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Alphornbläser, Dudelsackspieler und die Frage „was mach ich hier eigentlich?“

Alphornbläser, Dudelsackspieler und die Frage „was mach ich hier eigentlich?“

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Sonntagmorgen, 5:30 Uhr, mein Wecker klingelt. Wie verrückt kann man eigentlich sein? Um Viertel nach Acht startet der Saarschleife-Marathon – mit mir. Meine Premiere! Die Vorbereitung war nicht gerade so, wie ich es mir vorgestellt habe; dafür lief die Generalprobe – ein einzelner Dreißiger – vor zwei Wochen gut. Ob das reicht? Die Startunterlagen habe ich schon gestern geholt – was meine Frau zu der Bemerkung veranlasste: „wir wollten doch schon lang mal wieder zu Ikea – und wenn wir schon in Merzig sind, dann ist es nicht weit bis Saarlouis“. Das nennt man optimale Vorbereitung – am Tag vor einem Marathon zwei Stunden durch Ikea laufen!
Ende des Gejammers! Aufgestanden, Blick aufs Thermometer: 12 Grad, gefrühstückt, den Rest gepackt, Melkfett auf die empfindlichen Körperteile, angezogen, Kontaktlinsen rein – Abfahrt kurz vor sieben Uhr. Meine Frau schläft noch – oder wieder – sie wird dann im Ziel sein. Ich schaffe es, mich auf dem Weg nach Merzig zu verfahren, aber gegen 7:40 Uhr bin ich auf dem Parkplatz. Warmlaufen, Toilette, Jacke aus. Der Sprecher erklärt den neuen Streckenverlauf. Aufstellung im Startbereich. Um mich herum überwiegend schlanke, durchtrainierte Läufer. Viele kennen sich. Sie unterhalten sich über die Marathons, die sie in den letzten Wochen gelaufen sind. Hilfe! Was mache ich hier, zwischen lauter Profis? Ich hätte es wissen können: Zielschluß nach 5:15 Stunden, Saarlandmeisterschaften im Marathon. Der Sprecher verkündet gerade, dass 130 Läufer den Marathon laufen werden – und 800 die halbe Distanz.
Startschuß – jetzt gilt’s! Die ersten 195 Meter laufen wir eine Schleife vor der Stadthalle. Die Halbmarathonies applaudieren – Gänsehautfeeling! Zum ersten Mal habe ich ein Grinsen im Gesicht. Dann geht es durch den Stadtpark zur Saar. Ich laufe hinter einer Gruppe, die sich offensichtlich kennt – mindestens einer gehört zum 100-Marathon-Club; Ehrfurcht ergreift mich – und wieder die Frage, was ich hier tu! Die Gruppe läuft mit einem Schnitt von knapp unter 6 min/km, also beschließe ich, hinten an ihr dran zu bleiben. Kurze Strecken werden langsamer gelaufen, dann schert immer einer aus, um Bilder zu machen. So nach 5 Kilometern wird mir das Spiel zu dumm und ich überhole. Ist das jetzt ein Fehler? Bisher fühlte ich mich gut, ich hoffe, das ändert sich jetzt nicht. Glücklicherweise kommt der erste Verpflegungspunkt, ich trinke Wasser.
Bald habe ich Ersatz für meine Zug- und Bremsläufer gefunden: eine Vierergruppe, offensichtlich kennen die sich auch und laufen alle paar Wochen einen Marathon zusammen. Ähm – ja – was mach ich hier eigentlich? Kilometer 8, Anstieg nach St. Gangolf. Ich laufe hoch. Oben steht der versprochene Dudelsackspieler. Wieder runter zur Saar – das gefällt meinem Knie jetzt nicht – äh! - mach keine Zicken! Unten angekommen beruhigt sich mein Knie glücklicherweise wieder. Nächster VP bei Kilometer 10 (59 Minuten) – ich trinke Wasser. Kurz darauf kommen wir an der Bühne der Chorveranstaltung vorbei. Zahlreiche Kisten Karlsberg-Bier stehen am Ufer, gleich dahinter eine Reihe Dixies – was für ein Service! Dann: der Alphornbläser. Letztes Jahr war das noch eine ganze Gruppe. Überraschenderweise steht bei Kilometer 12,5 wieder ein Getränkestand, ich nehme wieder Wasser. Ein Läufer meiner Gruppe bleibt zurück, schade. Die Schotterstrecke geht jetzt zu Ende, wir nähern uns Mettlach. Von der Schleuse geht es über Rampen runter – meinem Knie gefällt das überhaupt nicht. Dann kommt uns der erste Halbmarathoni entgegen, noch im schmalen Stück unter der Brücke. Nächster VP bei Kilometer 15: ich nehme erst Iso und dann Wasser. Jetzt kommt uns langsam aber sicher der Pulk der Halbmarathonies entgegen. Eigentlich sollten wir auf der rechten Seite der B51 laufen – aber wer macht das schon in einer Linkskurve? Langsam aber sicher gewinnen meine Zugläufer Abstand zu mir, aber ich will mein Tempo nicht steigern. Schließlich weiß ich nicht, was mich jenseits Kilometer 30 erwarten wird. Also weiter im Trott, den Anderen hinterher. An den Zufahrten zu den Ortschaften stehen kleine Gruppen von Zuschauern die applaudieren – das tut gut! Der Strom der Halbmarathonies versiegt langsam, einige sehen schon nach vier Kilometern nicht mehr gut aus. Man kann sie deutlich von den Marathonläufern unterscheiden, die uns jetzt natürlich auch entgegen kommen.
