Es gibt Dinge, die macht man einfach nicht – Passanten mit Sahnetorten bewerfen, aus fahrenden Zügen springen, im Sommer im Pelzmantel auf die Arbeit gehen. Diese Tabus werden von den meisten Menschen geteilt.
Beim Laufen kann man da auch geteilter Meinung sein. Für meine Frau ist es völlig unverständlich, wie man über 3 Stunden am Stück durch die Gegend rennen kann. Und auch die meisten meiner Bekannten haben so überhaupt kein Verständnis für körperliche Betätigung, die über 30 Minuten hinausgeht.
Und auch Läufer sind gespalten. Denn einige meiner Bekannten sind auch (Gelegenheits)Läufer. Wenn ich von Marathon rede heben sie noch bewundernd die Augenbraue, alles darüber hinaus löst auch bei ihnen Unverständnis aus.
Und jetzt bin auch ich an die Grenzen meines Verständnisses gekommen – bei mir selbst. 6 Stunden durchlaufen – krank genug. Im Kreis – noch schlimmer. Auf einer etwa 1 km Runde – Kerl, du bist doch komplett verrückt, du hast sie doch nicht mehr alle, du bist doch echt des Wahnsinns fette Beute!
Ich, der tierisch genervt ist, wenn er seine Lalalas über 3 Runden in der Stadt laufen muss. Der Marathons nicht mag, wenn sie zwei identische Runden haben. Und jetzt? Jetzt stehe ich am Start des 6-Stundenlaufes von Waldhessen und will auf einer 1145 Meter langen Runde durch den Rotenburger Schlosspark 6 Stunden, oder 360 Minuten oder 216000 Sekunden am Stück laufen! Da drehst du doch durch!
Und die Woche bis hierhin hatte es schon in sich: Von Dienstag bis zum Samstag habe ich in keiner Nacht mehr als 5 Stunden Schlaf bekommen (Arbeit, Sohnemann krank,...) und auch heute musste ich um 4 Uhr aufstehen, um pünktlich am Start zu sein. Um 7 Uhr habe ich Jörg aufgegabelt und mitgenommen, kurz nach 8 sind wir im Schlosspark, wo sich die 12 Stundenläufer und die 100-Kilometler noch schwer von der Nacht gezeichnet ihres Weges schleppen. Ich schwanke zwischen Bewunderung, Heldenverehrung und ganz viel Mitleid. Eines steht für mich fest – egal wie das heute bei den sechs Stunden läuft: So was mache ich nie mit!
Ich lerne noch einige Foris kennen (ihr ward echt ein Highlight des Tages, hat mich echt gefreut!!!) und dann geht es Punkt 10 Uhr auch schon los. Auf den ersten 2 Runden herrscht noch relative Enge, dann zieht sich das Feld auseinander. Die Strecke ist leicht beschrieben: Kreuz und quer durch den Rotenburger Schlosspark, immer in Schlangelinien, der Wegführung entlang, ein kleines Stückchen an der Fulda, dann eine kleine Rampe hoch (die ich am Anfang noch nicht mal bemerkt habe, das hat sich im Laufe der Stunden aber geändert... Ines, wo waren deine Steigeisen???), am Schloss vorbei, eine andere rampe runter und zurück zum Start, vorbei an der Zeiterfassung und der tollen Verpflegung. (NUTELLABROTE! Es gab tatsächlich NUTELLABROTE!!! Vergesst alle Gels, Riegel und sonst was, mehr braucht ein Ultraläufer nicht!!! ).
So, da lief ich also. Das Wetter war optimal, leicht dunstig, nicht zu warm, trocken. Einfach toll!
Lange habe ich überlegt, welche Ziele ich mir für diesen Lauf stecken soll. Ein erstes ist schnell gefunden: Ich möchte die 6 Stunden durchlaufen (Gehpausen zur Versorgung, und Stehpausen zur Entsorgung sind erlaubt). Dann wäre es toll, die 60 Kilometermarke zu knacken. Und wenn es ganz toll läuft, möchte ich 62 Km schaffen. Das glaube ich aber nicht...
Ich habe bisher als meine Stärke immer die gute Renneinteilung erlebt. Ich bin noch nie eingebrochen, bin bisher die zweite Hälfte immer schneller gelaufen als die erste, egal auf welcher Distanz. Und so bin ich mal ganz entspannt auf eine Geschwindigkeit von 5:48 min/km angelaufen und habe dieses Tempo auch nach etwa 30 Minuten immer sehr regelmäßig getroffen.
Was mir allerdings echt zu denken gegeben hat: die ersten drei Stunden bin ich dauernd überholt und überrundet worden. Und auch Leute, die ihr Ziel mit 50 Km + angegeben hatten, waren immer weit vor mir. Da habe ich echt an mir gezweifelt.
