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Hölle mit Rückfahrtschein - Trail de la Vallée des Lacs

Hölle mit Rückfahrtschein - Trail de la Vallée des Lacs

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Der Nieselregen geht in kräftigen Dauerregen über und nicht mal 20 Minuten nach dem Start bin ich schon nass bis auf die Haut. Auf engen Waldwegen bin ich eingepfercht mit einer Horde Läufer, vor mir wird mit Stöcken gefuchtelt. Eigentlich könnte ich jetzt noch gemütlich im Bett liegen. Kann das noch heiter werden?

Die Idee klang gut, 54 Kilometer in den Vogesen, ein schönes Trainingsläufchen am Pfingstsonntag ohne Druck zu absolvieren. In netter Gesellschaft allemal, wie die Starterliste verriet. Gérardmer, das ist auch bei früher Startzeit um 7 Uhr aus dem eigenen Bett heraus machbar. Dazu muss ich mich lediglich um 4 Uhr aus dem Bett quälen. Zwanzig Minuten später sitze ich im Auto. Fast 20 Grad, eine milde Nacht und abgesehen von den paar Nachtschwärmern freie Straßen. Am Vogesenrand beginnt es kurz zu regnen. Sollte das nicht erst am Montag richtig losgehen?

Bereits kurz vor 6 Uhr treffe ich an der Skistation „La Mauselaine“ ein. Ausgeschildert ist die Anfahrt zwar nicht, aber ich folge einfach den Wegweisern „Station de ski alpine“. Auf dem riesigen geteerten Parkplatz findet sich leicht ein Plätzchen. Erste Orientierung, links erkenne ich ein Schild „Dossard“, also erst mal um die Startnummer kümmern. Die Website http://trailvalleelacs.kgwsport.fr/ war seit Tagen unerreichbar, meine Meldung hatte ich daher kurzfristig formlos an den Organisator geschickt. Die ausgehängte Starterliste bestätigt, dass das geklappt hat. Mit Vorlage meines DLV-Startpass gelte ich als „Licensé“ und bekomme meine Startnummer ohne ärztliches Attest. Als Zugabe gibt es Trockenpflaumen, Drops und Weichkäse.

Nächster Programmpunkt: Frühstück. Im Selbstbedienungsrestaurant werden Kaffee, Baguette, Butter und Marmelade angeboten, für Läufer in der Startgebühr enthalten. Mit der Tasse in der Hand lasse ich den Blick schweifen. Da sitzen bereits ein paar Verrückte, Klaus „Keule“ Neumann und Karl-Heinz „Australienquerer“ Kobus. Sie sind gestern schon bei irgendeiner IVV-Veranstaltung rumgestolpert, auf dem Rückweg werden sie am Montag bei Freudenstadt laufen.

Noch eine gute halbe Stunde sollte reichen für die Vorbereitungen. Wir laufen noch Julia Alter, der Ultra-Trail-Spezialistin über den Weg, ihr Mannheimer Dialekt weckt wie immer Heimatgefühle in mir. Zum Umziehen sind im Restaurant einfach ein paar Tische zusammengestellt und mit einem Schild „Vestiaire“ versehen. Also dann…

Kurz vor 7 Uhr begeben wir uns in den Startbereich, der abgeteilt und nur mit Startnummer zu betreten ist. Vor uns droht ein respektabel steiler Grashang, der im Winter als Skiabfahrt dient, aber beruhigenderweise sehe ich einen Weg, den wir wohl folgen werden. Karl-Heinz meint, die meisten wären aus gerüstet, als wollten sie Ile de Réunion, einer Querung dieser Insel, die auch unter dem Namen „die Diagonale der Verrückten“ bekannt ist, unter die Füße nehmen. Mit Blick auf meine kurze Kleidung oute ich mich immerhin als Unterhemdträger. Keule droht daraufhin, mich als Weichei zu verpetzen. Dafür wünsche ich ihm viel Spaß mit seinen Straßenlaufpatschen. Für die Vogesen greife ich immer zu Trailschuhen, was ich noch nie bereut habe.

Im Nieselregen erfolgt der Start, ich bin ziemlich hinten, was mir recht ist, ein langsames Lostrotten ist gerade richtig für mich. Über Grouvelin werden wir Kurs auf den Col de Grosse Pierre nehmen. Wie eingangs erwähnt etabliert sich bald ein kräftiger Landregen, aber die Temperaturen sind mild, so stört die Nässe nicht weiter. Erst nach über einer Stunde verspüre ich etwas Durst, und trinke aus meiner 0.75 l Flasche, die ich mitführe. Denn die Versorgung erfolgt nach dem Prinzip „semi auto-suffisance“, was nichts anderes bedeutet, als dass es auf der Runde lediglich zwei Verpflegungsposten geben wird.

