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Allez, allez!

Allez, allez!

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Es ist später Nachmittag. Vor dem offenen Fenster sitzend schaue ich dem Treiben an der Sacré Coeur zu. Unser Ferienappartment liegt im allerletzten Haus vor dem Aufgang zum Mont Martre und bietet einen phantastischen Blick auf die strahlend weiße Kirche. Hunderte von Touristen bevölkern Treppe und Vorplatz der Sacré Coeur und genießen den warmen Frühlingstag. Ihre Stimmen verursachen einen Lärm, der mich an den eines Freibads im Hochsommer erinnert. Der Kaffee und die Brownies, die ich mir gönnen, tun gut. Ein wohliges Gefühl durchströmt meinen Körper, während ich mich von den Marathon-Strapazen des Vormittags erhole.

Pünktlich um 5:30 Uhr klingelte am Morgen der Wecker, nachdem in der Nacht wegen irgendeiner Fehleinstellung meine Armbanduhr bereits um 2 Uhr Alarm schlug. Quel malheur! Nach Duschen, Frühstücken und viel Trinken brechen wir gegen 7 Uhr auf zur Metro. Die Rue de Steinkerque, die am Nachmittag zum Touristen-Nadelöhr auf ihrem Weg zum Mont Martre wird, ist noch gähnend leer. Der erste Mensch, der uns begegnet ist ein junge Frau, die wie unscher an ihrem Asics-Kleiderbeutel zu erkennen ist, ebenfalls auf dem Weg zum Startplatz ist. Es stellt sich heraus, dass sie Deutsche ist, in Le Havre lebt und heute ihren zweiten Marathon bestreitet. Über 900 Deutsche nehmen am Paris-Marathon teil. Damit ist Paris der zehntgrößte deutsche Marathon. Mit insgesamt 40.000 Teilnehmern gehört Paris zu den richtig großen Marathonveranstaltungen. In der Rangfolge der schnellsten 42-km-Strecken belegt die Strecke Platz 9. Aber diese Zahl sagt eher etwas darüber aus, dass Eliteläufer hier gestartet sind als darüber, ob man als Hobbyläufer auf dem Parcours eine Chance auf eine persönliche Bestzeit hat. Jedenfalls ist das Streckenprofil nicht ganz einfach, und ich fürchte mich vor dem Kopfsteinpflaster, das Internetberichten zufolge schwer zu schaffen machen soll.

Als wir aus der Metro-Station Charles-de-Gaulle Etoile aufsteigen, erstrahlt der Arc de Triomphe im warmen Morgenlicht. Wir brauchen nur dem Menschenstrom zu folgen, um die Abgabe der Kleiderbeutel zu finden. Von hier aus wird man direkt zur Startaufstellung auf die Champs-Elysée geleitet. Ich laufe mich ein, entleere zum 5. Mal an diesem Morgen meine Blase und reihe mich im 3-Stunden-Startblock ein. Kaum habe ich meinen Platz zwischen den anderen Läufern eingenommen, könnte ich mich schon wieder ins Gebüsch schlagen. Aber hier sind nur Läuferbeine, und so werde ich wohl Wasser und wertvolle Zeit auf der Strecke lassen müssen. Dabei kommt es heute auf jede Sekunde an. Schicke ich mich doch wieder mal an, die 3-Stunden-Marke zu knacken. Der erste Versuch scheiterte 2007 kläglich, als ich in München nach 26 km abbrach. Dieses Mal bin ich gut vorbereitet, habe konsequent nach dem Greif-Plan für 3 Stunden trainiert und alle vorgegebenen Zeiten geschafft, inklusive der grausamen Endbeschleunigungen der langen Läufe.

