Der Wagen rollt über die Autobahn und ich weiß gar nicht genau, zum wievielten Male ich Bianka erzähle, wie schlecht mir ist und das ich ein Ziehen im rechten Oberschenkel habe. Und das es viel zu weit ist und das ich doch bescheuert bin und überhaupt. Und wo das zweite Paar Autoschlüssel für den Notfall ist und das ich hier die Karte von der Strecke habe und sie mal schauen soll, wo sie mich einsammeln kann, jenseits der Marathonmarke, nachdem sie selbst den Halbmarathon gefinisht hat.
Ich glaube, sie hat es an diesem Tage nicht leicht mit mir, denn wir werten so nebenbei unseren Schlaubetal-Marathon aus und nach jedem dritten Satz kommt von mir wieder ein „Ach Du Sch****e, was hab ich denn vor...“
Als wir dann endlich 650 km von der Heimat entfernt in das Sportzentrum Hackenberg kommen, schnappe ich mir mit äußerlich festem Blick und innerlichem Sturm im Wasserglas oder besser in der Magengegend solch einen Zettel zur Anmeldung für.... ja, für eine Sechstausender-Startnummer. Das sind die „blau hinterlegten“, die, zu denen ich bisher auf Veranstaltungen wie dem Rennsteiglauf ehrfurchtsvoll aufgeschaut hatte. Und dann halte ich selbst so ein Teil in der Hand, ebenso ehrfuchtsvoll wie demütig schaue ich dieses Riesending von Startnummer an, das mich morgen auf einem (für meine Begriffe) Riesending von Lauf begleiten soll. Ich fass es nicht und Bianka muß wieder herhalten für mein „Ach Du Sch... „
Nach ein bischen Carboloaden, zwei Weizenbier und weiteren „Ach Du Sch***e“ und „Stell Dir mal vor, das geht doch gar nicht... „ sowie „nimm Dir den Plan mit, damit Du weißt, wo Du mich einsammeln muß, bis zur nächsten Ortschaft werd ich mich schon schleppen...“ schläft es sich gut unter dem Dach der Jugendherberge Solingen. Um 5 Uhr schlage ich die Augen auf „Ach Du Sch***e... heute ist es nun soweit, heute trag ich die blaue Startnummer spazieren. Mir ist gar nicht gut. Nee, auch nicht, als ich in der Turnhalle erfreut Mattin, Sarah, redcap the hero, Anne und Tess treffe. Aber ich tue wenigstens cool, mit der blauen Nummer muß man das doch, oder? Nur glaubt es mir warscheinlich keiner.
Dann fällt auch schon der Startschuß... „Ach du Sch***e“ – es geht los, 63,3 Kilometer ist der Weg lang, den ich laufen will, ich freu mich auf die Erfahrung, die ich noch nicht habe, ich freu mich wie blöde auf alles was nach Kilometer 51 kommt, ja ich freu mich auf die Qualen, die ich erahne, kann man wirklich so verrückt sein? Goethe fällt mir ein. Wieso fällt mir Goethe ein? Das tut er sonst nie.
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen
Du mußt herrschen und gewinnen
Aber irgendwie gefallen mir diese Zeilen, die sich in meinem Kopf festbeißen, liegt es an der leicht mittelalterlichen Kulisse des Ortes Remscheid Lennep, liegt es an der Vergänglichkeit der Natur, die uns das Herbstlaub an diesem Morgen verkündet? Ich weiß es nicht, ich weiß nur eins: Ich laufe. Frei, ich laufe frei, ich bin frei, kein Zeitziel (na ja, kein zwingendes). Ich spüre eine Leichtigkeit in den Beinen, laufe langsam, ganz langsam, treffe auf JunkieOlli und Ralf-Charly, laufe ein Weilchen mit ihnen, es macht Spaß, so mit voller Luft zu plaudern, irgendwann hab ich sie jedoch verloren. Aber das macht mir nichts, ich genieße einfach die Natur, die Luft, die Ruhe und den Lärm, all die Gegensätze, die dieser Lauf zu bieten hat. Alle Anspannung ist wie davongeflogen, ich laufe einfach die Kilometer fliegen dahin und irgendwann sagt einer vor mir: Nur noch 52... Wie? Bin ich jetzt schon 11 Kilometer gelaufen? Was? Ich bin erst 11 Kilometer gelaufen! Und jetzt noch 52??? Aber mir tun doch jetzt schon meine Beine weh, so ein Ziehen in den Oberschenkeln, ein Brennen unter der Fußsohle links, ein Schmerz in der rechten Hüfte... Was ist das denn jetzt? Nach 11 Kilometern?