Die Wege sind typisch für die Südvogesen. Auch breitere Waldwege sind aufgrund des Gerölls strapazierend für die Laufwerkzeuge. Der größere Teil des Kurses laufen wir schmale Pfade, meist mit alpiner Bodenbeschaffenheit. Dort, wo nicht der felsige Untergrund das Vorankommen erschwert, hat der Regen Pfützen und Matschpassagen gezaubert, in denen die Schuhe sich förmlich festsaugen. Man muss ständig konzentriert zu Werke gehen, um nicht zu stolpern oder auszurutschen. Ich bin heilfroh, dass ich mir heute nichts vorgenommen habe. Ebene Strecken sind die Ausnahme, es geht eigentlich ständig entweder hoch oder runter, so kommen ca. 2300 Höhenmeter zusammen.

Sowohl die Stöckler, als auch die ebenso unvermeidlichen wie überflüssigen Drängler auf den Anfangspassagen, sind Wermutstropfen, die ich hinnehmen muss. Dabei wird teils auch auf den Abwärtspassagen zum Überholen ein Höllentempo gelaufen. Auf einer rutschigen Passage werde ich wegen meinem vorsichtigen Tempo überholt, nur fünf Meter weiter rutscht er weg und wälzt sich im Matsch. Nach rund einer Stunde hat sich das dann entspannt. Nach gut zwei Stunden erreiche ich den ersten VP am Col de Branbant. Weiches Gewürzbrot, Rosinen, Orangen, Dörrobst, Schokolade und Wasser, Tee. Cola, Isogetränk steht auf der Speisekarte. Da ich bisher kaum was aus meiner Flasche getrunken habe, fülle ich nicht mal etwas nach, der Schweißverlust bei dieser Witterung ist minimal.

Weiter geht es über wildromantische Wälder, Panoramawege, die heute ihre Aussicht hinter dicken Wolken verstecken, entlang malerischen Seen und Trails zum Verlieben. Der Trail de la Vallée des Lacs bietet die ganze Schönheit der Südvogesen, ist zwar schwierig zu belaufen, aber ein absolutes Highlight unter den Läufen in den Vogesen. Die Markierung (gelbe Schilder, Plastikbänder, Sprühfarbe) ist hervorragend. Dennoch leiste auch mir einen Verlaufer, werde aber von den Nachfolgenden zurückgepfiffen. Am Col der Bramont überqueren wir mal wieder eine Autostraße. Dort regeln Ordnungskräfte den Verkehr und ein paar Angehörige spenden unter ihren Regenschirmen Beifall. Nach bald über vier Stunden Laufzeit bin ich längst total durchnässt bis in die Schuhe. Ein Trainingslauf ist das nun nicht mehr. Ein bisschen werde ich mich zusammenreißen müssen, um das Ding nach Hause zu schaukeln.

Wir erreichen die Route des Crêtes, ob seiner Aussicht einer der beliebtesten Wege in dieser Gegend. Statt Panorama zieht auf dem exponierten Stück aber ein unangenehmer Wind auf. Richtiggehend froh bin ich als wir wieder in einer Waldpassage Schutz finden. In über vier Stunden habe ich lediglich einen Liter Flüssigkeit zu mir genommen und warte jetzt sehnlichst auf den nächsten VP. Dazu muss man auf den Hohneck steigen, einem der hässlichsten Gipfel weit und breit, kahl, flach und exponiert. So fegt heute ein eisigkalter Wind über den Gipfel, der uns durchnässten Läufern den Rest gibt.

Im Aufstieg versucht neben mir ein kahl geschorener Franzose vergeblich seine Ohren zu schützen. „Das ist hart hier“ rufe ich ihm zu. Mit verzerrtem Gesicht antwortet er „das ist die Hölle“. Die Hoffnung, die Verpflegung gäbe es irgendwo im Schutze des Gipfelrestaurants, ist vergebens. Auch die Helfer machen hier oben heute einen harten Job. Dem Wind ausgesetzt schütte ich drei Becher Cola hinunter und lasse meine Flasche auffüllen. Mit von der Kälte steifen Händen schnappe ich paar Stückchen Gewürzbrot, dann nichts wie weg hier. Stacksig stolpere ich vorwärts, die von der Kälte und 39 Kilometern maltraitierte Muskulatur will nur noch eingeschränkte Dienste leisten.