Es ist warm, als der Startschuss fällt. Eine knappe Minute muss ich vor mich hin trippeln, bis die Startlinie erreicht ist und es richtig losgeht. Der Weg führt vorbei am Obelisk der Place de la Concorde und dem Hôtel de Ville. Man sieht die Türme der Notre Dame und passiert die Säule der Place de la Bastille. Alles in strahlendendem Sonnenschein, der mir nach wenigen Kilometern den Schweiß auf die Stirn treibt. Das Tempo passt, aber der Lauf fordert dafür, dass er erst begonnen hat, bereits viel ab. Das liegt auch an den Steigungen, die immer wieder zu bewältigen sind. Nach 10 Kilometern, am Beginn des Schlossparks von Vincennes, entschließe ich mich zu einem kurzen Boxenstopp und nutze die Pause zum Durchatmen. Die verlorenen Sekunden sind schnell wieder eingeholt. Die Zeiten zwischen den Kilometerschildern vergehen schnell. Trotzdem vermisse ich Kraft und Energie. Irgendwie bräuchte ich einen Kick, der mich aufputscht.

Nach 14 Kilometern sauge ich eine Kohlehydrat-Gel-Packung aus, wohl wissend, dass das Durst macht, den ich dann an der Wasserstelle bei KM 15 stillen kann. Das Wasser wird in 0,33-Liter-Plastikflaschen statt in Pappbechern gereicht, was eine absolut bessere, weil treffsichere Lösung zum Trinken bei 14 km/h ist. Nach einem kleinen Schluck kippe ich mir zur Verhinderung einer Kernschmelze einen Schwall über den Kopf, als ich hinter mir höre, wie jemand etwas von „de l’eau, s’il vous plaît“ und „c’est difficile pour nous“ aufschnappe. Die Bitte kommt von einem Zugläufer, der einen blinden Teilnehmer führt, und löst einen Samariter-Reflex in mir aus. Noch bevor ich die Trockenheit in meinem Mund mit einem zweiten Schluck bekämpfen kann, streckt sich mein Arm und drückt dem Zugläufer die Flasche in die Hand. Als sein Merci mich erreicht, wird mir klar, dass es noch 5 Kilometer bis zur nächsten Oase sind.

Dann kommt der ersehnte Kick. Anscheinend habe ich den Asphalt vor mir nicht richtig abgescannt. In den Augenwinkeln sehe ich noch etwas auf dem Boden, registriere es als leere Wasserflasche und erwarte das kurze Knarzen, mit dem sich üblicherweise das Plastik unter dem Körpergewicht zusammenstaucht. Doch dieser Gegenstand gibt nicht nach. Stattdessen tut es mein Fuß, und ich knicke um. Es ist der rechte, derselbe, den ich mir im Januar überdehnt hatte, als mir während einer Trainingseinheit bei Dunkelheit und Nebel die Sicht zu einer milchigen Wand vor Augen verschwamm und ich prompt vom Weg abkommend in den Graben stürzte. Ich befürchte, dass es das Aus ist. Der Adrenalinschub reicht nicht zum Mobilisieren neuer Kräfte aus, aber zum Hervorstoßen eines Fluchs. In der Nähe raunt jemand seinem Nachbarn „Ca veut dire merde“ zu. Nach ein paar Schritten werden die Schmerzen schwächer. Ich laufe weiter.

Kurze Zeit später dann der Halbmarathon-Durchgang in etwas unter 1 Stunde 30. Das ist meine beste Zwischenzeit bei der 21,1-Kilometermarke eines Marathons. Allerdings würde es sehr knapp werden, sollte ich wirklich die 3 Stunden schaffen. Noch hoffe ich darauf, in der zweiten Hälfte zulegen zu können, sozusagen, das Stehvermögen, dass ich mir durch die Endbeschleunigungen antrainiert habe, abrufen zu können.

