu haben. Du hast Recht gehabt!