auf besonderen Wunsch zweier besonders netter Damen und weil es noch gar keinen Bericht vom Münster-Marathon gibt, dürft Ihr mal in meinem Tagebuch lesen.
Viel Spaß,
oLi
Münster, 09.09.2007
Liebes Marathon-Tagebuch,
heute war ich in Münster. Du weißt nicht, wie Münster aussieht? Ich ehrlich gesagt auch nicht. Auch nicht nach 42,195km durch Münster und um Münster herum. Eigentlich wusste ich schon nach zwei Kilometern nicht mehr, wo ich bin und hatte Angst, einen Drehwurm zu bekommen.
[INDENT]Erste Randnotiz für Dich: Münster an sich ist schon winkelig. Die Marathonstrecke ist noch winkeliger.[/INDENT]Glücklicherweise kennen die Münsteraner dieses Problem und geben den Marathonis gleich Pacemaker als Stadtführer mit. Meine Stadtführer bieten die 3:15Std. Rundum-Sorglos-Tour an und starten pünktlich um 9:00 Uhr aus dem blauen Block.
Liebes Tagebuch, was war ich aufgeregt, als ich auf meiner Startnummer keinen blauen, sondern einen gelben Punkt entdeckte. Soll meine Führung vier Stunden dauern? So lange bin ich doch noch nie in meinem Leben gelaufen, das kann ich gar nicht! Brauche ich aber auch nicht, denn die Münsteraner sehen die Startaufstellung sehr locker.
[INDENT]Zweite Randnotiz: In Münster findet keine wirkliche Kontrolle der Zugänge zu den Startblöcken statt.[/INDENT]Einige Helfer heben sogar das Absperrband hoch, wenn jemand von einem Block in den anderen wechseln will. Na, dann kann’s ja los gehen: Musik einschalten, Kopf ausschalten, los laufen!
Tagebuch, kennst Du Pacemaker? Heute laufe ich das erste Mal mit Pacemakern und merke schnell: Pacemaker sind wie Phantome. Kaum lässt man sie für einen Moment aus den Augen, schon sind sie verschwunden. Obwohl ich beim Start nur wenige Schritte hinter ihnen stehe, sehe ich nach 500 Metern nur noch ihre Luftballons weit vor mir schweben. Oh je, was sind die fix! Da schau ich doch mal auf meine eigene Uhr. Hey, die laufen ja immer 5-6 Sekunden pro Kilometer zu schnell. Und das auch noch auf der Strecke durch die Innenstadt, wo das eine oder andere Bordsteinspringen noch zusätzlich Kraft kostet.Ja wissen die denn nicht, dass das für mich bösen ende kann? Da halte ich lieber nicht mit und lass sie ziehen.
[INDENT]Dritte Randnotiz: Pacemaker haben kein Problem, die Zielzeit zu erreichen, weil sie den Marathon locker 15-30 Minuten schneller laufen könnten. Immer dran denken: Du kannst es nicht.
Km 1-5: 4:33 – 4:42 – 4:31 – 4:39 – 4:28 = 22:53min, Endzeit: 03:13:07Std., Puls: 85,5%HfMax[/INDENT]
Au weia, Tagebuch, der Puls düst jetzt schon auf über 85%HfMax, wie soll das denn gut gehen? Lieber mal Tempo raus nehmen. Nach zwei kurzen Schlenkern durch den Norden und den Süden von Münster City geht es wieder durch die Altstadt, diesmal ausgiebig über Kopfsteinpflaster. Nette kleine Puppenstube, dieses Münster. Und reichlich Zuschauer gibt es auch. Gefällt mir. Ist nur unangenehm zu laufen. Mittlerweile sind wir einmal im Kreis gerannt und fast wieder am Startpunkt angekommen.[INDENT]Vierte Randnotiz: Eigentlich reicht auch ein 10-Kilometer-Lauf, um das Schönste von Münster zu sehen.
Km 6-10: 4:33 – 4:42 (Pipi) – 4:27 – 4:40 – 4:40 = 23:02min, Endzeit: 3:13:45 Std., Puls: 87,1% HfMax[/INDENT]
Tagebuch, diese Pacer sind so erbarmungslos! Nicht nur, dass sie zu schnell rennen, sie stoppen auch nicht an den Verpflegungsstellen. Sie halten auch nicht zum Pipi machen. So wie ich. Und sollte tatsächlich einer von Ihnen mal in die Büsche, läuft der andere unbeirrt weiter. Gemeinheit! So hechel ich ihnen hinterher, mit Rückenwind den Aasee runter, mit Gegenwind den Aasee hoch.
Am Friedhof setzt Nieselregel ein und der Zufallsgenerator des MP3-Players spielt „Time To Say Goodbye". Sarah Brightman, Du hässliche englische Wachtel, Dich wollte ich doch erst im Ziel hören. Halt die Klappe, es ist noch viel zu früh zum Sterben!
