Gratwanderung?
Kommt das von Wandern?
Fragen wir mal das Wörterbuch: „Als Gratwanderung wird umgangssprachlich eine Situation bezeichnet, bei der man zwei gegensätzliche Aspekte hat, die gleichzeitig zu berücksichtigen sind. Man bewegt sich "auf einem schmalem Grat", der kein Abweichen nach links oder rechts zulässt.“
Und was hat das nun bitte mit einem Halbmarathon zu tun?
Ganz einfach:
Situation = Halbmarathon am 16.05.2009 in Bad Waldsee
Zwei gegensätzliche Aspekte:
Man sucht sich eine Zielzeit, sagen wir mal 1:49:xx.
1. zu berücksichtigender Aspekt = Zielzeit 1:49:xx, pace = 5:12 min/km funktioniert
2. zu berücksichtigender Aspekt = Zielzeit irgendeine andere, pace auch sonst eine
Der schmale Grat:
Abweichung nach links = es passt alles und man landet bei 1:49:xx im Ziel
Abweichung nach rechts = es passt nicht und man landet irgendwann im Ziel (oder auch nicht).
Und warum lässt man sich auf so etwas ein?
Weil man heiß ist auf einen Wettkampf, weil man zig km gelaufen ist, weil man sich auf eine neue PB freut. Weil ich es unbedingt wollte.
Aber natürlich wusste ich auch, dass es verdammt eng wird.
Ich bin dieses Jahr viele km gelaufen, habe nach Plan strukturiert trainiert, mich kontinuierlich gesteigert, ein paar kleinere krankheitsbedingte Rückschläge weggesteckt usw.
Und ich bekam immer wieder die Bestätigung bei den ZZZ (Zielzeitzweifler): du schaffst das!
Aber wie lautet mein Standardzielzeitzweiflerspruch: „selbst wenn ich 5:10 beim IV-Training mit 4x3000m, 3x3000m und 4x2000m gepackt habe, heißt es noch lange nicht, dass ich das auch auf 21,1km am Stück, ohne Trabpausen schaffen kann.“
Und nun zurück zur Situation, Halbmarathon am 16.05.2009 in Bad Waldsee:
Samstag, 16.05.2009, 9:00 Uhr.
Es ist soweit. Es ist Wettkampftag. Habe prima geschlafen. Frühstück, 2 Tassen Kaffee, 3 Schokobrötchen. Tasche packen und alles noch mal kontrollieren. Klamotten, Schuhe, CEP’s, etc. Marschtabelle, FR305 usw. Tasche gepackt.
Und jetzt werde ich doch nervös. Komisch. Aber okay, ich wusste es. Es wird eine Gratwanderung. Und Nervosität gehört dazu, das gibt dir am Start noch den letzten Kick!
Und ich bin nicht alleine am Start, hatte meinen erprobten pacemaker und bodyguard Micha dabei, sowie Helmut, unseren Terminator (siehe http://www.schoddrhaufa.de).
Wir waren rechtzeitig vor Ort. Ich kannte die Veranstaltung schon vom letzten Jahr. Alles kein Problem. Unterlagen abholen, umziehen und ab Richtung Start. Die Marathonis waren schon auf dem Weg. Wir haben noch den Start der Kinderläufe angeschaut. Wie auch im letzten Jahr eine super Stimmung im Start-/Zielbereich.
Warmlaufen ist angesagt. Und dann zurück zum Startbereich.
Oha… ziemlich voll auf den Platz. Laut Veranstalter etwa 720 HM-Starter. Kein Problem, bei der Netto-Zeitnahme. Dann rollen wir das Feld von hinten auf. Wir bleiben also ganz hinten.
14:00 Uhr Startschuss… los geht’s. Das Feld von hinten aufrollen geht schon. Zumindest da, wo genügend Platz ist. Nicht jedoch in den engen Gassen von Bad Waldsee. Mist, hätte ich noch von letztem Jahr wissen müssen. Es ging gleich um den Stadtsee rum. Auch nur ein schmaler Weg. Überholen war nicht so einfach. Immer wieder links vorbei, rechts vorbei usw.
Keine Vorwürfe an andere Läufer. Selber Schuld, wenn man sich ganz hinten anstellt. Zum Glück sind Micha und Helmut sooooo groß, dass ich sie nicht aus den Augen verlieren kann. Und Micha’s weißes Kopftuch erkennt man auch gut. (Im Nachhinein war der 1.km mit 5:39 viel zu langsam)
Das Feld ist noch ziemlich dicht...Blick auf die Uhr, sieht gut aus. Nach etwa 4km geht es aus der Stadt raus, das Feld lichtet sich. Zeit, die Angaben auf dem FR mit dem km-Schild und der gelaufenen Zeit zu vergleichen. Soll: 20:49, Ist: 21:04. Nach dem langsamen 1.km waren es dann 5:09, 5:08, 5:09. Das passt dann wieder. Ich war immer noch dicht an Micha dran. Aber Helmut? Wo ist Helmut? Aha... Terminator hat seinen Motor in Gang gebracht und ist uns davon gelaufen.
