Die erste Jahreshälfte 2009 stand ganz im Zeichen des Ultras. 4 Stück bin ich gelaufen, habe mich etliche lange, einsame Kilometer durch das Erzgebirge gequält, habe die langen Strecken genossen und viiiiel Spaß gehabt.
Warum? Eine ehrliche Antwort muss lauten: aus Feigheit. Aus Feigheit vor dem Tempo. 10 Kilometer, Halbmarathon – das sind Sprintdistanzen, die weh tun. Die muss man ja schnell laufen. Ekelhaft.
Und der Marathon...? Auch „Sprintdistanz“? Klar, ich bin mittlerweile so fit, dass ich zu (fast) jeder Zeit einen Marathon gemütlich unter 4 Stunden laufen kann. Das ist schön. Aber: Da muss doch mehr gehen. Was ist deine Grenze, was den Marathon angeht? Was ist da drin? was kannst du laufen? diese Frage bohrte. Sie bohrte gewaltig...
Bestandsaufnahme: Meine Bestzeit im Marathon stammt aus diesem Jahr: 3:52:irgendwas, gelaufen beim Parkhausmarathon in Dresden. 47 Mal ein Parkhaus hoch und runter, 680 Höhenmeter, einfach so aus ohne spezifisches Training gelaufen.
Also, worauf trainieren? 3:30? Müsste ich drauf haben? 3:15? Eher nicht. Also treffen wir uns (fast) in der Mitte: 3:20. Ich wählte den Trainingsplan auf 3:15 von Steffny und modifizierte ihn ein wenig. Nach der ersten Woche definierte ich neu: Ich will den Marathon in Dresden in 3:1x laufen. X wahrscheinlich gleich 7 oder 8.
Die Vorbereitung lief ordentlich, aber bei weitem nicht optimal. Fast genau zu beginn der 10 Wochen wurde meine Tochter geboren, da vielen so einige Trainingseinheiten weg. Ich „opferte“ vor allem die langen Läufe, da ich hoffte, das die Grundlage da ist und konzentrierte mich aufs Tempo. Hier konnte ich, bis auf den Halbmarathontest, alle Einheiten absolvieren.
Und so war es dann so weit. Pünktlich zum 18. Oktober stand ich kurz vor 10 am Start des Dresden-Marathons – und fror gewaltig! 3 Grad, Regen, und ich stand in kurzem T-Shirt und kurzer Hose da – und war mit dieser Kleiderwahl ziemlich allein auf weiter Flur. aber egal, lieber frieren als vor Hitze eingehen.
Da stand ich nun und grübelte. 4:40 pro Kilometer wolle ich angehen. Das ist leicht zu rechnen und erschien mir auch machbar. Dann wäre ich in für mich immer noch unvorstellbaren 3:17 im Ziel. Wahnsinn. 42 Kilometer laufen ist ja kein Thema. Aber 42 Kilometer so schnell zu laufen... ich sollte später am eigenen Leib das erfahren, was der Titel sagt: kürzere Strecken können einem schnell gelaufen viiiiel länger vorkommen...
Es knallt, es geht los. Ich schiebe mich durch die Massen und versuche frei zu kommen. Es ist eng, obwohl ich so weit vorne stand wie noch nie. Ich laufe zickzack, muss oft ausweichen.
Mein großes Problem im Training war, das richtige Tempo zu finden. Die Intervalle im MRT bin ich immer zu schnell angelaufen. Das musste heute anders werden. Erster Kilometer: 4:48. Passt. Bei der Enge.... Ich freue mich, dass ich das Tempo treffe und laufe genau so weiter. Kilometer 2: 4:34. HÄH??? Logisch: Wenn ich nach 200 Metern quasi gehen noch auf 4:48 komme, dann muss ich zu schnell sein... also Tempo raus!
Die ersten Kilometer fliegen dahin, bei Km 5 bin ich genau 3 Sekunden langsamer als im Plan. perfekt!