Die Strecke führt uns zur Seine. Die ganze Zeit geht es auf und ab. Das kostet Kraft. Es folgt ein langer Tunnel, an dessen Eingang eine Trommlergruppe spielt, deren Rythmus innerhalb der Röhre zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwillt. Eine hohe Temperatur und schlechte Luft tun ein Übriges, um den Tunnel zur Qual zu machen. Wieder im Freien brennt die Sonne unerbittlich. Es ist einfach zu warm. Von Meter zu Meter wird mir klarer, dass ich das Tempo nicht bis zum Ende werde halten könne. Ich habe keinen Blick mehr für den Eifelturm, der bei Kilometer 29 zu sehen ist. Zu groß ist die Entäuschung. Als ich den nächsten Kilometer zehn Sekunden zu langsam bin, kapituliere ich endgültig. Ich glaube nicht mehr daran, mein Ziel erreichen zu können, obwohl die Gesamtzeit bei Kilometer 30 mit 2:08:01 statt 2:08:00 noch absolut im Marschplan liegt.
Mit fehlt der Biss, der mich während der achtwöchigen Vorbereitungszeit nie verlassen hat. Keinen Kilometer und keine Sekunde hatte ich mir geschenkt. Immer alles korrekt nach Plan absolviert. Damit nicht genug. Wahre Game Changer* hatte ich mir überlegt.
Erstens: Zwei Kilogramm heruntergehungert, schrieb doch Peter Greif in einem Newsletter im Januar, pro Kilogramm weniger würde man 2 Marathonminuten gutmachen. Nochmal 30 Kilogramm runter und ich könnte den Weltrekord brechen.
Zweitens: Testosteron. Aus dem Radsport ist die positive, regenerative Wirkung des Hormons bekannt. Das gilt für jede Form des Ausdauersports, also auch für‘s Laufen. Greif empfiehlt für den körpereigenen Aufbau läuferische Krafteinheiten, die man als Sprints nach den Endbeschleunigungen der langen Läufe absolvieren soll (wann stoppt endlich jemand diesen Wahnsinnigen!). Ich setzte stattdessen auf 1-2 mal wöchentlich Krafttraining und regelmäßiges Rindersteakessen. Als ich letzten Freitag mein letztes Rumpsteak vor dem Marathon kaufe, kennt man mich bereits und fragt, ob ich denn irgendeine Form von Diät mache. Ich erkläre, dass ich mich auf einen Marathon vorbereite und mit dem Essen des Rindfleischs am Vorabend eines langen Laufs gute Erfahrungen gemacht hätte. „Ja, dass muss ich unseren Kunden erzählen“, sagt die Fleischfachverkäuferin und schaut mich mit blitzenden Augen an, als wolle sie mich für eine Werbekampagne anheuern. Ich sehe schon den Slogan „Mit dem Fleisch vom Petermann, läuft den Marathon jedermann“. Darunter ein Foto von mir, das mich mit gequältem Lächeln beim Überlaufen der Ziellinie zeigt.

Alle Game-Changer-Hoffnungen haben sich jetzt in Luft aufgelöst. Nach 30 Kilometern erkläre ich das 3-Stunden-Projekt für gescheitert und verfalle in einen Trabschritt. Den Marathon abschliessen möchte ich schon, aber die Zeit ist mir inzwischen egal. Anstrengend ist es trotzdem. Jeden Kilometer muss ich mir in einer gefühlten Ewigkeit abringen. An den Verpflegungsständen bleibe ich stehen, um zu verschnaufen. Bis vor kurzem waren die Allez-Allez-Rufe noch von einem „Trois heures“ begleitet. Inzwischen heißt es „Trois heures cinq“, und mir ist klar, dass ich auch das nicht schaffen werde. Als eine Frau im gepunkteten Marienkäferkostüm an mir vorbeiläuft, was zu jeder anderen Zeit meinen Ehrgeiz angestachelt hätte, trotte ich langsam weiter. Kilometer 37 führt über zermürbendes Kopfsteinpflaster in den Bois de Boulogne. Ich fasse den Entschluss, die 3 Stunden für immer abzuschreiben. In trübsinniger Stimmung durchlaufe ich das Ziel in meiner zweitbesten Marathonzeit von 3 Stunden 8 Minuten und 23 Sekunden. Aber damit kann man nicht zufrieden sein, wenn man auf 3 Stunden trainiert hat.

