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Der Geist vom Königssteig

Der Geist vom Königssteig

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Ausgemalt hatte ich mir das schon einige Zeit, nur die richtige Gelegenheit hatte sich nicht ergeben: Für einen Trainingslauf in den Bergen. Man könnte auch sagen für einen "Berglauf". Das vorgesehene Terrain kenne ich von mehreren Bergwanderungen und gestern war es dann soweit: Ein Familienbesuch stand in der Nähe an, so dass ich nicht einmal mein Umweltgewissen wegen der 90 zu fahrenden Kilometer belasten musste. Gegen 14 Uhr komme ich in Unterammergau an und parke mein Auto am Fuß des Berges über den ich nachher wieder das Tal erreichen werde. Ballast beim Laufen hasse ich, nur bleibt mir heute nichts anderes übrig, als den Trinkgurt meiner Frau mitzunehmen. Und weil's damit eh schon "wurscht" is, schnalle ich darein auch noch eine kleine Tasche für die DigiCam, um unterwegs ein paar Bilder zu schießen ...

Und los geht's ... Aber nur 200 Meter, dann muss ich noch mal umkehren und die Brille zum Auto bringen. Aber jetzt: Teil eins meines Vorhabens heißt "Einlaufen". Nichts stelle ich mir übler vor, als mit kaltem "Motor" sofort gegen die Steigung anzurennen. Also nutze ich den Radweg von Unter- nach Oberammergau, daran anschließend die Straßen des Ortes, zum Einlaufen. Einen Wegweiser bräuchte ich zwar nicht, dennoch ragt er unübersehbar vor mir auf, der "Kofel", das felsige Wahrzeichen von Oberammergau. Wie der Reißzahn eines Wolfes steht er vor dem Bergrücken. Die ersten Kilometer fühlen sich nicht so toll an. Ich konnt's ja auch nicht lassen gestern und vorgestern normal zu trainieren ... Vom Himmel hatte ich mir mehr versprochen, oder soll ich sagen "befürchtet"? Aber die Sonne versteckt sich mehr und mehr hinter Wolken, die langsam zusammen wachsen. Das Ortsschild des Holzschnitzerdorfes hab ich hinter mir und versuche nun durch das Gewirr der Wohnsträßchen, ein Drittel intuitiv, ein Drittel per Kofel-Wegweisung, ein Drittel mit Wandererbeschilderung, meinen Weg zum Beginn des Bergpfades zu finden. Das mit der Intuition hätte ich lassen
sollen, sie beschert mir sicher noch ein paar Extrameter, einschließlich einer ersten Extrakuppe. 'Oh, oh,' mag ich im Anstieg einstweilen nur denken, 'das ist nicht mein bester Tag heute'. Für ein paar Fotos bin ich zwischendurch schon mal stehen geblieben. Landschaftsfotos. Und dann fällt mein Blick auf eine Raupe am Straßenrand. Ich kann mich nicht erinnern, in unseren Breiten schon mal ein so farbenprächtiges und riesiges Exemplar gesehen zu haben. Auch für sie unterbreche ich meinen Lauf. Was für ein geflügeltes Wesen mag sich aus ihr entwickeln?

Zwei Minuten später, eine halbe Stunde ist schon verbraucht, ist es soweit: Hinter einem Wandererparkplatz, unterhalb des Kofels, beginnt der Anstieg. Ich kenne den Weg von einer Tour aus dem Vorjahr. Rasch gewinnt der Pfad an Steigung und mein Herzschlag an Dynamik. Es ist Sommer, Urlaubszeit, das Touristenloch Oberammergau ist nur einen Steinwurf weit weg, so erwarte ich eine Vielzahl von Wanderern. Noch bevor der Weg im Wald verschwindet, kommt mir eine erste Familie entgegen. Dann tauche ich im Wald unter und der Steig nimmt seinen wahren Charakter an. Ich wusste, dass er steil, felsig, bisweilen rutschig und geröllig ist. Darum wähle ich diese Variante aufwärts. Aber, dass er so besch... und schwierig zu laufen ist, hab ich nicht erwartet. Das ist pure Knochenarbeit - im wahrsten Sinne des Wortes. Keine drei Minuten später bin ich triefend nass und der Puls pocht bei 87%. Doch die Anstrengung ist es nicht alleine: Die Beine können hier keinen Laufrhythmus finden, weil sich keine zwei Schritte gleichen. Mal ist ein Absatz höher, mal niedriger, mal ein Schritt weiter, mal nur noch ein Schrittchen. Sidesteps sind erforderlich und auch kleine Sprünge. Volle Konzentration ist gefragt, sonst lege ich mich hier auf die Nase, was unter Garantie "blutig" enden würde.