Das Tempo fühlt sich locker-leicht an, Atmung ist total entspannt, ich kann quatschen und lachen, mit den Zuschauern und Streckenposten schäkern – so kann es weiter gehen. Wobei ich schon merke, dass die Beine mehr zu tun haben als mein Kreislaufapparat – wenn ich heute Probleme bekomme, dann mit meiner Muskulatur. Aber noch ist ja alles gut!
Die Strecke führt quer durch Dresden – so quer, dass ich sogar in der 2. runde noch ein paar Mal die Orientierung verliere. Immer wieder gibt es Aha-Momente: „Ach so, HIER sind wir jetzt!!!“. Alles in allem ist die Strecke schön zu laufen, nur die Brückenanstiege (insgesamt 6 an der Zahl) und die nassen Straßenbahnschienen sind tückisch und kosten Kraft. Zuschauer sind kaum welche da, was wohl auch sehr am Wetter liegt. Diejenigen, die sich trotz dieses Mistwetters an die Strecke gewagt haben verdienen meinen tiefsten Respekt. Aber alles in allem war in Dresden Tote Hose – was mich allerdings nicht sonderlich störte.
Bei Kilometer 10 bin ich eine Sekunde schneller als geplant. Super. Und es fühlt sich auch alles noch total locker an. Ich nehme zwar jede Kilometerzeit, aber die Zahlen finden den Weg in mein Gehirn nicht, ich bin nicht mehr in der Lage, sie zu interpretieren. Das wird später noch gravierende Auswirkungen haben...
Zwei Dinge haben mich sehr geärgert, und zwar an meinen Mitläufern. Jeder, mit dem ich geredet habe während des Laufs meinte irgendwann: „...aber ich habe ja eigentlich gar nicht trainiert...“ Hallo, bin ich hier der einzige Hansel, der sich ordentlich vorbereitet hat? Bestimmt nicht! aber diese Form des Understatement halte ich für arrogant und überheblich! wenn man sich vorbereitet hat sollte man auch dazu stehen!
Und: Ich kann die Herangehensweise von vielen Läufern an so ein Rennen nicht verstehen. Wir hatten gerade Kilometer 10 in 46:39 passiert, da meinte mein Mitläufer auf die Frage nach seinem Ziel: „Ich habe ja gar nicht trainiert (klar!), aber so 3:40 sollten es schon werden!“ 3:40? Du läufst gerade stramm auf die 3:17 zu – warum stapelst du so tief oder warum rennst du so viel zu schnell los? Kann ich immer nicht ganz nachvollziehen...
Aber der Ärger war bald vergessen. Kilometer 15 ist erreicht – und der erste Schreck ist da: Ich liege auf einmal 1:10 unter meinem Zeitziel. Ich bin viel zu schnell! Ich horche in mich hinein – wie geht es mir? Gut. Passt alles. Habe auch nicht das Gefühl, schneller geworden zu sein. Also, weiter so, gehen wir mal ein kleines Risiko ein!
Die Kilometer fliegen dahin, bei Kilometer 20 vergesse ich die Zwischenzeit zu nehmen, aber es kommt ja bald die HM-Matte. Meine PB im HM steht bei 1:39:36, genau eine Minute schneller wollte ich heute hier durch. Es piept, ich schaue auf die Uhr – und traue meinen Augen nicht. 1:37:30. Wahnsinn. Das mal 2: 3:15. Mann, wäre das geil. Aber leider muss ich ja auch noch mal genau so schnell die selbe Strecke laufen... und merke: Kürzer ist schneller länger!
Denn: Meine Beine fühlen sich nicht mehr ganz so frisch an. War es bisher ohne Steuerung möglich, das Tempo zu halten, liefen die Beine bisher von alleine dieses Tempo, muss ich mich jetzt immer wieder mal ermahnen, nicht langsamer zu werden. Leichte Zweifel kommen in mir hoch. Zum ersten Mal verzockt?
