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Ich hab den weißen Hirsch nicht gesehen ...

Ich hab den weißen Hirsch nicht gesehen ...

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Donnerstag und ich hab Urlaub. Die Läuferin an meiner Seite nicht. Die ist also schon weg, als mein Wecker mich um acht aus Orpheus Armen holt. Und dann der Blick nach draußen: Grauer, trüber, lichtschwacher, aber noch nicht regenversauter Morgen. Ich weiß was das bedeutet: Dolce vita muss warten, dafür Keller, Kammer, Schreibtisch und einiges andere aufräumen. Für Sekunden keimt die Sehnsucht nach Dienst und geregeltem Schreibtischtäterlos (aber nur für Sekunden). Nach drei Cappuccinos ist die Welt dann schon deutlich heller - weniger draußen, dafür in mir drin. Logo wird heut gelaufen. Ich verschwende noch keinen Gedanken dran, was ich mir heute gebe. Sonntag, Montag und Dienstag verbrachten wird in den Bergen. Das war auf seine Art mächtig kraftraubend und so hatte ich mich gestern mit 30 Minuten Pulsmesser-freiem, langsamem Jogging begnügt. Hören, was die Knochen sagen, sich nach der ungewohnten langsamen Gangart des Auf und Ab, läuferisch neu "parametrieren". Heute sollte es mehr sein. Wie viel mehr? Ach erst mal das Unvermeidliche hinter mich bringen.

Die Aufräumorgie dauerte dann so an die drei Stunden und als ich wieder einen Gedanken an mein Lauftraining verschwendete geschah, was geschehen musste: Der Himmel beweinte diesen wettertraurigen Tag. Dicke, fette, Unaufhörlichkeit versprechende Krokodilstränen vergoss er. Muss ich mir das geben? Jetzt da raus? Nein, muss ich nicht. Meine Süße will nach der Arbeit ja auch noch die Bäume im nahen Wald zählen, da kann ich mich ja anschließen. Und vielleicht hat Petrus bis dahin seine Depression überwunden und gönnt dem Land ein Weilchen Trockenheit ... Könnt' ich mich eigentlich ein Stündchen mit klugen Kommentaren im Forum vergnügen. Das ging dann heute aber auch gründlich schief, da sich ein paar der "üblichen Verdächtigen" auf einen meiner Threads eingeschossen hatten. Ok, davon ist heute also auch kein Hochgefühl zu erwarten. Dann buchen wir den Donnerstag eben in der Sparte "Totalverluste" ab und vergessen ihn schnell ... :nick:

Immerhin: Der Himmel hellt sich zum späteren Nachmittag hin auf, die Schleuse wird geschlossen. Als ich mit meiner Süßen ins Auto steige und zum Parkplatz an der Lechstaustufe fahre, nehme ich den Verantwortlichen das "heilige Versprechen" eines von mieser Witterung ungetrübten Laufabends ab. Wir parken am Waldrand, wo wir häufig halten und der mit einem hohen Zaun gegen Betreten gesichert ist. Etliche hundert Meter, erst dann dürfen Normalsterbliche auch rein und den Forst genießen. Und wieder erzählt mir die Süße von jenem mysteriösen, weißen Hirsch, den sie hier und an anderen Stellen des Zaunes beim Laufen schon gesehen haben will. Ich glaub ihr das. Schließlich bin ich ja per Eheversprechen gesetzlich und sowieso moralisch verpflichtet meiner Frau derlei Beobachtungen zu glauben ... Nur laufe ich schon bald 1000 Jahre an diesem Zaun entlang und hab bisher nicht mal ein Eichhörnchen in der Einfriedung ausmachen können ... Ich spähe also in die Tiefe des Grüns und kann Harry Hirsch nirgends entdecken. "Isser halt heute nicht da, versteckt sich tief drinnen", bemerke ich lapidar, auch um von dem Thema weg zu kommen. Denn immerhin muss ich mir langsam mal Gedanken machen, was ich heute denn eigentlich laufen will, soll, kann ... "Ne Stunde wird's schon werden, mindestens", lasse ich mich ein und übergebe den Autoschlüssel, damit meine Süße nach ihrer fixen Dreiviertelstunde heimdüsen und mir rechtzeitig die Dusche freimachen kann :P . Ich werd nach Hause laufen.

Wir traben an. Ein paar hundert Meter will ich mit ihr gemeinsam laufen. Es ist ewig her, dass wir das taten. Ich muss bis Würzburg zurück denken, wo ich ihr den Hasen auf der ersten Runde, der Halbmarathondistanz, machte. Ich erwarte nicht mehr viel von diesem Tag, auch wenig von diesem Lauf. Aber neben ihr her zu joggen, durch laue, regenfrische Luft, ist schon mal ein schöner Anfang. Der Hirsch ist vergessen, der bisher mäßig erfreuliche Tageslauf auch. Dann verabschiede ich mich von ihr und wir wünschen uns gegenseitig viel Spaß.