Glücklichweise wird es tiefer wieder wärmer, nach weiteren 40 Minuten werden die Hände wieder beweglicher, die Nässe erträglicher, der Schritt raumgreifender. Dafür müssen wir wieder ein sehr schwieriges Wegstück meistern. Während ich gelegentlich stoppe, um rutschige, felsige Passagen hinabzusteigen, über grobes Geröll zu klettern, frage ich mich gerade, wie die Frontläufer hier wohl zurecht kommen. Einen Moment der Unachtsamkeit genügt, auf einer nassen Felsplatte rutsche ich weg und in Sekundenbruchteilen stürze ich. Eine leichte Prellung am rechten Schienbein, schmerzhafte Quetschung des kleinen Fingers, eine Beule an der Stirn und eine Risswunde am Handgelenk sind die Ausbeute. Leichte Krämpfe beim Versuch des Aufstehens zeigen, dass meine Muskulatur für einen solch schweren Trail zur Zeit nicht vorbereitet ist.

Nachdem der Schreck verdaut ist, möchte ich nur noch ins Ziel. Entsprechend bin ich froh, als ich den Lac de Longmer erreiche. Von hier aus dürften es noch etwa 8 km sein, schätze ich, ungefähr eine Stunde, da könnte ich knapp noch unter 7 Stunden bleiben. Mittlerweile hat der Regen aufgehört und für wenige Sekunden zeigt sich gar mal die Sonne. Das erste Mal heute tropft mir Schweiss von der Stirn, denn vom See müssen wir nun alles wieder hinauf steigen, zum Teil extrem steil.

Der Rest ist Durchhalten, ein letzter Kontrollposten 2,5 km vor dem Ziel. Dann erscheinen Liftanlagen, durch nasses Gras werden wir den eingangs erwähnten Steilhang hinunter gejagt, ein letztes Oberschenkel mordendes Schmankerl. Durch den Zielbogen, nach 6h59 ist das Abenteuer vorbei. Als Finishergeschenk erhalten wir eine Laufweste. Im Ziel schmeckt das Bier mit Käseschnittchen am besten. Nicht lange nach mir läuft die zweite Frau ein, Nina Breit. Julia Alter ist schon länger im Ziel, die deutschen Frauen also höchst erfolgreich.

Die Duschen sind einige Hundert Meter entfernt und vier Stück sind nicht gerade überdimensioniert. Einen Umkleideraum gibt es auch nicht, aber keinen stört das. In Frankreich geht es einfacher zu. Am Parkplatz treffe ich Andreas Baier. Er wollt hier heute einen raushauen, war aber von der Schwierigkeit der Strecke überrascht und hat Federn gelassen. Vielleicht wird er beim der 24h-Worldcup in Kanada laufen. Das anschließende Essen ist in der Startgebühr von 27 EUR enthalten, Salat, Braten mit Spaghetti, Käse und Apfelkuchen. Satt, zufrieden und etwas müde zögere ich nicht weiter mit der Heimfahrt. Jetzt sind die Ausflügler unterwegs, so flott wie heute früh wird das nicht werden…
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Sowas sind für mich irgendwie Läufe wie aus einer anderen Welt. Ich finde das absolut bewundernswert und unglaublich spannend. Vielen Dank fürs Niederschreiben, immer wieder sehr lesenswert Deine Laufberichte.
Mik

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Hey Michael,
toller Bericht. Ich fühle mich sofort auf die "andere" Rhein-Seite versetzt :zwinker2:
Ich hoffe, dass Deine Blessuren nicht allzu tragisch sind!
Ich habe echt großen :respekt: vor Deiner Leistung.
Gruß
Christoph
Duell 2008: Aninaj - chrisgaa

Arthur Clarke:
Die Grenzen des Möglichen lassen sich nur dadurch bestimmen,
daß man sich ein wenig über sie hinaus ins Unmögliche wagt.

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da hockt man bei Daueregen vor der Kiste und dann gibt es welche, die wettkämpfen :geil: . Das auch noch ultramäßig mit echten Bergen :uah:
Toller Bericht, aber mein Neid hält sich in Grenzen :wink:

Ich hoffe, die Blessuren waren nur leicht und die Haxen sind ganz.

:hallo: Frett
Wettkämpfe: Ultra-40x; Marathon-38x; HM-3x; 10 km-3x;

PB: U-116,1km/12Std, Biel 10:14, 65km/6Std; M-3:22; HM-1:35; 10 km-44:48

2010 Senftenberg HallenDoppelmara. 3:43/3:47, Rodgau 50 km 4:24, Marburg 50 km 4:24, Kandel-M 3:26, Eschollbrü. 50 km 4:12, Dt.Weinstr. 3:35, Rennsteig-SM 7:24, Bad Waldsee 3:27, 12-Std. Fellbach 112,9 km, 80km-Fidelitas 7:50, Ermstalmara. 3:46, Immenst-Gebirgsmara. 6:16, Allgäu-Ultratrail 9:02, ebm-Papst 3:39, Wörterseetrail 6:08

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Watt´n toller Laufbericht :geil: . Gute Besserung an die Blessuren :nick: .