VP bei Kilometer 20 – wieder nehme ich Iso und Wasser – und freue mich auf die Cola, wenn ich hier wieder vorbei komme. Wende bei Kilometer 21 (2:03 Stunden) – jetzt geht es zurück und ich versuche die Läufer hinter mir zu zählen. Es sind erstaunlich viele, hätte ich nicht gedacht. Beim VP nehme ich Cola, Wasser - und die Entdeckung des Tages: Salzbrezeln. Bei Kilometer 23 kommt mir das Besenfahrrad entgegen. Eigentlich sieht der Fahrer freundlich aus, aber auf ein Wiedersehen kann ich verzichten. VP Kilometer 25 Iso, Wasser, Salzbrezeln. Bis zum Ziel wird das jetzt meine Diät: immer Wasser und Salzbrezeln, im Wechsel Iso und Cola. Nach dem Stand werde ich von einem Profi begleitet: erst erkundigt er sich harmlos nach meinem Befinden, dann nach meiner Erfahrung – und dann erzählt er mir, dass er fast jedes Wochenende einen Marathon oder Ultra läuft, dass er schon 25 mal Biel gefinisht hat – und das Ultra-Laufen viel einfacher wäre als Halbmarathon. Danke! - Trotzdem vielen lieben Dank lieber Laufkollege: du hast mir wirklich Auftrieb gegeben! Das war der absolut richtige Moment für eine Begleitung! Beim nächsten VP ist leider Schluß mit der Begleitung – ich kann nicht im Laufen trinken, er natürlich schon.
Wieder zurück in Mettlach – Kilometer 28. Es geht jetzt die Schleuse hoch – noch laufe ich. Ich laufe jetzt schweigend mit einer Läuferin. Bald sind die 30 Kilometer voll – dann beginnt Neuland. Ich lege mir zurecht, was ich dem Mann mit dem Hammer erzählen werde, wenn er sich mit in den Weg stellt. Der VP ist erreicht, jetzt beginnt für mich die läuferische Terra Incognita. Ein Hochgefühl befällt mich, ein Grinsen legt sich auf mein Gesicht. So lang bin ich noch nie gelaufen! Geil – ich hab’s drauf! Und dann wird es lang – sehr lang! Ich zerteile mir die Strecke in Verpflegungspunkte. An jedem VP gehe ich ein Stück. Witzigerweise überholt mich kein Läufer, sondern ich sammel ein. Einen nach dem Andern. Zum letzten Mal die Frage: „was tu ich hier?“ Wieder geht es hoch nach St.Gangolf. An Laufen ist hier nicht mehr zu denken. Ich gehe den Berg mit erhobenem Haupt hoch! Oben steht das Motivationsteam: aus der Anlage im Auto ertönt fetzige Musik – danke! Da fällt das Laufen gleich viel leichter. VP Kilometer 37,5 – ich bin müde. Cola, Wasser, doch wo sind die Salzbrezeln? Ich frage – eine neue Tüte wird aufgemacht – danke! Zehn Minuten später: wieder hört ein Läufer vor mir auf zu laufen und geht. Ich könnte doch auch, nur ein Stück? – Nein! – ich laufe bis zum VP bei Kilometer 40! Soviel Ehrgefühl habe ich noch! Auch wenn die Pace längst über 6 min/km liegt. Ich sammel weiter Läufer ein. Wo bleibt der Verpflegungsstand? Irgendwo bei Kilometer 40,5 kommt er endlich. Ich laufe auf ihn zu und rufe „ endlich – hier ist die Oase, im letzten Augenblick!“
Das war wirklich aus tiefstem Herzen, denn viel länger wäre ich nicht mehr gelaufen. Aber so – 300 Meter gehen, Becher wegwerfen, aufmunternde Worte für einen Läufer der ziemlich am Ende scheint – und zum letzten Mal wieder anlaufen. Jetzt weiß ich, dass ich es schaffen werde! Trotzdem zieht sich der Weg bis zum Kurpark scheinbar endlos. Plötzlich ist er da! Ich höre die Musik aus dem Zielbereich! Ein Grinsen legt sich wieder auf mein Gesicht. Und da steht meine Frau und fotografiert mich! Ich reiße die Arme hoch, andere Zuschauer applaudieren – Gänsehaut! Der Zielkanal – wieder reiße ich die Arme hoch und laufe über die Ziellinie, Tränen in den Augen. Vor lauter Glück vergesse ich den Garmin zu stoppen – egal! Ich bin Marathoni! Meine Frau ist da und wir liegen uns in den Armen.
Umziehen, Urkunde abholen, Erdinger alkoholfrei. Dann gibt es natürlich Streuselkuchen – den lasse ich mir nicht entgehen. Mit Kaffee! An dieser Stelle noch ein ganz großes Lob an den Veranstalter: super Betreuung! Ohne euch hätte ich das nicht geschafft! Und dass ihr das Problem mit der gesperrten äußeren Saarschleife so souverän gelöst habt – Respekt!
Ach ja: auf der Urkunde steht: 4:13:21 Stunden, netto.
Vielen Dank fürs Lesen!
Ralph