[INDENT]Fünfte Randnotiz: Der Zentralfriedhof von Münster wird bei Km 14 und Km 40 umrundet. Die Robert-Koch-Straße ist deswegen bis 14:30 Uhr abgeriegelt. Dort nicht wieder parken.
Km 11-15: 4:26 – 4:45 – 4:33 – 4:33 – 4:35 = 22:52min., Endzeit: 3:13:29 Std., Puls: 87,0% HfMax[/INDENT]
Eigentlich, Mara-Tagebuch, sind die äußeren Bedingungen recht gut: 16°C, viele Wolken, ein wenig Wind, ein wenig Regen. Das könnte so bleiben – tut es aber nicht. Mehr Wind, mehr Regen, und das auf freier Strecke, denn inzwischen laufen wir außerhalb von Münster. Meinen Pacemakern macht das natürlich nix aus. Ihren Schäfchen schon, einige fallen langsam zurück. So finde ich zumindest etwas Windschatten und lerne die Läufer kennen, die mich die nächsten 20-25 Kilometer begleiten werden, mal vor mir, mal hinter mir. Aber jetzt, auf dem Weg nach Nienberge (für westfälische Flachländer: Nien-BERG-e, für bayerische Bergbuam: NIE ‘n Berg, ey!) schwächeln wir alle. Ich verliere 25 Sekunden und laufe meinen langsamsten 5-Kilometer-Abschnitt.
[INDENT]Sechste Randnotiz: Die neue Streckenführung in Münster ersetzt den früheren Anstieg nach Roxel durch den Anstieg nach Nienberge.
Km 16-20: 4:38 – 4:39 – 4:44 – 4:29 – 4:47 = 23:17min., Endzeit: 3:14:14 Std., Puls: 87,2% HfMax[/INDENT]
So, Büchlein, jetzt hab ich nach 1:37:17Std. die Hälfte geschafft, laufe auf irgendeiner Brücke über die A1 und frage mich, was das jetzt mit Münster zu tun hat. Aus dem Münster-Stadtmarathon ist ein Nienberge- Dorfmarathon geworden. Na gut, das Dorf hat mächtig aufgefahren: Eine große Sambagruppe, viele jubelnde Zuschauer, verkleidete Stelzenläufer, Cheerleader.
Und wir haben offensichtlich den höchsten Punkt der Strecke erreicht. Noch einmal am Ortsausgang die B54 überqueren, dann geht es ziemlich eben weiter über Land. Nachdem der Regen als belebendes Element wieder aufgehört hat, werden wir jetzt von olfaktorischen (Hallo FrauSchmitt!) Genüssen heimgesucht: Es stinkt nach Gülle! Den Zuschauern an den Bauernhöfen rufe ich zu: „Ihr seid ja so tapfer!", aber den Hinter(n)sinn haben sie bestimmt nicht verstanden.
[INDENT]Siebte Randnotiz: 100 Olf! Der Münster-Marathon kann ganz schön stinken!
Km 21-25: 4:35 – 4:32 – 4:26 – 4:31 – 4:35 = 22:39min., Endzeit: 3:13:37 Std., Puls: 88,2% HfMax[/INDENT]
Weiter geht die Landpartie, drei Kilometer einfach nur geradeaus und flach. Das Tempo stimmt, der Puls bleibt konstant, der Abstand zu den Pacemakern auch. Endlich mal keinen Durchhänger zwischen Kilometer 25 und 30.
Roxel! Das war das Schreckenswort / der Schreckensort des Münster-Marathons bisher. Aber jetzt laufen wir doch nur von von dort bergab, oder? Pustekuchen, vor dem Ortseingang geht es erst einmal einen Kilometer aufwärts. Gute Stimmung auch in Roxel, aber wieder zehn Kurven eng hintereinander.
[INDENT]Km 26-30: 4:33 – 4:31 – 4:35 – 4:47 – 4:31 = 22:57min., Endzeit: 3:13:38 Std., Puls: 88,0% HfMax[/INDENT]
Sag mir, mein Tagebuch, erlebe ich jetzt bei km30 den gleichen Kick wie beim Frankfurt-Marathon letztes Jahr? Ab jetzt einfach Gas geben bis ins Ziel? Nein, sagst Du, zu früh? Ich soll auf Sicherheit laufen und keinen Einbruch riskieren? Na gut. Die schnellen Abwärtskilometer nehm ich natürlich mit, aber danach geht es auch wieder bergauf... und bergab... und bergauf...[INDENT]Achte Randnotiz: Der Münster-Marathon hat keine nennenswerten Steigungen. Nur einige winzige Wellen...
Km 31-35: 4:29 – 4:16 – 4:42 – 4:29 – 4:49 = 22:45min., Endzeit: 3:13:24 Std., Puls: 88,4% HfMax[/INDENT]
So, meine lieben Pacemaker, langsam wird es Zeit, Euch näher kennenzulernen. Tapfer hab ich jede Getränkeaufnahme im Laufschritt passiert, hab mit Powergels jongliert und mir meine eklige salzige Isolösung in den Rachen und daneben geschüttet, nur um Euch nicht zu verlieren. Noch ein paar Sekunden zulegen, dann hab ich Euch.