Von den zahlreichen entgegen kommenden Bergwanderern bekomme ich nur mit, dass sie flugs zur Seite weichen, so sie meiner ansichtig werden. Blicke kann ich keine verschwenden und den einen oder anderen Gruß auch nur mit einem leisen, halb kehligen, halb gehechelten, manchmal völlig unterdrückten "Hallo" erwidern. Ein in ihren Augen sicher Bekloppten, der diesen in Bergschuhen schon nicht ungefährlichen Weg, im Laufschritt hochrennt, haben sie nicht erwartet. Mutters oder Vaters Arme reißen den einen oder anderen "laufenden Meter" an sich. Es bleibt im Halbdunkel des Laufwaldes, ob sie dem Irren damit den Weg oder ihrem Nachwuchs das Überleben sichern wollen ... :D

Werd' ich heute wohl mal gehen müssen? Wird mir irgendwann die Kraft ausgehen? Es wär das erste Mal in meinem Läuferleben überhaupt. Und vorher hab ich mir überlegt, wenn diese "Erniedrigung" schon sein muss, dann wenigstens in einem Trainingslauf, nicht dereinst im Wettkampf ... Manchmal will mir scheinen, dass es bald so weit ist, wenn das Gelände drei, vier, fünf ausgreifende Hopser nacheinander erzwingt und meine Beine für Sekunden die Konsistenz von warmem Wachs annehmen. Aber noch geht es, aufwärts, aufwärts. Mein erstes Zwischenziel ist der Kofelsattel auf 1215 Metern, dann habe ich bereits über 500 Höhenmeter hinter mir. Verstohlen schaue ich in der steilen Bergflanke nach oben: Wie lange noch?

Nach 30 Minuten ist es geschafft und ich kann mich nun im steten, sanften Auf und Ab des sogenannten Königssteiges erholen. Kurzes Verweilen für ein Foto: Eine Lücke im Bergwald gibt den Blick frei auf das Gipfelkreuz des "Kofels", nun nur noch etwa 130 Meter über mir. Ein weiteres Fläschen meines Trinkgurtes muss dran glauben und weiter geht's. Die Felsnase - genannt "Kofel" - bleibt zurück, mein Ziel liegt einige Kilometer weit voraus ... Bergpfade sind nicht immer übersichtlich und so gilt es ein ums andere Mal plötzlich auftauchenden Gruppen auszuweichen. Bisweilen erzeugt das unerwartete Heranstürmen des "Geistes vom Königssteig" auch Schrecken und hastiges Zur-Seite-Wegducken. Halb amüsiert, aber immer artig, bedanke ich mich fürs Ausweichen. Zuweilen fällt mein Blick in schroffe, gähnende Tiefen. Ich mache mir bewusst, das jeder Fehltritt durchaus der letzte sein könnte und bin auf der Hut. Die eine oder andere Felspassage bremst mein inzwischen recht passables Tempo.

Eine Abzweigung: Rechts geht's nach unten, nach Oberammergau zurück. Den Weg kenne ich. Ich entscheide mich nach links und nach oben zu laufen und betrete damit ein unbekanntes Stück Wegstrecke. Eine Minute später ist wieder eine Entscheidung gefordert: Diesmal nach rechts, die Karte sagte mir zuvor, dies sei die einfachere Alternative. Bald nähere ich mich der Bergstation der Kolben-Sesselbahn. Konsequenz: Noch mehr Wanderer. Einige Meter oberhalb der Bergstation passiere ich den stark frequentierten Ort und wende mich nun endgültig meinem Ziel zu, dem August-Schuster-Haus, einer Berghütte oberhalb von Unterammergau. Im Halbminutentakt gilt es jetzt Rucksackträgern auszuweichen, was mit gegenseitiger Rücksichtnahme aber nie ein Problem darstellt.

