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Noch ein später Stuttgart-Bericht

Noch ein später Stuttgart-Bericht

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Start. Es knallt nicht, ich merke es nur daran, dass die Menschenmasse, in der ich eingepfercht stehe, sich irgendwann langsam in Bewegung setzt. Wo anders als auf der Benzstraße soll gestartet werden, wenn ein Halbmarathon in Stuttgart stattfindet? Wir legen aber nur einige Meter auf der Benzstraße zurück, um dann auf die Mercedesstraße einzubiegen. Wie stilecht. Von der Straße selbst sieht man allerdings nicht viel, denn der Blick entdeckt nur Läufer, Läufer, Läufer, Hunderte und Tausende von Läufern, in deren Mitte ich mich bewege.

Es sind zwei Faktoren, die diesen meinen Lauf dominieren werden: Die große Masse an Läufern, und die Hitze. In der ersten Hälfte des Laufs kostet mich vor allem das Laufen in der beengenden Situation in der Menge Kraft. Hin- und herlaufen, Lücke suchen, antreten, abbremsen, ab und zu mal ein paar schnellere Schritte auf einem Bordstein laufen, keine Lücke sehen, warten, ... zu einem flüssigen Rhythmus finde ich nicht. Zu unterschiedlich sind bei diesem riesigen Starterfeld die Geschwindigkeiten, auch wenn es verschiedene Startblöcke gibt. Schon bevor es in den ersten Tunnel geht, spielen meine Schweißporen das Niagara-Spiel, und bei jeder der glücklicherweise regelmäßig auftauchenden Wasserstellen unterstütze ich sie durch Güsse aus den angebotenen Bechern.

Die Strecke kurvt in die Innenstadt und verläuft teilweise in einem recht schmalen Korridor mit scharfen Richtungswechseln. Es ist unglaublich warm. Ich nehme die Umgebung nur am Rande wahr, weil ich mich nach wie vor darauf konzentrieren muss, ordentlich in der Menge mitzulaufen. Später, beim Anschauen der Fotos vom Lauf auf der Internetseite, werde ich mich bei manchen Motiven fragen, wo die bloß aufgenommen worden sind. Bin ich tatsächlich da auch vorbei gekommen? – Auch die Hitze lässt meine Wahrnehmungsfähigkeit wohl einschrumpfen. Allerdings, der Anblick eines Läufers in langer, grellbunter Leggins (vermutlich der selbe Läufer, den Runtime Joe in seinem Bericht erwähnt hat) erstaunt mich und reißt mich kurz aus meinem dumpfen Brüten. Es ist heiß.

Dann kommt man an der Villa Berg vorbei. Hier befindet sich, wie der pfiffige Leser vielleicht auch vermuten kann, der größte Anstieg im Profil des Laufs. Danach geht es leicht bergab in den Stuttgarter Osten und zum Ortsteil Wangen. Nach der "Passhöhe" sehe ich zum ersten Mal die Sanitäter im Einsatz, die sich um Hitzeopfer kümmern. Ich bin jemand, dem Hitze schon ohne körperliche Anstrengung zu schaffen macht, und so beschließe ich, nicht nur so zu laufen, dass ich nicht zusammenklappe, sondern so, dass ich nicht mal in die Nähe der Gefahr des Kollabierens gerate. Das heißt: Nicht mehr drücken, sondern mittraben. Sich treiben lassen. Wasserstellen nutzen. Ich will doch so gerne ins Stadion einlaufen, nicht spazierengehen und nicht abbrechen müssen und schon gar nicht umkippen. Und so schalte ich auf Traben um. Und siehe da, jetzt stören mich auf einmal die vielen Läufer nicht mehr in meinem Rhythmus. Es liegt wohl auch daran, dass sich das Feld doch etwas auseinanderzieht und auch die Straßen nun wieder relativ breit sind, aber sicher auch an meinem nun defensiven Laufverhalten.