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vielen, vielen dank für diesen bericht.

ich sage ja immer mal wieder, dass berichte das salz in der suppe hier sind. dein bericht ist aus einer mir völlig fremden welt. hochinteressant, spannend und toll. noch mal danke.
this time, the bell

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Unverhofft schöner Bericht, leider auch von hässlichen Blessuren - pfleg Dich! Die Herausforderungen warten nicht! :wink:
...hab hier nur meine Meinung formuliert. so what?

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...und da kam ich mir bei meinem gestrigen langen Lauf in strömenden Regen schon so unglaublich hart vor... :peinlich:

Wow, was für eine Leistung und ein total spannender Bericht! Danke dafür!
Gruß Thomas
PBs: 5km: 19:03 - 5,6km: 21:25 - 10km: 41:25 - HM: 1:26:39 - M: 3:11:15 - 50km: 4:09:09
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Gute Besserung und danke für den tollen Bericht über das verregnete Vogesenabenteuer.

Unvorstellbar, Strecken, die ich mit dem Mountainbike schon als herausfordernd empfinde, auch noch zu laufen...

:daumen:

Jörg

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Schöner Bericht, Michael. Danke!
Erinnerte mich an einen Urlaub, den wir vor ein paar Jahren mal im Elsass verbracht haben. Bei einer Wanderung regnete es den halben Tag, zeitweise war es neblig und irgendwann hatten wir uns völlig verlaufen. Dann steht man auf einem Bergrücken, hofft Zeichen von Zivilisation zu finden und da ist nichts. Kein Dorf, kein Haus, keine Straße, gar nichts. Nur Wald.
Ich fing schon an nach möglichen Schlafplätzen Auschau zu halten. Aber wenn man nur lange genug in Bewegung bleibt, stößt man irgendwann doch auf eine Straße. Ein freundlicher Franzose hat sich dann unserer erbarmt und uns zu unserem Auto zurückgefahren...
"If I had no sense of humor, I would long ago have committed suicide." (Gandhi)

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Hallo Micha, vielen Dank für den spannenden und kurzweiligen Bericht aus der "Wetterhölle". Erhol Dich gut... :hallo:
Viele Grüße

Jirka

Wir leben nicht, um besser zu laufen, sondern wir laufen, um besser zu leben!

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super bericht..
alles gute für deine verletzungen.. damit sie schnellv erheilen..
aber gut ließt sich der lauf
Bier löst keine Probleme ??? Ach, aber Wasser... oder wie !

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Hallo,

ein schöner Bericht. Bin in der Gegend um Geradmer vor einigen Jahren mal gewandert, das war damals schon anstrengend, zumal es auch die ganze Zeit geregnet hat. Das sind ja schon richtige Berge!
Also sehr viel
:respekt:
vor dieser Leistung!

Grüße
Christof

"If a man coaches himself, then he has only himself to blame when he is beaten."
- Sir Roger Bannister

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Vielen Dank an alle für die Wünsche. Ja, es sind lediglich Blessuren, Verletzungen wäre übertrieben. Im wesentlichen schmerzt noch der kleine Finger, den mittlerweile eine blauschwarze Färbung ziert :D

Ansonsten sorry für einige sprachliche Holprigkeiten, war sozusagen noch mit Vogesenmatsch in der Sohle geschrieben :zwinker2: Die wichtigste Korrektur: es fehlt ein "h". Nina Breith! Das muss sein!
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Super genialer Bericht! Das muß ein toller Lauf sein. Wenn der Lauf nächstes Jahr noch mal statt findet, werde ich versuchen dabei zu sein. Wenn Du auf solche Sachen stehst, kann ich Dir ein paar sau-geile X-Läufe in der selben Art in den Ardennen empfehlen.

Gute Besserung und danke für den tollen Bericht!

LG

Florian

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Toller Bericht von einem spannend schönen und etwas verrückten Lauf.

Grüße

Jörg
Neue Laufabenteuer im Blog

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@Florian: von den Ardennen habe ich schon öfter gelesen. Die Anfahrt ist halt ein bisschen weit für mich...

Noch ein Nachtrag. Nachdem endlich die Ergebnisse verfügbar sind (nicht beim Veranstalter, der kämpft immer noch, sondern bei UltraFondus), sollte doch erwähnt werden, dass die deutschen Männer nicht minder erfolgreich waren, Platz 1 und 2 an Felix von Witsch bzw. Burkhard Lennartz.
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Toller Lauf, toller Bericht. Wenn ich groß bin, will ich auch mal Ultraläufer werden.

Gruß, J.R.
Es läuft ...
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