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von Nobby
Angesichts einiger hier geposteter Beiträge, die ich heute nach der Rückkehr aus Chicago zum Teil mit Stirnrunzeln gelesen habe, möchte ich als Teilnehmer mal meinen Senf dazugeben.
Der Chicago-Marathon war für mich eine besondere Erfahrung, weil hier viele Extreme aufeinanderprallten. Da war zum einen die Hitze, die ich so noch nie bei einem Wettkampf erlebt habe (ich habe gegen Mittag ein Außenthermometer gesehen mit 94 Grad Fahrenheit, das sind 34,5 Grad Celsius). Dazu kam eine Luftfeuchtigkeit für von jemand aus unseren Breiten wirklich ungewohnten 85 Prozent. Andererseits war der Lauf bis zum Startschuss bestens organisiert, das galt schon für die Marathon-Messe mit Startunterlagenausgabe, bei der es keine nennenswerten Wartezeiten gab. Und von den Leuten an der Strecke geht eine Begeisterung aus, die zumindest New-York-Niveau hat. Wobei es in Chicago keine menschenleeren Abschnitte gegeben hat wie in NY 2005 (nur darauf kann ich mich beziehen).
Und dann kam natürlich die kontrovers diskutierte "Cancel"-Entscheidung hinzu, aufgrund derer im Nachgang schon die Olympiachancen Chicagos für 2016 angezweifelt worden sind. Aus meiner Sicht blieb den Veranstaltern gar keine andere Entscheidung übrig; dass sie sich nun auf die in den USA übliche Klagewelle einstellen dürfen, ist eine andere Seite.
Dass das Wetter schier unerträglich war, konnte man schon den Zeiten der Besten entnehmen. 2:11 für den Sieger auf dem normalerweise sehr schnellen Kurs, 2:16 für Mehrfach-Gewinner Cheruiyot als Vierten: Das sagt schon viel. Die wahren Leiden spielten sich aber hinten im Feld ab. Da für Chicago keine Quali-Zeiten verlangt werden, starten hier Jahr für Jahr überdurchschnittlich viele Einsteiger; dass es drüben immer mehr zum guten Ton zu gehören scheint, unbedingt einen Marathon absolviert zu haben, trägt ein Übriges zur Problematik gerade an einem solchen Tag bei. Wer bei vier Stunden immer noch nicht die Hälfte hinter sich gebracht hat, der gehört rausgenommen! Gerade bei diesen Bedingungen, zu denen am "Ende" des Feldes auch noch Wassernotstand und Becherengpässe kamen (viele nahmen an den Stationen drei oder vier Becher, auch um sich damit gewisse Kühlung zu verschaffen). Die Letzten bissen dann offenbar die Hunde, denn es konnte dem Hörensagen und Zeitungsveröffentlichungen nach nicht schnell genug Nachschub herangeschafft werden. Aus meiner Sicht war die Versorgung okay; im Übrigens gab es, ein Novum für so einen Marathon in den USA, sogar an mehreren Stellen Bananen. Und viele Zuschauer versuchten zu helfen, wo sie helfen konnten: Manche hatten Eiswürfel herangeschafft, andere spritzten mit Wasserschläuchen, wieder andere reichten Süßigkeiten, nach denen den wenigsten der Sinn stand. Aber allein die Geste!
Ich habe viele Leute richtig, richtig leiden sehen. Und mir ging es auch nicht wesentlich anders, obwohl ich (wenn auch kein Profi wie dieser und jener meiner "Vorschreiber" hier) kein Neuling bin. Meine Trainingswerte hätten bei "normalen" Bedingungen eine Zeit um die 3:45 erwarten lassen. So aber war bei mir schon zur HM-Marke (knapp über 2 Std.) im wahrsten Sinne die Luft raus. Extrem hohe Pulswerte, allgemeines Unwohlsein bei der extremen Hitze schon am frühen Vormittag, dazu die Eindrücke am Streckenrand von Läufern, die medizinisch behandelt werden mussten: Das alles haut ziemlich rein in Psyche und Physis. Ich hatte ernsthaft erwogen, nach 21 Kilometern auszusteigen.
Stattdessen habe ich mich dann aber fürs Weitermachen unter touristischen Gesichtspunkten entschieden (meine Digitalkamera hatte ich in weiser Voraussícht der Ereignisse dabei). Das war eine ganz neue Lauferfahrung, auch wenn Gehen im Wechsel mit Laufen sicher nicht das Gelbe vom Ei ist. Aber wann kommt so eine Gelegenheit, einen derartigen Marathon selbst in Bildern festzuhalten, noch mal? Deswegen schäme ich mich meiner miserablen Zeit (4:56) auch nicht mehr, nachdem der erste große Frust vorüber ist.
Um noch ein paar Fakten zu nennen, die möglicherweise auch hier geäußerte Vorurteile revidieren können. Gemeldet waren 45 000 Starter, gestartet sind 35 867, ins Ziel kamen 24 933. Der Tod des 35 Jahre alten Polizisten, der seinen ersten Marathon laufen wollte, geht auf einen Herzfehler zurück, das ergab laut Zeitungsberichten die Obduktion. 195 Läufer wurden am 7. Oktober im Krankenhaus versorgt. 90 Minuten nach dem Start betrug die Temperatur schon 87 Grad Fahrenheit (fast 31 Grad). Wer noch nicht wusste, wie das ist, in der Sauna zu laufen und in Chicago dabei war, der hat jetzt eine Ahnung davon.
23.6.03 10 km Hannover, Kanallauf (1. 10er) 51:53
19.9.04 HM Hiddestorf (1. HM) 1:59:00
6.11.05 NY (1. Marathon) 4:04:01
24.9.06 Berlin-Marathon 4:13:41
7.10.07 Chicago-(Hitze)-Marathon 4:56:56
27.4.08 Hamburg-Mar. 3:51:57
1.11.09 NY-Mar. 3:55:25
28.3.10 HM Berlin 1:33:11 (PB)
18.4.10 Wien-Marathon 3:33:57 (PB)
25.6.10 10 km Eilenriede 41:16 (PB)
14.11.10 5 km Lönspark 19:52 (PB)
18.4.11 Boston-Marathon (Startnr. 13 325) krank!
22.4.12 London-Marathon (Startnr. 56434) verletzt!
7.4.13 HM Berlin 1:37:41
5.5.13 Hannover-Marathon 3:49:14