Vielleicht blickte man mir mit einem Ausdruck großen Erstaunens entgegen und das ein oder andere Kopfschütteln mag hinter meinem Rücken auch dabei gewesen sein. Keine der Reaktionen war aber mit Sicherheit so heftig wie meine jetzt, als sie in meinen Gesichtskreis tritt. Oder genauer: Als sie ihren vierrädrigen Kinderwagen (??!!) auf viel zu schmalem, vollkommen ungeeignetem Bergpfad auf mich zu schiebt. Zum Glück sahen mich die Berge selten so fassungslos, ob der Leichtfertigkeit und Dummheit mancher Menschen. Mit Mühe schiebe ich mich vorbei und kann nur hoffen, dass das Baby wieder heil im Tal angekommen ist.

Ich muss weiter, mit inzwischen schon recht müden Beinen. Eine Wandersfrau passiert 10 Meter voraus gerade ein Weidegatter. Als sie mich sieht, öffnet sie das Törchen noch einmal. Was für ein netter Service: "Super und vielen Dank!" rufe ich im Vorbeilaufen in ihr lachendes Konterfei. Dann ist der Bergpfad zu Ende und mündet in den erwarteten breiten Wirtschaftsweg, der jetzt bis zur Hütte hinauf führt. Die ersten Schritte bergwärts fallen mir noch leicht, dann wird's heftig. Sogar sehr heftig. Die paar Kilometer vom Kofelsattel hierher waren auch nicht ohne und nach mittlerweile anderthalb Stunden Laufzeit bin ich schon ziemlich erschöpft. Hilft nix: Ich will da rauf und ich laufe da rauf!

Zum Glück ist das Geläuf nun kein Problem mehr, geht nach ein-, zweihundert Metern sogar in eine uneben betonierte Piste über. Es kommt mir nicht mal so steil vor, nur werde ich immer langsamer. Und der Herzschlag kommt wieder auf gewaltige Touren. Einmal kurz stehen bleiben, ein Foto muss sein: Da vorne, oben liegt sie - die Hütte. Ist das eigentlich ein Vergnügen, was ich mir hier zumute? Im Moment sicher nicht. Und wie schon so oft, wenn's im Training wirklich zur Sache ging, lässt sich der Gedanke "Was soll das eigentlich?" nicht unterdrücken. Bis jetzt hat er mich nie zum Stehenbleiben gebracht und auch heute schafft er das nicht. Nach weiteren 20 Minuten ist es vollbracht und ich stehe vor der Hütte, dem August-Schuster-Haus am Pürschling, auf 1564 Metern Seehöhe. Leider ist die Wolkendecke inzwischen geschlossen und hängt ziemlich tief, so dass mir der tolle Fernblick von hier oben versagt bleibt. Von der nahen Zugspitze ist überhaupt nichts zu erspähen.

Nach dem fälligen Foto kommt meine Entscheidung wieder ins Wanken. Die Entscheidung, ob ich die fehlenden 200 Höhenmeter zum nahen Gipfel des "Teufelsstättkopfes" auch noch überbrücken soll. Kurz vor der Hütte hab ich das verneint und nun stapfe ich doch wieder los, überwinde einen Almzaun und wende mich bergwärts. Aber nur ein paar Meter, dann schelte ich mich einen Narren. 'Was soll das? Diese ungefähr 900 bis 1000 Höhenmeter waren doch genug! Und du bist schon erschöpft! Klar kommst du da auch noch rauf, aber zu welchem Preis? Total kaputt dann, womöglich unkontrolliert beim Runterlaufen mit entsprechender Unfallgefahr! Das war doch jetzt Erlebnis genug oder nicht?' Für die Dauer dieser Überlegung stehe ich und wende mich überzeugt Richtung Tal.

Das werden dann die leichtesten 30 Minuten meines Trainingslaufes, aber leider auch genau jene, die mir den netten kleinen Muskelkater heute beschert haben. Beinahe 900 Höhenmetern in 30 Minuten zu verlieren ist halt keine Alltagsübung für Läufer. Oben bleiben kann ich nicht und für langsames Gehen wär's mir entschieden zu kalt.

Nach zwei Stunden und zwanzig Minuten stehe ich wieder vor meinem Auto. Fazit: Das Wetter hätte schöner sein können und ich ein bisschen ausgeruhter. Aber was soll's. Zufrieden bin ich trotzdem und sinke angenehm ermattet in die Polster meines Fahrersitzes ...
"Faszination Marathon", die Laufseite von Ines und Udo auch für Einsteiger. :hallo:
Mit Trainingsplänen für 10 km, Halbmarathon, Marathon und Ultraläufe

PB: HM: 1:25:53 / M: 3:01:50 / 6h-Lauf: 70,568 km / 100 km: 9:07:42 / 100 Meilen: 17:18:55 / 24h-Lauf: 219,273 km
Deutsche Meisterschaft im 24h-Lauf 2015: 10. Gesamtplatz, Deutscher Meister in AK M60 (200,720 km) / Spartathlon 2016: 34:47:53 h

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Es ist nett zu lesen, das von Dir schön geschriebene, Udo!