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Hi Ralph,

hach, das freut mich aber sehr, dass es so gut für Dich gelaufen ist! Die Strecke scheint ja nicht einfach gewesen zu sein, und Du bist im Schnitt 6 min/km durchgelaufen - das ist klasse!
Herzlichen Glückwunsch dem frischgebackenen Marathoni! :daumen:

Und danke für den schönen, positiven Bericht an einem verregneten Montagmorgen!

Gruß

Manu
Kylie

try running in my shoeshttp://kyliecat.wordpress.com/

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Vielen Dank für die Glückwünsche!

@Kylie:
In meinem Bericht klingt die Strecke scheinbar schwerer als sie war: im Grunde ist sie flach, nur bei Kilometer 8 und dann auf dem Rückweg bei Kilometer 34 gibt es diese kleine, fiese Steigung - vielleicht 30 Höhenmeter. Auf dem Rückweg war das einfach zu viel für mich. Zusätzlich noch die Schleuse. Und die insgesamt 14 Kilometer auf der B51 waren wie befürchtet schon ziemlich eintönig. Ich hoffe, daß in den nächsten Jahren die Ursprungsstrecke wieder frei ist.

@Tati
Diese Woche steht Regeneration auf dem Programm - versprochen!

Gruß
Ralph

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Gratulaltion - gut gelaufen und schön beschrieben.

Jörg
Neue Laufabenteuer im Blog

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Hi Ralph,

dicker Glückwunsch zur Premiere und Dankeschön für einen tollen Bericht!
Bei der Premiere ein 6:00-Schnitt auf dieser Strecke - großer Respekt (die Gangolf-Steigung ist wirklich eklig ...).
Aber nun hat dein armes Knie wirklich Regeneration verdient (und der Rest des Körpers auch :daumen: ).

vg,
kobold

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kobold hat geschrieben:Aber nun hat dein armes Knie wirklich Regeneration verdient (und der Rest des Körpers auch :daumen: ).

vg,
kobold
Hi Kobold,
ich weiß, wenn ich jetzt nicht vernünftig bin, dann brauche ich keine weiteren Läufe mehr planen. Bis zum Wochenende ist Laufpause, dann sehe ich weiter.
Gruß
Ralph

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Schöne Marathonpremiere.
Und so schön nachzuvollziehen!

Bernd

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Hallo Ralph,

danke für den lebendigen Bericht und Glückwunsch zur tollen Leistung.

Gruß

Gerhard

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nach einem Marathon durchs Ziel zu laufen ist
einfach ein geiles Gefühl.
Glückwunsch zur gelungenen Premiere
auch von mir.

Viele Grüße
Markus
__________________
2014 (so ist´s geplant)

6 Stunden in Rotenburg
Weiltal Marathon
Rennsteig SM (der macht süchtig :daumen:)
kl. Kobolt (den will ich noch einmal laufen)

was sonst - mal sehen


Bild
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Hallo Ralph,
danke für den schönen emotionalen Bericht - Du bist richtig klasse kontinuierlich durchgelaufen - und das beim ersten Marathon - Respekt :daumen: :daumen:
Viele Grüße
Dietmar, der am 16.9. sein Bestes gibt :hallo:

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Glückwunsch zur tollen Premiere und danke für den kurzweiligen Bericht! :daumen:

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Markus 40 hat geschrieben:nach einem Marathon durchs Ziel zu laufen ist einfach ein geiles Gefühl
das stimmt - das Grinsen ist noch nicht ganz weg!