Da ist er wieder, der Johann Wolfgang:
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen
oder dienen und verlieren,
Du mußt herrschen und gewinnen
oder dienen und verlieren,
Als ich wieder aufwache, stehe ich etwa 7 Kilometer weiter an einem steilen Berg, nein, ich stehe nicht, ich laufe, aber keiner läuft hier mehr, also gönne ich mir auch eine Gehpause. Und bin wieder dabei. Keine Schmerzen mehr, kein Brennen, kein Ziehen, alles ist gut.
Ich treffe auf zwei Mitbewohner der Jugendherberge, wir kommen ins Plaudern, während wir gemütlich die Landschaft genießen, es ist einfach wunderschön. Am Halbmarathonziel wird kräftig gefeiert, Bianka ist sicher schon lange im Ziel und für uns geht es nun ersteinmal wieder bergauf. So mag ich das. Ich habe mich ordentlich ausgebremst während des ersten Drittels, es ging mehr bergab als bergauf und weil sich das im zweiten Drittel etwas ändern sollte, will ich es auch dabei belassen. Ich bin verdammt gespannt auf Kilometer 32, meine persönliche Halbzeit, wie werde ich es empfinden, jetzt noch einmal fast so viel laufen zu müssen? Als ich den ersehnten und gefürchteten Punkt erreiche, geht es mir wahnsinnig gut, nichts tut mir weh, jede Menge Energie, ich habe einfach Spaß. Mache hier und da ein paar Fotos, treffe interessante Menschen auf der Strecke, laß mich vor der größten Eisenbahnbrücke Deutschlands fotografieren, laß mir von Oben in die Laufweste gucken... na ja, von Hinten, weil ein freundlicher Läufer die Marke derer wissen wollte... begegne einem Läufer, ja Läufer mit Stöcken, erfahre, daß er bei einem Unfall seinen Gleichgewichtssinn verloren hat und die Stöcke deshalb braucht, er jetzt einen Spendenlauf macht, 5000 Euro für 63 Kilometer – das ist toll. Es ist eine Freude, hier zu laufen und der Röntgenweg bietet auf diesem zweiten Drittel sein schönstes Antlitz. In dieser puren Freude treffe ich auf Sarah, der es leider gar nicht so gut geht. Ein bischen laufen wir noch zusammen, sie gibt mir noch ein paar unglaublich wertvolle Worte mit auf den Weg und dann trennen wir uns.