Wieder schaue ich von unserem Appartment auf die Sacré Coeur, die nun um 23 Uhr künstlich angestrahlt wird. Nach einem 5-Gänge-Menü, einem Kir Royal und reichlich Côte du Rhône geht es mir ganz gut. Vor dem Abendessen waren Sissi und ich noch hoch zur Sacré Coeur gestiegen, um den grandiosen Blick auf die Stadt zu genießen. Oben angekommen, höre ich einen der 900 Deutschen, wie er begeistert in sein Handy ruft: „Du kannst mir gratulieren. Ich gehöre nun zum erlauchten Kreis der Unter-3-Stunden-Läufer“.
Muss ein gutes Gefühl sein, denke ich mir. Vielleicht sollte ich es doch nochmal probieren.


*) neudeutscher Ausdruck für Verzweiflungsmaßnahmen, mit denen man durch Autosuggestion ein bislang nicht erreichtes Ziel endlich doch zu schaffen glaubt

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dryrun hat geschrieben:Muss ein gutes Gefühl sein, denke ich mir. Vielleicht sollte ich es doch nochmal probieren.
Ich bin ziemlich sicher, das wirst du.
Danke für den Bericht und willkommen. :hallo:
"If I had no sense of humor, I would long ago have committed suicide." (Gandhi)

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dryrun hat geschrieben:Nach 30 Kilometern erkläre ich das 3-Stunden-Projekt für gescheitert und verfalle in einen Trabschritt.
Ein erneuter Beweis, dass der Marathon im Kopf entschieden wird. Wenn du's das nächste Mal versuchst, trainier dir vorher genügend Bissigkeit an.

Ansonsten ein schöner, flüssig lesbarer Bericht!

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de

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burny hat geschrieben:Ein erneuter Beweis, dass der Marathon im Kopf entschieden wird. Wenn du's das nächste Mal versuchst, trainier dir vorher genügend Bissigkeit an.

Ansonsten ein schöner, flüssig lesbarer Bericht!

Bernd
Hallo Bernd,
auf der Strecke (Profil) und an dem Tag (Hitze) waren die 3 Stunden einfach nicht drin. Aber eine neue Bestzeit wäre mit mehr Biss sicher machbar gewesen. Eigentlich glaubte ich, mir den Biss mit Greifs Countdown für 3 Stunden und den gelungenen Endbeschleunigungen antrainiert zu haben. Denkste!
Letzten Herbst in Frankfurt, als ich mit 3:03 PB gelaufen bin, ging alles super easy (Gibt's auch einen Bericht davon. Ich such ihn mal raus und hänge ihn an.). Wahrscheinlich bin ich jetzt zu sehr am Limit gewesen.
Aber wenn Du noch Tipps für Biss-Training hast, nur her damit.
VG
dryrun

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burny hat geschrieben:Ein erneuter Beweis, dass der Marathon im Kopf entschieden wird. Wenn du's das nächste Mal versuchst, trainier dir vorher genügend Bissigkeit an.
Wenn 30km bei 2:08 erreicht sind wird mehr Bissigkeit in den meisten Fällen nicht mehr zu einer Sub3 verhelfen - es sei denn, man hat deutlich mehr als 2:59 drauf.

Zu langsam angelaufen oder die Sub3 wirklich noch nicht drauf gehabt. Die wenigsten Läufer sind so gut trainiert, dass sie auf den letzten 12,2k in der Situation noch beschleunigen könnten. Die meisten brauchen bei 30k einen Zeitpuffer und nicht 30s Malus.

Die Pace-Tabelle war unpassend.

Schöner Bericht ja. Leider falsche Taktik.

Gruß

C.

"If a man coaches himself, then he has only himself to blame when he is beaten."
- Sir Roger Bannister

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Super Bericht ... :daumen:
Ich drück dir ganz fest die Daumen für Sub 3:00 .....
VG der Podenco-Runner Tobi
Paris sicher eine Reise wert und der Marathon sowie so ....
Unser Lauftreff : Lauftreff München Süd

Bei Facebook haben wir die " Laufen mit Freunden in München und Umgebung ....