Hässlich ist es hier in Wangen, hässlich und heiß. Außer den Läufern ist kein Mensch zu sehen. Aber zugegeben, ich würde ja auch nicht an diese heiße Straße im Gewerbegebiet stehen, um verrückten und erschöpften Hobbysportlern zuzujubeln. Es geht nun auf einer breiten Brücke über den Neckar, und dann in entgegengesetzter Richtung zurück. Untertürkheim, Bad Cannstatt. Wenn ich wollte, könnte ich hier gut überholen, die Straße ist zwar hässlich, aber breit, und die Läuferschlange bewegt sich vor allem auf einer Seite. Ich will aber nicht. Die Beine fühlen sich zwar noch ganz gut an, aber die leichten Kopfschmerzen ermahnen mich, meine Zurückhaltung auch auf den letzten Kilometern nicht aufzugeben. Immer häufiger sieht man hier auf den letzten Kilometern kollabierte Läufer (alle unter der Obhut von Sanitätern) und hört das Martinshorn. Ich fühle mich mit meiner zurückhaltenden Taktik ganz gut und weiß, dass ich durchhalten werde.

Noch zwei verwirrende Schleifen, Über- und Unterführungen, in Cannstatt, und dann geht es endlich in Richtung Stadion. Endspurt? Nein, um Sekunden oder Minuten geht es mir schon lange nicht mehr. Nun genieße ich das Einlaufen durch das niedrige Tor in die große Schüssel hinein, auf die grüne Laufbahn, über die Zielmatte. Erleichtert schlendere ich zur Medaillenausgabe und treffe kurz darauf auf Foxi, der als 1:55-Pacemaker ganz pünktlich und fast 10 min vor mir eingetroffen ist. Dann hole ich mir was zu trinken und gehe auf den heiligen Rasen, wo ich am ausgemachten Treffpunkt meinen Bruder treffe. Wir waren vom Start aus lange gemeinsam unterwegs gewesen, bis ich auf Sicherheitsmodus umgeschaltet hatte. Nun ist er seit fünf Minuten schon da, und wir strecken uns verdientermaßen und genüsslich auf dem Rasen aus, auf dem sonst meine VfB-Helden grätschen, zaubern, schwitzen und spucken.

Grüße von Mitsch

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Herzlichen Glückwunsch zum Finish :daumen: !

Dein Entschluß, alle Zeitambitionen über Bord zu werfen und auf das Ziel "gesund ankommen" umzuschalten war bei den Bedingungen goldrichtig. So konntest Du einen schönen Bericht über diesen Hitzelauf schreiben. Vielen Dank!

Gruß
Ralph

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@Mitsch,

:danke: für Deinen schönen Bericht und nochmals herzlichen Glückwunsch zu Deinem besonnenen Lauf! :daumen:
Ich habe in der zweiten Hälfte ganz schön geflucht, so unter dem Diktat des Fahrplans zu stehen, aber das ist eben das Los der Pacemaker... War schön, dass Du mich im Stadion angesprochen hast, ich hätte Dich wohl sonst in dem Gewusel nicht gesehen.

Ich hoffe, Du bist inzwischen soweit erholt, dass Du zu neuen Taten aufbrechen kannst. :hallo:
Nicht die Erkenntnis gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrtum. (F. Nietzsche)

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Uaaaah, noch so ein Laufbericht, der mir beim blossen Lesen vor lauter Mitgefühl den Schweiss aus allen Poren treibt. Das Umschalten auf Sicherheitsmodus war sicher die richtige Entscheidung. Für mich sind alle, die bei derartigen Temperaturen noch Wettkämpfe laufen einfach Helden.
Was mich allerdings doch noch interessieren täte: Hast du nun den Schwamm mitgenommen und schön brav in die dafür vorgesehenen Eimer getunkt und dich so mit dem Schweiss aller vorhergehenden Läufer besudelt? (ein für mich als Schweizerin natürlich absolut furchtbarer Gedanke) :zwinker4:

Grüessli, Marianne

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Hallo Marianne,

nein, das waren einfach nicht meine Temperaturen. Ich hab mir den Schwamm aber trotzdem gar nicht erst mitgenommen. Das brachte ich nicht über mich, da bin ich im Herzen Schweizer :wink: . Aber ich habe mir unterwegs dann mal dieses System angeschaut: Es standen jeweils viele Wasserbottiche zum Eintunken da, und sie wurden tatsächlich ständig mit frischem Wasser nachgefüllt. Also ich schätze, die tatsächliche Fremdschweißkonzentration wäre nicht sehr hoch gewesen … mit war es trotzdem lieber, an den Stationen jeweils mehrere Wasserbecher über meinen dampfenden Leib zu kippen.

Ich glaube, schwanger zu sein ist bei solchen Temperaturen auch nicht wesentlich angenehmer als Halbmarathon zu laufen, oder?

Grüße von Mitsch
Gesperrt

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