„Noch 1 Kilometer“ steht auf einem Schild, das ist für die Marathonis, das ist heute nicht für mich bestimmt. Alle, die hier ins Ziel laufen werden wunderbar gebürend gefeiert, ich laufe einfach so vorbei, ich hatte befürchtet, das dies eine Zerreißprobe wird, wird es aber nicht, stolz trage ich meine blaue Nummer weiter in den Kilometer 43 hinein. Mein gleichmäßes Tempo konnte ich trotz einiger Höhenmeter mehr halten. Ein bischen mit anderen Läufern plaudern, Garmin-Werte vergleichen, aber immer laufend geht es wieder in den Wald. Jetzt wird es richtig steil, gehen ist angesagt und für mich nun der Zeitpunkt, die Gehpause zu nutzen um meinen Mp3-Player scharf zu machen. Den hatte ich mir als Belohnung für das letzte Drittel aufgespart. Die Musik strömt nicht nur in meine Ohren, sie strömt in meinen ganzen Körper und ich beginne Gas zu geben. Jetzt darf ich endlich, jetzt mag ich mich nicht mehr zurückhalten, auch wenn es noch einmal ein paar Höhenmeter mehr hinauf, als hinab gehen wird. Da sehe ich in der Ferne zwei Läufer, deren Kleidung mir von Fotos aus dem Schlaubetal-Marathon bekannt vorkommt. Na klar, das müssen sie sein: Bettina und Andreas aus Berlin. Ich nehme die Kopfhörer wieder aus den Ohren, lege einen kleine Spurt ein, ich sage ihnen, woher ich sie kenne und die Freude ist so richtig groß. Es macht Spaß, ein Stück mit den Beiden unterwegs zu sein und Bettina und Andreas, solltet Ihr das hier lesen: „Herzliche Grüße nach Berlin und sorry, daß ich dann auf einmal so schnell weg war.“
AndreasD steht plötzlich vor mir, fragt mich nach meinem Befinden. Ich freue mich, auch ihn hier zu treffen, und nach meinem Befinden frage ich mich plötzlich auch. Gut, sage ich ihm, sehr gut. "Na los, Du schaffst noch unter 7..." meint er und schon hab ich meine Musik wieder in den Ohren und bin auf und davon. Ich überhole nur noch, hab einen Heidenspaß daran, genieße die Kilometerschilder mit den Aufschriften 55 – 60... Nur meine Fußsohlen beginnen etwas zu brennen, die letzten drei/vier Kilometer wollen dann doch irgendwie nicht so richtig enden... Noch ein letzter Anstieg, ich will eigentlich jetzt nicht mehr gehen, aber die Power ist reicht für diesen Berg nun doch nicht mehr aus. Macht auch nichts, nur noch da hoch und dann geht es hinunter, das Ziel ist in Sicht und ganz nah.
Was genieße ich diese letzten Meter nun. Da steht Anne vor dem Zieltor, Arme hoch, pure Freude, Piep über die Matte, Bianka dahinter, jetzt brauch ich nicht mehr jammern, nach 06:54:50 und 63,3 Kilometern habe ich es geschafft.
Ein paar Berge hätten es mehr sein dürfen, dann hätte ich legitme Gehpausen einlegen können, so aber ging das nicht... Das geht in Ordnung, ich bin glücklich, stolz und um die Erfahrung reicher, daß über alles, was wir imstande sind zu tun, unser Kopf entscheidet. Ich habe diesen Lauf nicht leichter und nicht schwerer als einen Marathon empfunden, die Relationen haben sich lediglich etwas verschoben. Ich bin beeindruckt von diesem Erlebnis, es gibt mir unglaublich viel, ich habe auf Röntgens Spuren viel über mich selbst und Andere erfahren, und irgendwie hat sich bestätigt, was ich eigentlich schon immer wußte: Es geht immer irgendwie weiter, denn:
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen
oder dienen und verlieren,
leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein!
Du mußt herrschen und gewinnen
oder dienen und verlieren,
leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein!
Danke Johann Wolfgang, daß Du mein Begleiter warst, auf Dreiundsechzigtausenddreihundert Metern durch Berge und Wald um Remscheid.
Ein paar Zahlen, auf die ich schon ein wenig stolz bin:
1.Halbmarathon:
+ 351 HM
- 467 HM
Durchgangszeit: 02:17:11
2.Halbmarathon:
+ 437 HM
- 404 HM
Durchgangszeit: 02:21:21
3.Halbmarathon:
+ 321 HM
- 229 HM
Durchgangszeit: 02:16:17
Und hier noch ein paar Fotos: >KLICK<