Ich beschleunige auf mein Einlauftempo. Erst mal reinhorchen in die Orthopädie und ins Kraftwerk, was heute geht. Nach zehn Minuten kann ich ja immer noch entscheiden, ob's beim Einlauftempo bleibt ... Der Pulsmesser bewegt sich zwischen 70 und 75%, etwa 5 min/km. He, das fühlt sich prächtig an heute. Präziser gesagt fühle ich mächtige Lauflust aufkeimen. Ok, dann werde ich mich nach dem Einlaufen zu moderatem, aber doch forderndem Dauerlauf beschleunigen. Bei der ersten Möglicheit biege ich in den Wald ab, die mögliche Route auf einigen der schönsten Wege schon vor dem geistigen Auge. Links neben mir der Zaun (hinter dem Harry Hirsch leben soll), aber den registriere ich nicht, den habe ich die letzten 10 Jahre schon nicht mehr registriert. Ich laufe und ich fühle mich wohl. Der Kopf wird langsam frei, die Gedanken machen sich selbständig. Hier brauche ich nicht auf Wege zu achten, die finden meine Laufwerkzeuge automatisch.

10 Minuten um, ich pushe mich auf Sollgeschwindigkeit. Ein paar Minuten später der Kontrollblick auf den Pulsmesser: Wie erwartet tickt er da, wo er ticken soll: Zwischen 75 und 80%. Ich weiß es jetzt schon: Das wird heute ein genialer Lauf. Ich spüre die Beine kaum, ich schwebe mehr als ich laufe. Unangestrengt, leichtfüßig mit großem Vergnügen geht es dahin. Die feuchte, nach dem Regen mit intensiven Wohlgerüchen angereicherte Waldluft tut ein Übriges. Es ist eine Lust zu laufen und es ist eine Lust zu leben! Strecke und Läufer werden eins.

Ich ertappe mich dabei schneller zu werden. Laufen, laufen, aber nicht rennen. Mach's dir nicht kaputt, bleib bei diesem Tempo und genieß die Stunde. Heute hör ich auf mich, lass mich von mir nicht zu ehrgeizigem Tun verleiten. Hunderte Male hab ich diese Waldwege schon abgelaufen. Eigentlich sollten sie mich langweilen. Tun sie aber nicht. Jedes Mal sehe ich sie anders und spüre den Boden unter meinen Füßen neu. Mal weich, mal hart, mal trocken, mal matschig, mal warm, mal frostig kalt oder gar verschneit. Ich entschließe mich einen ungewohnten Schlenker durch die Lechheide zu laufen. Kommt mir in den Sinn, weil Ines und ich hier gestern auf Trockenrasen, zwíschen seltenen Blumen, Hummeln, Bienen, Schmetterlingen und Wachholderbüschen spazieren gingen. Gestern war himmelblau, heute is düstergrau. Der Blick zum Himmel raubt mir ein bisschen von der überschießenden Lauflust. Fett hängen sie da oben und drohen mit Wasser.

Und richtig: Es beginnt zu regnen! Aber es ist warm und ich schwitze heftig. So fühlt es sich gar nicht störend an, als mich die ersten Tropfen treffen. Im Gegenteil, der moderate Guss ist willkommen. Sommerregen. Wer sagt Regenwetter sei schlechtes Wetter? Heute bereichert es meinen Lauf. Nun fühl ich mich nicht mehr wohl, jetzt fühl ich mich sauwohl - jawohl! Und egoistisch wie ich bin, hoffe ich, dass es nicht mehr aufhört. Ein herrlicher Lauf und noch immer ohne Zwicken und Zwacken (was nach den Tagen herber orthopädischer Belastungen in den Bergen nicht zu erwarten war). Ein wunderbarer Lauf und noch immer unangestrengt.

Ich verlasse den Wald und nähere mich der Marke der letzten zwei Kilometer. Als ich sie erreiche sind 62 Minuten um und nun reduziere ich das Tempo und gönne mir gut zehn Minuten Auslaufen. Dann hört es doch wieder auf zu regnen, aber das ist egal, denn nun bin ich schon in den Wohnstraßen vor meinem Zuhause. 73 Minuten sind vorbei, als ich dort ankomme.

Die Dusche ist frei und ich gönne mir eine weitere Wohltat. Ich bin glücklich! Was für ein großartiger Donnerstag! Vielleicht sollte ich ihn im Lauftagebuch rot anstreichen. 15 geile Kilometer in den Beinen und putzmunter! Der Abend kann beginnen ...

"Hast du den weißen Hirsch den heute wenigstens gesehen?" fragt meine Frau. "Nö, wo denn?" - "Gleich nachdem man in den Wald abbiegt, stand er fünf Meter hinter dem Zaun. Ich blieb kurz stehen, aber er hat sich von mir beim Äsen nicht stören lassen ..."