Nun ging es durch einen Wald. Hier kamen schon die Marathonis auf dem Rückweg entgegen. Und ich hab auch Martin (redapricot) vorbeiflitzen sehen. Nicht schlecht hab ich gedacht, der ist mal richtig flott unterwegs (er war AK45 Sieger mit 3:11, wie ich später mitbekommen habe). Wieder ein Blick auf die Uhr nach 6km. FR305 zeigt noch ziemlich genau an. Soll 31:13, Ist 31:39, hmm... Zeit verloren, 30sec. Micha hat gemein, keine Panik, wir schauen wie es bei km10 aussieht. Wir haben das Waldstück hinter uns und nun merkt man doch, dass es deutlich wärmer geworden ist. Von wegen 15°C und leichter Regen. Es waren > 20°C! Egal.
Super Bad Waldseer Lauffieber: Top Verpflegungsstellen. An jeder Stelle genügend Wasser, die Becher halbvoll. Habe mir meistens 2 Becher geschnappt, aus einem getrunken, der 2. ging gleich über den Kopf und am Ende der Verpflegungsstelle gab es nasse Schwämme. SUPER!
Ich weiß jetzt nicht mehr, wie viele Verpflegungsstellen es insgesamt waren, aber ich habe an jeder angehalten und Wasser + Schwamm genommen. Ob es wirklich immer notwendig war, weiß ich nicht mehr. In dem Moment wohl schon. So sind sicher auch ein paar Sekunden vergangen.
In dieser Zeit hab ich Micha immer vor mir, er hat sich mit einer jungen Läuferin unterhalten, ich konnte direkt mit aufschließen und auch ein paar Worte sagen. Sie wollte 1:49 laufen. War also bei uns genau richtig. Sie hatte keinerlei Marschtabelle, FR oder sonstiges technisches Gerät dabei. Sie hat nur ab und zu mal nach der Zeit gefragt. So verging km um km.
Nach 10km war mal wieder Kontrolle angesagt. Soll 52:02, Ist 52:45. Mist, das ist schon ziemlich viel... wird eng mit den 1:49.
Nächster km war auch nur 5:22. Und dann kam ausgerechnet ein leichter aber stetiger Anstieg von km 11 bis km 12. Wieder 20 sec verloren, 5:32 für diesen km. Verdammt!
Jetzt ging es durch ein Dorf. Gute Stimmung... und tatsächlich richtige Cheerleader. Das muss doch motivieren und noch mal pushen!!!??? Nee, nicht wirklich... Wieder raus aus dem Dorf, Kontrolle der Marschtabelle nach 14km. Soll 1:12:51, Ist: 1:14:50. Das war’s... Auf Wiedersehen 1:49.
Das geht nicht mehr. 2min aufholen. Unmöglich. Ach verdammt... Warum? Wie kann man in 4km nur so viel Zeit verlieren. (Im Nachhinein hab ich gerade mal 5:32 auf diesen km gehabt. Warum? Ich weiß es nicht genau. Die Beine konnten noch, hatte jedoch Probleme mit dem Atmen bekommen, leichtes Ziehen links unter den Rippen. Das nette Mädchen war schon längst weg... Micha war vor mir. Weit vor mir, aber immer noch in Sichtweite. Ich wollte aufschließen, aber es ging nicht. Nicht so schnell. Micha hat sich zu mir umgedreht, lief rückwärts weiter, er wollte wissen ob es noch geht. Weiß gar nicht mehr was ich für Gesten gemacht habe. Es ging schon... nur nicht so wie ich wollte. Nach 16km hab ich ihn dann erreicht. Das Atmen fiel mir schwer. Inzwischen waren es knapp 3 min Rückstand. Unaufholbar. Irgendwie hab ich mich dann einfach aufgegeben. 
Auch Micha ging es jetzt nicht mehr so gut. Er hat gemeint so schwere Beine hatte er noch nie. Klar, schließlich hat er sich überhaupt nicht auf diesen Lauf vorbereitet. Nach 18km sagte er, das war sein längster Lauf in diesem Jahr.
18km, wieder hab ich versucht FR, km-Schild und Uhr zu vergleichen. Auch das fiel mir schwer... die Ziffern auf der Marschtabelle waren sehr klein geworden und verschwommen. Nach 18km hätte die Zeit 1:33:40 sein sollen. Tatsächlich waren aber schon 1:37:08 vergangen. Oh je... und jetzt der Schock: auf einmal stimmte auch die km Angabe des FR nicht mehr mit der km-Beschilderung überein. Ich war noch langsamer unterwegs als ich dachte. Ich laufe neben Micha her. Ich hab wohl bis km 19 gebraucht um auszurechnen welche Zeit noch möglich ist. Dabei wurde ich immer noch langsamer, 5:49! Panik, voll die Panik... wenn ich so weiterlaufe komme ich nicht mal mit einer neuen Bestzeit ins Ziel. 1:43 und noch 2,1km zu laufen... Verdammt... echt jetzt voll die Panik.