Bei km 23 stolpere ich fast über einen knieenden Läufer. Der erst mit Krämpfen? Arme Sau! aber. weiter!
Einen km später überholt mich besagter Läufer wieder. Ich frage nach ob alles in Ordnung sei. Er antwortet: Sorry, English only! Und was nun folgt, war der Dialog mit einem Geschenk des Himmels. Jackson ist ein Ami, der gerade seinen Onkel hier in der Gegend besucht. Auf den Marathon hat er sich eigentlich gar nicht vorbereitet (klar!), und er liebt Deutschland. Es entspinnt sich ein Gespräch, ich kratze all mein Schulenglisch zusammen (gar nicht so leicht bei einem Lauf am Limit) und wir laufen fast das gesamte Rennen gemeinsam. Am Anfang quasseln wir durch, gegen ende wird es immer ruhiger. Aber: wir werden schneller. Viel schneller. Kaum ein Kilometer mehr unter 4:37, und ich merke es kaum. Wir sind so ins Gespräch vertieft, dass ich die Kilometerschilder 26 und 27 komplett übersehe.
Nr. 28 entdecke ich wieder. Ich rechne nach: Die letzten 2 Km bin ich im Schnitt mit 4:31 gelaufen. Au backe. Tempo raus? Ne, dann zieht mein Ami weiter. Speed halten: Dann breche ich ein. Ich muss an Schrambo denken: „Irgendwann haben die Beine die Schnauze zu halten!“ Gut. Also weiter so.
Ab Kilometer 30 versiegen unsere Gespräche fast gänzlich. Nur noch kurze Aufmunterungen wie „Nur noch 10 Kilometer“ „Weniger als eine Stunde“. Mehr ist nicht mehr drin.
Ich bin am Limit. Ich zittere vor jedem Kilometerschild. Breche ich jetzt ein? Wenn die Pace jetzt langsamer wird, kann ich nichts mehr dagegen tun. Da ist nichts mehr, was ich zulegen könnte. Der Kampf beginnt. Aber: die Pace bricht nicht ein. Die Kilometerschnitte pendeln so zwischen 4:35 und 4:42. Also völlig ok.
Die Atmung wird unruhiger. Eine Vierschritt-Atmung kann ich nicht mehr halten. Ich keuche teilweise mehr als ich atme. Die Beine werden schwer. Ich hatte noch nie einen Krampf beim Laufen. aber da... das zwickt in der rechten Wade, sie wird hart... und entspannt sich wieder. Ich drehe durch. Was mache ich jetzt? Rausnehmen? Dehnen? Ne, volles Risiko. Weiter. Nur weiter. Kämpfen!
Kerle, du hast dich nicht all die Kilometer durch die Nacht gequält, um jetzt aufzugeben. Also, weiter! Ich mag nicht mehr! Mir doch egal ob du noch willst. Hat hier irgendjemand gesagt, dass ein schneller Marathon spaß macht? Also, weiter rennen. Ich habe noch nie aufgegeben,. ich bin noch nie eingebrochen, und ich habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen. Jetzt ist gar nichts mehr entspannt an mir: Weder Atmung, noch Laufstil, noch Gesichtszüge. Zuschauer und Streckenposten bekommen nur noch ein gequältes Lächelt und einen Daumen von mir. Mehr geht nicht mehr. Die Beine brennen, sie tun weh, sie zwicken, die Waden jetzt an 2 Stellen! Scheiße, ich will heim! Klappe halten, weiter rennen!
Bei Km 37 signalisiert Jackson mir, dass er noch ein schnelles Finish will und anzieht. Ich winke ihm zu, soll er machen. Ich kann nicht folgen. Scheiße. Über 20 Minuten alleine laufen. Das Feld ist sehr dünn hier, und wenn ich Läufer sehe, sammle ich sie ein. (das hat mir sehr geholfen. Ab Km 30 bin ich noch genau 1 Mal überholt worden, habe selber aber sicher 40 Läufer noch geholt. Das war klasse!)