WK :
Forstenrieder Parklauf 2013
Mailauf Schalftlarn 2013
Karlfelder Läufercup 2013
München Marathon 2013
Wolfratshausen 2013 ( 10km)
Silvesterlauf MRRC München ( 5Km)

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dryrun hat geschrieben: Aber wenn Du noch Tipps für Biss-Training hast, nur her damit.
Ich möchte deinen schönen Bericht nun nicht „kaputt machen“, aber da du direkt fragst, will ich auch gern antworten.

Was mir auffällt, ist, dass du dein Ziel ziemlich schnell und ohne Gegenwehr abschreibst.
DerC hat geschrieben:Wenn 30km bei 2:08 erreicht sind wird mehr Bissigkeit in den meisten Fällen nicht mehr zu einer Sub3 verhelfen
Ob an dem Tag eine Zeit unter 3 h drin gewesen wäre, lässt sich aus der Ferne nur spekulieren. Aber das ist für mich auch nicht der Punkt. Wenn ich so hart trainiert habe, wie du es offensichtlich getan hast, dann will ich auch etwas davon haben. Dann wehre ich mich gegen die drohende Niederlage, setze mir ein alternatives Ziel (z. B. alte PB unterbieten o. ä.), wenn ich es nicht schon vorher getan habe, gerade wenn die Bedingungen nicht so gut sind am Wettkampftag. Peter Greif empfiehlt ja sogar, insgesamt 3 Ziele zu definieren, wenn das Urspungsziel gefährdet ist.

Du hast sozusagen von jetzt auf gleich aufgegeben und dich hängen lassen. 4:57 min/km für die letzten min/km ist ins Ziel joggen. Das klingt jetzt hart. Ich will dich damit nicht angreifen. Ich denke halt, es nützt dir wenig, wenn ich dich beglückwünsche, den Lauf beendet zu haben. Das hilft dir nicht weiter. Bissigkeit trainiert man sich unter anderem an, indem man aus dem Ärger und der Wut über Niederlagen Energie schöpft. Wenn man dagegen noch zufrieden ist mit dem, was man erreicht hat, legt das den Keim für das nächste Scheitern.

Wenn man ein anspruchsvolles Ziel erreichen will, ist natürlich Training erforderlich. Das hast du getan. Aber dann kommt es darauf an, die Leistung auch abzurufen. Und das funktioniert nicht mit „Durchlaufen des Ziels mit fleckenfreiem weißen Hemd und ohne Staub auf den Schuhen“, sondern nur mit Schweiß, Leiden und Quälerei (um es mal etwas pathetisch auszudrücken). Ohne das erzielst du 80 oder vielleicht 90% deiner Leistung, aber nicht 100%. Es ist auch egal, ob es die Hitze bei km 30 ist oder das nächste Mal der Wind bei km 35 oder das Ziehen im Knie bei km 40, die zum Scheitern führen.

dryrun hat geschrieben: Letzten Herbst in Frankfurt, als ich mit 3:03 PB gelaufen bin, ging alles super easy
Genau das ist der Punkt. Wenn es super easy ist, kann’s jeder. Aber dann reagierst du auf äußere Gegebenheiten, hoffst, dass ein gnädiger Gott dir den Weg frei macht. Meine Erfahrung ist, dass man die meiste Bissigkeit aus den Wettkämpfen selbst holt: das Gefühl, obwohl es nicht gut lief, trotzdem gekämpft zu haben (und wenigstens ein Alternativziel erreicht zu haben) oder nach einigen harten km plötzlich zu merken: Hey, jetzt läuft’s ja doch wieder besser.Aber das bedeutet, Phasen des Zweifels und der Quälerei durchzustehen, eben zu kämpfen.

Um es noch mal zu betonen: Ich meine das weder als Vorwurf noch als Kritik. Du musst letztlich selbst wissen, wie du damit umgehen willst. Ich habe meine Erfahrung aus etlichen Marathons eingebracht, und die besagt: Training ist quasi die notwendige Bedingung für den Erfolg, aber entschieden wird das Rennen im Kopf.