Das änderte sich allerdings schlagartig nach der Halbzeit (die ich mit einem lauten Freudenschrei begrüßt habe, was mir auch von den Mitläufern etwas irritierte Blicke eingebracht hat...). Von hier an wurde ich nur noch 4 Mal überrundet (davon 3 Mal vom späteren Sieger) und kein einziges Mal mehr überholt. Ich habe es geschafft, durchzulaufen, und nicht nur das: Ich bin in der 2. Hälfte 2 Kilometer mehr gelaufen als in der ersten, in der 6. Stunde hat sich mein Tempo auf 5:30-5:35 gesteigert. Ich muss zugeben, dass ich darauf schon ein bisschen stolz bin...
Denn ab Stunde 4 begann das muntere überrunden. Ich konnte zu manchen Läufern, die mich schon 3 oder mehrmals überrundet hatten, wieder aufschließen und ihnen sogar noch die eine oder andere Runde abnehmen. Immer wieder habe ich mir vorgebetet: Das ist ein 6-Stunden-LAUF, also lauf gefälligst! Und es hat geklappt!
Was für mich das Sahnehäubchen war: Es gab im Zelt der Zeiterfassung ein Board, in dem die jeweils aktuellen 6 ersten Plätze nach Männlein und Weiblein getrennt aufgelistet waren. Ich bin es gewohnt, in den Ergebnislisten auf Rang 2539 oder so aufzutauchen. Und dann – stand da auf einmal mein Name auf Rang 6!!! Unglaublich. Ich habe mich gefreut wie ein kleines Kind! Eine halbe Stunde später tauchte er dann auf Rang 5 auf, dann stieg ich sogar noch auf den 4. Platz. Kurz geschielt: kann ich platz 3 noch schaffe? Ne, das sind im Moment 4 Runden mehr als ich, das geht nicht mehr. (Am Ende hatte ich noch ca. 600 Meter Rückstand auf Platz 3). Letztendlich ist es ja echt wurscht, welchen Platz man belegt, aber es war schon ein tolles Gefühl – ein Sahnehäubchen eben!
Wie aber ging es mir denn während der 6 Stunden? Das tolle ist: Ich hatte keine Schmerzen. Weder in der Hüfte, noch in den Knien. Klar, meine Beine haben jeden Kilometer gespürt, aber das waren „normale“ Ermüdungszeichen. Das hat mich echt gefreut. Einen kleinen Hänger hatte ich nach 3,5 Stunden, da wollte die Zeit nicht so recht vergehen. Komischer weise war die letzte Viertelstunde die härteste. Ich hatte gedacht, dass die 6. Stunde nur noch ein „Heimlaufen“ ist, war sie auch, aber die letzten 15 Minuten haben echt weh getan, das war das einzige Stück, in dem ich mich echt quälen musste! Aber das war dann auch noch ok!
Zwei Lehren ziehe ich aus diesem Lauf:
1. Meine Entscheidung Ultra zu laufen war Gold richtig. Das hat so Spaß gemacht und da ist auch echt noch was drin! Stundenläufe scheinen echt Spaß zu machen, das sollte man unbedingt wiederholen.
2. Ich wusste schon vorher, dass Rechnen und Laufen nicht zusammenpasst. Darum habe ich das gar nicht erst versucht. Auch Rundenzählen war mir nicht möglich. Keine Chance. Ich habe das schnell aufgegeben und mich ganz auf die tollen Rundenzähler verlassen.
Aber die neue Erkenntnis ist: Auch normales Denken wird mit zunehmender lLnge immer mehr unmöglich. Ich wollte alle 15 Minuten trinken. Aber bereits ca. 200 Meter nach der Verpflegungsstelle konnte ich mich nicht mehr erinnern ob ich jetzt schon getrunken hatte oder ob ich das erst noch tun wollte – und das ist mir nicht nur einmal passiert...
Ach ja, mein Ergebnis möchte ich nicht unerwähnt lassen: Mit 62,775 Kilometern habe ich alle Ziele erreicht, 4. Platz der Gesamtklasse, AK M 20 1. Platz (zum ersten Mal! :pokal
Hauptunterschied eines Rundenlaufes zu einer „normalen“ Veranstaltung: Die Zeit und Möglichkeit mit allen möglichen Menschen ins Gespräch zu kommen – und nicht nur mit denen meines „Kalibers“ Das war echt geil! Die Schnellen immer wieder vorbeiflitzen sehen, mit den langsameren immer wieder ein paar Worte zu wechseln – das war echt toll! Das ist ein Flair, das ich noch nirgendwo anders erlebt und sehr genossen habe!
Ach ja, habe ich am Anfang des Berichtes einen Satz mit dem Wörtchen „nie“ geschrieben? Nach dieser Premiere spukt schon die Zahl „12“ in meinem Kopf umher... mal sehen...
Danke fürs durchhalten, liebe Grüße
nachtzeche
Des Wahnsinns fette Beute - nachtzeche dreht durch!
1"Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden!" (Die Bibel, Jesaja 40,31)