Als Jackson 10 Meter weg ist, packt mich der Ehrgeiz! Hinter her! Keine Kraft mehr? Egal. Ich will anziehen – komme aber nicht mehr ran. Was ich auch mache, er kommt nicht mehr näher. Ich verliere ihn zwar nie ganz aus den Augen, aber er läuft ca. 30 bis 40 Meter weg. Schade. Also doch alleine beißen!
Welche Zeit ist drin? Ich kann nicht mehr denken. Die Kilometerschilder stimmen ja nicht, da sind ja immer noch x km PLUS 195 Meter zu laufen. Und das überfordert mich total. Aber da, eine zweite Sorte Kilometerschilder: Die der 10 k Läufer. Kilometer 7 . Also noch genau 3 Bis ins Ziel. Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich 4:40 /km laufe, habe ich einen Puffer von... 1 Sekunde auf die... 3:15! WAAAAAAH wie geil! Leckt mich, das lass ich mir nicht mehr nehmen. Ich gebe alles. Ich fliege.
Kurz vor Km 40 läuft auf einmal Jackson neben mir. Ich grinse ihn an, schrei Let’s GO! Und ziehe vorbei. Er versucht mitzugehen, muss nach 50 Metern abreißen lassen. Ich renne weiter. Sammle Läufer um Läufer. Ich kann nicht mehr. Scheiß egal. Da, Km8. Noch zwei. Puffer: 15 Sekunden. GEIL! Nicht nachlassen. Runter von der Augustusbrücke, Spurt, gib alles. Mir tut alles weh. Ich könnte heulen, kotzen, möchte sterben. aber gleichzeitig fühle ich mich so lebendig wie selten. Noch mal 4 Läufer die ich einsammle. Das 9 Kilometer-Schild. ein Blick auf die Uhr: Ich kann nichts mehr erkennen. Meine Beine brennen. egal, weiter, ich packe das.
Da, endlich das Ziel. ein Blick auf die Uhr: 3:14:40. Das nimmt mir keiner mehr. Ich strecke meine Arme in die Höhe, ziehe noch mal an. Schreie. Schreie alles raus. Laufe über die Ziellinie. Netto: 3:14:27. Unglaublich. Der letzte Kilometer in 4:18. Ich wanke, kann kaum noch stehen. Bin einfach nur glücklich. Jackson kommt eine Minute nach mir rein, auch happy, fix und alle. Jetzt will ich sitzen. nur noch sitzen!
Ich bin die zweite Hälfte in 1:36:58 gelaufen, und damit 31 Sekunden schneller als die erste. Mein erster "echter" negativer Split, auf den ich wahnsinnig stolz bin. Und schon rattert es - wenn auf der zweiten Hälfte des Marathon ne 1:36:58 drin ist - was wäre dann mit guter Vorbereitung auf den HM drin...
Fazit: ES GEHT! Ich kann schnelle Marathons laufen. Und wieder bestätigt sich für mich, dass meine eigentliche Stärke nicht meine Beine sind, sondern mein Kopf. Die Mentale Stärke scheint zu passen.
Jetzt sitze ich hier, mir tut noch alles weh. und das erste Mal gestatte ich mir zu träumen, dass Sub 3 bei mir drin sein könnte. Und erstmals scheint dieser Traum realisierbar. Nicht nächstes Jahr. aber ich denke, ich könnte das Zeug dazu haben.
Wenn ich den Bericht noch mal durchlese kommt er mir reichlich wirr vor. Ich hoffe, ihr konntet folgen, das brach gerade so ein wenig aus mir raus!
Vielen Dank fürs Lesen
nachtzeche
Kürzer ist schneller länger - mein Dresden Marathon 2009
1"Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden!" (Die Bibel, Jesaja 40,31)