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de

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Wie angekündigt, der Bericht über Frankfurt 2010. Hatte ihn, wie meine sonstigen Berichte auch, für meine Kollegen, vorwiegend Nicht-Läufer, geschrieben.
VG
dryrun



Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

„… wenn ich an einem nasskalten, frostigen Morgen um fünf Uhr aufsteh und mir mit den nackten Füßen auf dem Steinfußboden bald einen abzittere, wo die anderen alle noch eine Stunde pennen können, bis es läutet, und runter schleiche durch die ganzen Korridore zur großen Eingangstür, den Läuferpassierschein in der Faust, da fühl ich mich nämlich wie der erste und zugleich der letzte Mensch auf der Welt“
Aus: Allan Sillitoe - Die Einsamkeit des Langstreckenläufers


Eine schnelle Entscheidung
Marathonlaufen ist wie Kinderkriegen. Solange die Strapazen der letzten Niederkunft noch frisch in Erinnerung sind, ist man sich absolut sicher, sich so etwas nicht noch einmal anzutun. Aber nach und nach verblassen die negativen Erinnerungen. Was bleibt ist die Freude über das Ergebnis, und so lässt man sich doch ein weiteres Mal darauf ein.
Bei mir setzte der entsprechende Verklärungsprozess bereits wenige Wochen nach dem Marathon im Frühjahr ein. War doch eigentlich ganz schön in Wien. Ja, da war diese kleine Unterzuckerung auf den letzten Kilometern, dieses Sich-furchtbar-elend-Fühlen und der Vorsatz, dies sei der letzte Marathon. Aber war das Erreichen der neuen Bestzeit nicht eine tolle Sache? Ganz zu schweigen von dem fantastischen Gefühl, nach dem Lauf über die Verpflegungsstände herzufallen und seinen Heißhunger zu stillen.
So entschloss ich mich also, in den Sommermonaten eine solide Basis für einen Herbstmarathon zu legen. Noch unschlüssig, wo ich mich anmelden sollte (Gourmet-Marathon in Saarbrücken oder doch lieber gegrilltes Lamm in Dubai?), startete ich Ende August zu einem Formcheck beim lokalen Laufevent in Limbach. Völlig unerwartet fuhr ich eine neue Halbmarathon-Bestzeit ein, und schon erfasste mich das Fieber. Da war die Chance, den persönlichen Marathon-Rekord ein zweites Mal in diesem Jahr zu verbessern. Schnelles Handeln war jetzt angesagt, bevor es mit der exzellenten Form wieder begab ging. Erstmal dem Körper zwei Wochen lang eine Regenerationspause verpassen. Auf diese Weise die Superkompensation des Wettkampf-Impulses voll ausschöpfen, um anschließend das Vorbereitungstraining und das Tapering zum Marathonlauf hin genau zu timen. Der optimale Termin ergab sich entweder nach 10 Wochen bei einem Steffny-Trainingsplan oder nach 8 Wochen bei einer Vorbereitung à la Greif. Nach einer umfassenden Internetrecherche war klar, dass sich der schnellste Kurs unter diesen Randbedingungen in Frankfurt befand. Der Termin, 31. Oktober, diktierte den Greif’schen 8-Wochen-Plan.