@all:
Vielen Dank für die Glückwünsche!

Gruß
Ralph

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Zunächst und von Herzen: Herzlichen Glückwunsch! Ein wirklich gelungener Einstand! :respekt: :daumen: :respekt:
Thestral hat geschrieben:Ähm – ja – was mach ich hier eigentlich? Kilometer 8
Du stellst dir diese Klassiker-Frage aber verdammt früh :P Somit hattest du Zeit genug, vielleicht auch eine Antwort zu finden? Verrätst du sie? :wink:

Für mich persönlich würde sie in solchen Fällen lauten (wobei ich mir die Frage beim Laufen eigentlich noch nie gestellt habe): "Ich gönne mir den Luxus, eins zu tun: das, worauf ich Lust habe!" :nick:
Ach ja: auf der Urkunde steht: 4:13:21 Stunden, netto.
Was für mein Empfinden eine tolle Zeit für den Ersten ist. Und vor allem bist du gleichmäßig durchgelaufen. Das schaffe ich ohne Abkacker am Ende noch nicht ;-)
Vielen Dank fürs Lesen!
An dieser Stelle eine kleine Anmerkung von mir. Und ich hoffe, dass das Wohlmeinende daran rüberkommt, auch wenn es erstmal belehrend wirken mag:

Ich habe den Bericht einerseits gerne gelesen. Weil er gut war und weil die ganze Gefühlswelt des "Debutanten" drinsteckt. Solche Berichte mag ich.

Andererseits: hätte ich es nicht irgendwann angekündigt bzw. versprochen, ich hätte ihn vermutlich doch nicht gelesen und dadurch etwas verpasst. Und warum hätte ich nicht? Weil man beim Reinklicken auf einen großen massiven Block aus Wörtern guckt. Das schreckt ein bisschen ab. Nicht die Länge eines Berichts, für die sich so viele entschuldigen, ist bei mir ein Problem. Das Problem liegt in der Absatzlosigkeit und fehlender übersichtlicher Formatierung.

Weil: wenn ich - was beim Lesen normal ist und zumindest bei mir am Monitor häufiger vorkommt als bei Papier - kurze "Verschnaufpausen" mache, die Augen kurz schweifen lasse, dann finde ich den Punkt nicht wieder. Ständig lese ich Sätze entweder doppelt oder verpasse einen Satz, muss zurücksuchen ...

Es bringt eine gewisse Atemlosigkeit mit sich, wenn keine Absätze vorhanden sind oder andere "Aufhänger" für Augen und Hirn: Schriftarten, Farben ... irgendwas eben, dass diesen scheinbar massiven Wortblock, dessen Anblick abschreckt, gliedert, auflockert. Das einlädt, reinzulesen.

Ich habe das jetzt hier zufällig hingeschrieben. Aufgefallen ist es mir schon oft. Meist klicke ich dann eben einfach wieder weg. Wenn man ohnehin nicht alles lesen kann, spielen solche Kriterien der Auswahl eine große Rolle. Es gibt auch andere wie Locktitel, Erwartungshaltung, Bekanntheitsgrad des Laufes oder des Schreibers etc. Manchmal hat man einfach auch etwas mehr Zeit und nix anderes zu tun.

Wie gesagt: der Roman hätte jeden treffen können :zwinker4: Er trifft dich, weil mir erstens gerade danach ist und weil ich zweitens zukünftig weiterhin deine Berichte lesen möchte - mir dabei aber eine schönere Formatierung wünsche :D


Egoistische Grüße

:hallo: Lizzy

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Hallo Lizzy,
Lizzy hat geschrieben:Du stellst dir diese Klassiker-Frage aber verdammt früh :P Somit hattest du Zeit genug, vielleicht auch eine Antwort zu finden? Verrätst du sie? :wink:
Da triffst du einen Punkt: im Titel steht eine Frage, die ich im Bericht nicht beantworte. Als ich den Bericht schrieb, war für mich dieses Gefühl des "Unwirklichen" immer noch nicht ganz verflogen. :nick: Dieses surreale Gefühl während des Laufs - irgendwie kann ich es jetzt noch fühlen.

Du frägst nach der Antwort. Mit dem Abstand von einer Woche lautet meine Antwort: "ich gönne mir ein ganz einmaliges Erlebnis und genieße es, auch wenn es so ganz anders ist als ich es mir vorgestellt habe." - Und: geil war's! :D

Und ich gelobe Besserung bei der Textgestaltung meiner Laufberichte! :hallo:

Gruß
Ralph
Gesperrt

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