Ich hab ihn wieder nicht gesehen. Aber das ist mir sowas von egal. Ich weiß, dass es ihn gibt, meine Frau sagt es ja. Und dann werde ich ihn auch eines Tages selbst erspähen. Dazu müsste ich allerdings tatsächlich auch mal durch den Zaun gucken, was ich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gemacht hab ... :D
"Faszination Marathon", die Laufseite von Ines und Udo auch für Einsteiger. :hallo:
Mit Trainingsplänen für 10 km, Halbmarathon, Marathon und Ultraläufe

PB: HM: 1:25:53 / M: 3:01:50 / 6h-Lauf: 70,568 km / 100 km: 9:07:42 / 100 Meilen: 17:18:55 / 24h-Lauf: 219,273 km
Deutsche Meisterschaft im 24h-Lauf 2015: 10. Gesamtplatz, Deutscher Meister in AK M60 (200,720 km) / Spartathlon 2016: 34:47:53 h

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Hallo Udo,

sehr schöne Schilderung!
Ja, solche Tage gibt es. Wo es nicht in die Richtung von "schlecht" zu "noch schlechter" geht, sondern wenn sich nach einem mäßigen Beginn bis zum Abend hin ein strahlend schöner Tag entwickelt, und das nicht unbedingt wegen einer Wetterbesserung.
Danke daß Du uns an Deinem diesbezüglichen Erlebnis hast teilnehmen lassen!

Und vielleicht siehst Du den weißen Hirsch ja nächstes Mal :D .

Walter
You can only fail if you give up too soon

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Hallo!

Vielen Dank für diese 5 schönen Minuten zum Tagesstart!
Das sind doch die schönsten Lauferlebnisse überhaupt, wenn man ohne Lust losläuft und sich die Einheit dann, aus welchen Gründen auch immer, zu etwas ganz tollem entwickelt.

Viele Grüße
Frank
10km PB 44:32 (2006)
15km PB 1:09:17 (2006)
20km PB 1:32:42 (2004)
HM PB 1:39:55 (2005)
25km PB 2:16:21 (2003)
M PB 3:55:21 (2005)

Es ist nichts großartiges, besser zu sein als jemand anders - wahre Größe bedeutet es, besser zu sein, als man selbst vorher war :hurra:(...wie ich finde, das einzige Motto, dass 95% aller Läufer motiviert)

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Klasse geschrieben Udo! Man kann richtig nachempfinden...

Schick`doch mal was an "Christopher Külzer-Schröder", vielleicht nimmt der mal was mit in ein Buch auf!

Liebe Grüße
Magimaus
http://www.hundephysioharz.de

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U_d_o hat geschrieben:Die ist also schon weg, als mein Wecker mich um acht aus Orpheus Armen holt.
Orpheus <-> Morpheus :klugsch: :zwinker2:
U_d_o hat geschrieben:Könnt' ich mich eigentlich ein Stündchen mit klugen Kommentaren im Forum vergnügen. Das ging dann heute aber auch gründlich schief, da sich ein paar der "üblichen Verdächtigen" auf einen meiner Threads eingeschossen hatten. Ok, davon ist heute also auch kein Hochgefühl zu erwarten.
Och, du Ärmster. :traurig: :hihi:
"If I had no sense of humor, I would long ago have committed suicide." (Gandhi)

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Naja bei Km 35 kann es passieren.

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mako hat geschrieben:Naja bei Km 35 kann es passieren.


Meine Halluzinationen bei >30 km gehen mehr in Richtung gebratener Hirsch mit Knödel und Preiselbeeren, da muß das Vieh, egal jetzt welcher Farbe, nicht im Wald rumrennen :D .

Walter
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Zitat Walter!
Meine Halluzinationen bei >30 km gehen mehr in Richtung gebratener Hirsch mit Knödel und Preiselbeeren, da muß das Vieh, egal jetzt welcher Farbe, nicht im Wald rumrennen :D
Hi Walter! So einen hungrigen Eindruck hast du beim Rennsteiglauf aber nicht gemacht :zwinker5: . Oder fehlt dem Oberförster von Schmiedefeld seit Mai ein Geweihträger?

@Udo!
Super Geschichte. So schön kann Training sein :nick: .

Liebe Grüße

Wolfgang

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elcorredor hat geschrieben:Hi Walter! So einen hungrigen Eindruck hast du beim Rennsteiglauf aber nicht gemacht :zwinker5: . Oder fehlt dem Oberförster von Schmiedefeld seit Mai ein Geweihträger?

Hallo Wolfgang,

da hast Du allerdings Recht - am Rennsteig hätte ich den Hirsch besser als Reittier gebrauchen können :D .

Mittwoch bin ich übrigens zu einem Termin in Wien, da trink' ich dann einen Gespritzten auf Dich, o.k.?

Liebe Grüße
Walter
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Na ich glaube Udo oder seine Frau müssen sich jetzt mit abschußbereiter Kamera auf den Weg machen. Da warten eine Menge Foris auf das Bild vom weißen Hirsch...
:nick: :nick: :nick:

und weitere schöne Berichte!

Gruß
Magimaus
http://www.hundephysioharz.de
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