Wenn ich mal groß bin, wolle ich Ultraläuferin werden, hörte man mich im vergangenen Jahr sagen. Mit einem Meter fünfundsiebzig Körpergröße und vier Marathons auf dem Buckel fand ich, es sei nun an der Zeit. Ein Ultra sollte her, ein „kleiner“, so zum Warmwerden.
Biel
Bevor einige Leser jetzt hörbar die Luft einziehen, sei vorausgeschickt, mein Plan war nicht, den GANZEN Hunderter von Biel zu laufen. Wer mich kennt, weiß, dass ich mir solch ein großes Unterfangen nur nach ausführlichster Vorbereitung und zweihundertprozentigem Training unter die Hufe nehmen würde. Nein, nein, der Plan ist die Absolvierung einer Teilstrecke bis Kilometer 56,1, bis Kirchberg, um genau zu sein. Dann als frischgebackene Ultraläuferin glücklich aussteigen.
Am Start
Conni Lachmöwe und ich kommen mittags am Wettkampftag in Biel an, beziehen das Quartier vom letzten Jahr (siehe 2006er „Tussenstaffeln“, die mich auf den Geschmack vom berühmten Schweizer Nachtlauf brachten) und legen uns sogar noch ein wenig aufs Ohr. Die Aufregung lässt sich noch ertragen. Sie steigt allerdings, als Sigi und Ishimori nachmittags zum Plausch vorbeikommen: Zwei Biel-Debütanten an einem Tisch rufen unweigerlich nervöse Aussagen wie „Wir werden alle sterben, waah!“ hervor. In der Eissporthalle von Biel treffen wir dann mit den Foris Frett Feuerstein und Udo zusammen, dort sind auch unsere beiden Hotelzimmerteiler Tatjana und Kerstin, alles Hundert-Gemeldete. Ich selbst bin mindestens so aufgeregt, als wenn ich die Strecke komplett laufen würde. Warum tun mir jetzt die Beine weh? Vom vielen Sitzen etwa? Ein bisschen Gehen hilft. Essen ist jetzt vielleicht nicht mehr so klug ... aber ob das Käsebrot von vorhin für die lange Nacht reichen wird? Und wird die Kleiderwahl (kurz/kurz) für das Wetter die richtige sein?
Und so ziemlich jeder, dem ich von meinem 56er-und-Schluss-Vorhaben erzähle, will mich dazu überreden, doch bis Kilometer 77, ach was, bis Kilometer 100 durchzulaufen, ich könne das doch ...
Das Lampenfieber wird größer. Zum Glück ahne ich, dass es bei mir in dem Moment verflogen sein wird, in dem ich endlich loslaufen kann. Kurz vor 22 Uhr, Startaufstellung. Conni reiht sich ganz vorne ein. Ich finde in Tatjana & Kerstin samt ihren Lauffreunden Christian & Frank unerwartet eine Gruppe, der ich mich zum Laufen anschließen werde – eine weitere Premiere, denn zuvor absolvierte ich Laufveranstaltungen immer allein.
Der Lauf
Die ersten 39 Kilometer durch die Nacht kenne ich schon, das war 2006 meine Etappe in der Forums-Tussenstaffel Isnichmehrweit gewesen. Innere Bilder der Laufstrecke kann ich im Vorwege nicht erinnern, aber als ich dann auf der Strecke bin, fällt mir vieles wieder ein: Da, die Unterführung, dann links weiter!, Waren letztes Jahr auch so viele riesige, betörend duftende Lavendelbüsche auf den Verkehrsinseln gepflanzt?, Klar, hier die lange Feldstrecke mit den Blinkleuchten (dieses Jahr ziemlich aufgeweicht durch tagelangen Regen). Nur der Vollmond fehlt dieses Jahr.