Und auf einmal ging noch mal so ein Ruck durch mich. Jetzt oder nie. Genug gelitten, Markus, komm reiß dich zusammen. Nur noch 2,1km! Gib jetzt noch mal alles. Willst du schlechter sein als letztes Jahr im Herbst? Dann hättest du nicht trainieren brauchen... Verdammt, reiß dich zusammen und gib Gas.
Und es ging. Irgendwie ging es. Ich konnte wieder ein bisschen Zeit aufholen. Micha war hinter mir. Nicht weit... ich laufe jetzt nur noch, hab den einen oder anderen überholt. Wir sind wieder in der Stadt, Publikum, Jubel. Das liebe ich, das brauche ich.
Irgendwann um 20,5km noch mal einen Blick zurück zu Micha. Es waren nun doch einige Meter zwischen uns. Wieder Grübeln. Verdammt was soll ich machen? Auf Micha warten? Weiterlaufen? Er war nicht weit hinter mir. Wieviel Zeit würde ich verlieren, wenn ich warte bis er wieder aufgeschlossen hat.
Verdammt... laufen und denken auf einmal ist gar nicht so einfach. Ich bin hin- und hergerissen. Warte ich auf Micha, der die ganze Zeit vor mir gelaufen ist? Und jetzt bin ich 50-70m vor ihm. Verflucht was soll ich tun? Die Uhr läuft weiter... und ich auch. Ich habe keine Entscheidung getroffen, ich hatte keine Zeit eine Entscheidung zu treffen. Es ging alles so schnell, das letzte Schild 21km, kein Blick mehr auf die Uhr nur noch laufen, nur unter 1:55 bleiben. Endspurt, Zuschauer jubeln, ich gebe wirklich alles. Da ist die Ziellinie.
Geschafft! 1:54:42 Kurz durchatmen. Micha ist auch da. 1:54:59. Ich klopfe ihm auf die Schulter.
Verdammt bin ich am Ende... das war knapp. Verdammt knapp. Ich freue mich, ich habe es geschafft unter 1:55 im Ziel anzukommen. Neue PB ist geschafft.
ABER: warum hab ich nicht auf Micha gewartet? 1:54:59 hätte doch auch gereicht. (Auch wenn wir die exakte Nettozeit erst später auf den Ergebnislisten gesehen haben).
Ganz ehrlich ich hab mich in diesem Moment ziemlich beschissen gefühlt. War ich egoistisch? Ja, war ich! Aber ich wollte doch wenigstens die PB erreichen, wenn schon das große Ziel 1:49 total daneben ging.
Micha, ich hoffe, ich habe es richtig gemacht.
Und da tauch Helmut auf, mit 3 Erdinger alkoholfrei. Wir grinsen, wir sind zufrieden. Helmuts Zeit war bei 1:47:xx. Super, Terminator!
Und da ist auch das Mädel wieder. Sie hatte keine Ahnung in welcher Zeit sie gefinished hatte, weil sie keine Uhr dabei hatte. Hoffentlich hat sie die 1:49 gepackt.
Die Stimmung war super, das Bier war lecker. Wir waren gut drauf. Sind dann ein bisschen weiter gelaufen und wollten uns den Start des 10km Rennens anschauen. Auf einmal war die Sonne willkommen. Wir saßen auf einer Treppe und haben unseren Spaß gehabt die vorbeilaufenden Marathonis, Halbmarathonis und 10km-Läufer anzufeuern!
Irgendwann sind wir dann unsere Urkunden abholen gegangen und erschöpft aber glücklich nach Hause gefahren.
Fazit:
Neue PB in 1:54:42
Zielzeit nicht erreicht
Eine tolle Veranstaltung
Um noch mal auf die Gratwanderung zurückzukommen: In diesem Fall bin ich wohl auf der Gratwanderung nach rechts abgebogen. Es hat nicht gepasst und ich bin irgendwann ins Ziel gekommen.
Das bedeutet bei der nächsten Gratwanderung: einfach links abbiegen
Jetzt muss ich langsam zum Schluss kommen...
Zuhause angekommen wusste ich immer noch nicht, ob ich mich wirklich so richtig freuen konnte. Aber spätestens als mich Michi mit offenen Armen empfangen hat und gemeint hat: „ich bin stolz auf dich“, da war ich es auch.
Es gelingt nicht immer alles, was man sich vornimmt. Aber es gibt noch viele Gelegenheiten besser zu werden.
Vielen Dank an alle, die an mich geglaubt haben und mich unterstützt haben.
Vielen Dank für’s Lesen.
Markus
PS: Hat eigentlich jemand gezählt, wie oft ich das Wort "verdammt" geschrieben habe?