Aber was ist das? Ich schwächele, mir wird ein wenig übel. Das letzte Powergel mit Cassis-Glibber schmeckte schon so bitter, will es jetzt wieder raus? Was hilft? Ruhe, tief atmen, was trinken. Tagebuch, sofort notieren:
[INDENT]Neunte Randnotiz: Die Verpflegung, insbesondere mit Getränken, ist in Münster vorbildlich. Nach Kilometer 10 gibt es ca. alle 2,5km mindestens eine Wasserstelle[/INDENT]
Bei km 38 greife ich also zu... Cola. Hat damals beim Frankfurt-Marathon auch geholfen. Tagebuch, weißt Du eigentlich, wie schlimm verschüttete Cola die nicht abgeklebten Brustwarzen verätzt? Schmeeerz!!! Aber der weckt mich aus meiner Schwächephase wieder auf: Ran an die Pacer, ran![INDENT]Km 36-40: 4:34 – 4:30 – 4:42 – 4:39 – 4:33 = 22:58min., Endzeit: 3:13:27 Std., Puls: 88,2% HfMax[/INDENT]Haha, jetzt hab ich Euch! Bis hierhin war Kindergeburtstag, aber jetzt können Eure Schäfchen mal meine Hacken sehen! Ähhh, wo sind sie denn, die Schäfchen? Diese miesen Pacer! Haben bis km 38 Tempo gemacht und lassen es jetzt austrudeln. Deshalb konnte ich sie auch so leicht einholen. Die Schäfchen hoppeln schon voraus, in dem sicheren Wissen, dass sie die 3:15 Std. im Sack haben. Einer der Pacemaker schaut sich um und ruft mir zu: „Da vorne sind fünf Leute, da kannst Du noch Plätze gutmachen!".
Und als wäre das das Signal, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe, starte ich meinen Endspurt und hab die fünf ratz-fatz eingeholt. Ich hör schon die Musik der Live-Band, irgendwas Abba-mäßiges, seh schon das rote aufgeblasene Tor und renne darauf zu. Warum steht da nicht „Ziel", wieso geht es nach dem Tor noch weiter? Mist, wir sind ja erst bei km 41.
Abbremsen wär jetzt aber auch blöd, ich bin gerade so schön in Schwung. Da vorne sind noch zwei Läufer, die darum bitten, überholt zu werden. Und den Staffelläufer hol ich mir auch noch. Wieder laufe ich auf eine große Bühne zu, wieder ist es nicht das Ziel, sondern es kommt noch eine Kurve. Auf den letzten Metern spüre ich auch wieder das Kopfsteinpflaster der Altstadt durch meine Schuhe hindurch, aber ich bin jetzt im Rausch und beschleunige weiter.
Tagi, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie auf einmal die Beine von selbst laufen, wie sie fliegen und ihr Rhythmus wie ein Trommelwirbel immer schneller wird. Kann der Marathon nicht noch einen Kilometer länger sein, ich will jetzt nicht aufhören!
Da hocken die Fotografen und ich recke beide Arme locker zum Victory-Zeichen hoch. Letzte Linkskurve und in 50 Metern Entfernung steht das Tor mit den erlösenden vier Buchstaben. Nochmal Fotografen und diesmal mach ich auf dynamisch.
[INDENT]Zehnte Randnotiz: Schöner Zieleinlauf in Münster, aber erst kurz vorher zu erkennen. Die letzten Meter geht es leicht bergauf, wie mir später berichtet wurde.
Km 41-42,195: 4:17 – 4:02 – 1:30 = 9:49min., Endzeit: 3:13:12 Std., Puls: 90,9% HfMax
1. Hälfte in 1:37:17Std., 2. Hälfte in 1:35:55Std.[/INDENT]
Mein liebes Marathon-Tagebuch, jetzt weißt Du, wie es in Münster beim Marathon zugeht. Ob ich nächstes Jahr wieder etwas darüber in Dich schreibe? Ich glaube eher nicht. Die Streckenführung in der Stadt ist ziemlich wirr, die Überlandpartien sind etwas einsam und stinkig und auch dort wird man ein wenig im Kreis herumgeführt. Aber notier Dir auch die vielen begeisterten Zuschauer, die freundlichen Helfer, die vielen Verpflegungs- und Musikpunkte, die Massagestation, die heißen Duschen und das Funktions-Finishershirt. Das alles für 25 Euro, das gibt es wohl nur in Münster.
Und für mich gibt es dort auch das Allerschönste: Eine neue Bestzeit und das zum ersten Mal mit einem negativen Split.
Aber das behälst Du bitte für Dich, mein liebes Tagebuch. Ist ja für andere nicht wichtig. Nur für mich.
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