Unsere Fünfergruppe schlägt ein langsames Tempo an. An Steigungen wird gegangen, zwischendrin auch mal wieder. Ist mir nur recht – die vier wollen schließlich bis KM 100 mit ihren Kräften haushalten, und auch ich will keine Experimente. Mein Ziel: Laufen und Lächeln
Kilometer 39, Wechselzone in Oberramsern. Bis hierhin bin ich letztes Jahr gelaufen. Damals war ich einigermaßen platt und heilfroh, nach so vielen Kilometern über scheinbar endlose dunkle Felder endlich den Staffelchip an Janna weitergeben zu können.
Dieses Jahr laufe ich am Wechselzelt für die Staffetten vorbei und freue mich regelrecht auf die noch kommenden Felder! Obs an der besseren Kondition oder an der mentalen Unterstützung durch meine Gruppe liegt? Bedingt durch den damaligen späten Staffelstart (erst eine Stunde nach den 100er-Läufern sind wir auf den Weg geschickt worden) trabte so manch langsamer Staffettenläufer weite Teile mutterseelenallein durch die Nacht, nix von Gruppengefühl. Heute ist es ganz anders, immer bin ich eingebunden – in die große Gruppe von Läufern, in die Stimmung von Zuschauern an Straßenkreuzungen, aber auch in „meine“ kleine Gruppe. Angenehm ist das. Wir reden zwar nicht viel, aber kommunizieren kann man ja auch ohne Worte.
Der Kilometer 42 ist nicht ausgeschildert, aber durch meine Uhr kann ich ihn in etwa lokalisieren. Ab hier ist alles Neuland für mich: Weder länger noch weiter bin ich jemals gelaufen. Ein erhebendes Gefühl, und die Gruppe lässt mich erst mal hochleben.
Kurze Rückmeldung von den Beinen: alles okay. Nicht gerade frisch – aber auch keine wirklichen Probleme. Ab hier noch 14 Kilometer, dann bin ich in Kirchberg. Ob ich vielleicht doch noch bis KM 77 ...? Aber den Gedanken verschiebe ich auf später. Über die Brücke laufe ich, wenn ich da bin.
Es dämmert. Die in den Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen befürchtete Müdigkeit hat sich nicht eingestellt. Vielleicht hat der Probe-Nachtlauf vor drei Wochen dem Biorhythmus doch was gebracht. Oder auch das Vorschlafen.
Es wird heller und wir laufen durch ein Waldstück bei KM 50. Um uns herum stimmt mittlerweile eine Vielzahl von Vögeln ihr Morgenlied an – Wahnsinn, wie laut das auf einmal sein kann! Vorher hatten wir stundenlang nur das Getrappel von Läuferfüßen, unterbrochen von Anfeuerungs-„Hopp hopps“ oder –„Bravos“ gehört, vielleicht mal ein kleines Gespräch unter Läufern. Die Piepsis machen dagegen richtig Krach.
Der 55. Kilometer naht. In der Gruppe sind nicht mehr alle ganz fit, und ich bin nicht die einzige, die überlegt: Weiterlaufen bis 77? Aussteigen bei 56? Gänzlich platt bin ich nicht, könnte wohl noch weiterlaufen.Aber würde es auch in zweieinhalb, drei Stunden noch Spaß machen? Und: Würde es irgendwann in ein einziges Wandern ausarten oder könnte man es noch „Laufveranstaltung“ nennen? Der prozentual größere Teil von mir ist sich sicher: Wie geplant bei Kilometer 56,1 aussteigen – mit einem Lächeln im Gesicht.
Nach über 7:40 Stunden lasse ich somit die vier Jungs und Mädels in Kirchberg guten Gewissens ziehen.Alle schaffen sie es bis ins Ziel.
Fazit
Vielleicht bin ich mit diesem Lauf nicht unbedingt an meine Grenzen gegangen, aber ich weiß jetzt schon: Nächstes Jahr bin ich wieder hier. Und dann lauf ich die ganzen Hundert. Da geht noch wat.
Tessa
Biel 2007 – ein geplantes 'Da geht noch wat'
1„Ihr kommt doch klar, so wie ihr ausseht, oder? Den Besenwagen muss ich euch nämlich abziehen. Der wird weiter vorn bei den wirklich Fußlahmen gebraucht.“ - Syltlauf 2008