Danke!
...hab hier nur meine Meinung formuliert. so what?

Super Bericht

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Hi Udo! Super kurzweiliger Bericht, macht riesig Spaß zu lesen.

Natürlich kommt mir bei solchen Berichten immer die WARUM? Frage:
- warum wohne ich eigentlich im Flachland? :confused:

Ich glaube mein nächster Job ist bei Euch im Süden.... :wink:

Lg

Flo

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So mittlerweile ist es mir auch gelungen ein paar der (nicht allzu guten) Bilder auf den Server zu laden:

Der Kofel, mein Wegweiser

Die "kapitale" und prächtige Raupe

Auf dem Kofelsattel, kurz unterhalb des Kofelgipfels

Da oben liegt die Hütte ...

Ansichten der August-Schuster-Hütte: Eine und noch eine

Wegweiser an der Huette

Rückblick von der Hütte zum Kofel

Kapelle am Rückweg

Es ist geschafft, kurz vor dem Parkplatz

Auch wenn sie keinen Fotopreis gewinnen würden, die Bilder verdeutlichen den Reiz meiner Trainingsstrecke.

Gruß Udo
"Faszination Marathon", die Laufseite von Ines und Udo auch für Einsteiger. :hallo:
Mit Trainingsplänen für 10 km, Halbmarathon, Marathon und Ultraläufe

PB: HM: 1:25:53 / M: 3:01:50 / 6h-Lauf: 70,568 km / 100 km: 9:07:42 / 100 Meilen: 17:18:55 / 24h-Lauf: 219,273 km
Deutsche Meisterschaft im 24h-Lauf 2015: 10. Gesamtplatz, Deutscher Meister in AK M60 (200,720 km) / Spartathlon 2016: 34:47:53 h

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Hallo Udo!

Ich warte schon auf die Fortsetzung, die da heißen muss: Der Geist vom Königssteig und der weiße Hirsch :D .

Danke für die schöne Geschichte aus einer wunderschönen Gegend.

Liebe Grüße

Wolfgang

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Hallo Wolfgang,

@all

nun, die "Fortsetzung" gestaltete sich ein wenig anders: Ich hab's heute in ähnlicher Weise wiederholt. Das Ziel war dasselbe, nur nutzte ich die sichere Forststraße diesmal auch zum Rauflaufen. Obwohl von Anfang an so geplant, war das heute auch geboten. Aufwärts nieselte es noch leicht. Und heute wollte ich eigentlich den letzte Woche noch "verschmähten" Gipfel nehmen. Versucht hab ich's, kehrte aber nach den ersten sehr schlüpfrigen Felspassagen um. Das war mir dann doch zu gefährlich ohne Bergschuhe.

Nach 1:57h war ich wieder zurück am Auto. Ich wählte die Route so, dass ich ca. 2 km zum Einlaufen im Flachen hatte. Dann etwa 60 Minuten für 1000 Höhenmeter und in 45 Minuten zurück zum Auto. Letzte Woche reichte der Muskelkater für drei Tage ... Heute habe ich so eine Ahnung, dass ich morgen keinen verspüren werde.

60 Minuten am Stück und so steil aufwärts waren heftig. Dazu das miese Wetter, so blieb der Spaß heute schon ein wenig auf der Strecke - im wahrsten Sinne des Wortes. Etwas, aber eben nicht ganz und darauf kommt's ja an.

Gruß Udo
"Faszination Marathon", die Laufseite von Ines und Udo auch für Einsteiger. :hallo:
Mit Trainingsplänen für 10 km, Halbmarathon, Marathon und Ultraläufe

PB: HM: 1:25:53 / M: 3:01:50 / 6h-Lauf: 70,568 km / 100 km: 9:07:42 / 100 Meilen: 17:18:55 / 24h-Lauf: 219,273 km
Deutsche Meisterschaft im 24h-Lauf 2015: 10. Gesamtplatz, Deutscher Meister in AK M60 (200,720 km) / Spartathlon 2016: 34:47:53 h
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