Bei Nacht und Nebel
Auf der Homepage von Peter Greif steht eine Datei mit dem harmlos anmutenden Titel „Countdown“ zum Download bereit. Sie muss von jemandem mit viel Zeit erstellt worden sein und setzt Peter Greifs 64-seitige Anleitung für Marathon-Trainingspläne in ein Excel-Sheet um. Man braucht nur Wettkampftermin, Zielzeit und Anzahl der Einheiten pro Woche einzugeben und schon werden die 56 Tage vor dem Wettkampftermin mit Trainingseinheiten zugepflastert. Ich entschied mich für fünf Einheiten pro Woche. Das ergab 746 Kilometer bestehend aus Tempoeinheiten, Intervallen, langen Läufen mit Endbeschleunigungen und ein paar langsamen Dauerläufen.
Ich lief immer morgens. Das ist für Biorhythmus und Tagesablauf am besten. Aufstehen, Zähne putzen, Laufkleider anziehen, ins Auto steigen, zur alten Bahntrasse fahren, aussteigen, Stoppuhr starten, loslaufen, wach werden. Klappte besser als erwartet. Nach dem Lauf fuhr ich zur Arbeit, duschte mich dort, ging anschließend zu meinem Platz und löffelte bei den ersten Emails mein Müsli. Danach fühlte ich mich top-fit. Alles wurde am jeweiligen Vorabend optimal vorbereitet. Ich packte die Tasche mit den Kleidern für den nächsten Tag, legte die Laufklamotten parat und füllte das Müsli ab. Ich brauchte dann nur noch morgens ins Auto zu fallen und war je nach Weckzeit zwischen 5:30 und 6:00 Uhr auf der Piste. Abends haute ich ordentlich rein, um die Energievorräte für den nächsten Morgen aufzufüllen. Funktionierte. Selbst die langen 35-km-Läufe schaffte ich problemlos vorm Frühstück.
Die erste Zeit lief ich im Hellen. Nach einigen Wochen, als die Tage kürzer wurden, startete ich im Morgengrauen, und gegen Ende absolvierte ich die Läufe von Anfang bis Ende im Dunkeln. Während der 40 Läufe auf der Bahntrasse erlebte ich das ganze Dunkelheits-Spektrum, das die Nacht zu bieten hat. Vom Tiefschwarz bei bewölktem Himmel über schwach erhellt in sternklaren Nächten bis hin zum Schatten werfenden Silberschein des Vollmonds. Besonders unangenehm war es, wenn Nacht und Nebel zusammen kamen. Dann war so gut wie nichts zu erkennen. Hätte ich die Strecke nicht wie meine Westentasche gekannt, wäre ich vermutlich im Graben gelandet. Wenn man nichts sieht, ist es extrem schwierig, den richtigen Antritt bei schnellen Intervallen zu finden. Ohne Vorstellung, wann die Füße den Boden berühren werden, wurde mir regelmäßig schwindlig, und ich geriet ins Stolpern.
Die Strecke entlang der Blies ist vor Sonnenaufgang eine eigene Welt. Sie besteht aus typischen Gerüchen, etwa dem nach Fäulnis, der von verrottenden Pflanzen der benachbarten Komposthalde stammt, und aus typischen Geräuschen wie dem Plätschern von Wasser oder dem hellen Gekreische eines Habichts. Büsche und Bäume sind nur schemenhaft zu erkennen, und immer wieder blitzen Augenpaare auf, die zu Katzen gehören, und meist ebenso plötzlich verschwinden wie sie erschienen sind.
Ich bin nicht ängstlich, aber als ich wieder einmal in die menschenleere Finsternis eintauchte und weit abseits der nächsten Ortschaft ein ständiges Rascheln und Ästeknacken neben mir vernahm, fühlte ich mich ziemlich einsam und konnte nur mit Mühe Gedanken an nachts im Wald spielende Horrorfilme vertreiben. Später machte ich mir dann klar, dass vermutlich keine Hexe sondern nur ein harmloses Reh neben mir her gelaufen war.
Meine einzig wirkliche Furcht galt der Begegnung mit Wildschweinen. Eines Abends, als ich unweit der Laufstrecke mit dem Auto auf dem Nachhauseweg war, überquerte direkt vor mir eine Rotte aus gut einem Dutzend Tieren die Straße. Danach ließ mich beim Laufen der Gedanke an das Borstenvieh nicht mehr los. Angeblich sind Wildschweine ja scheu und werden vom Herumkeuschen eines Läufers vertrieben. Ich vertraute darauf, dass ihnen jemand das schon mal erzählt hatte.
Vier Tage vor dem Marathon war die letzte Einheit im Dunkeln geschafft. Dennoch, es ging eine gewisse Faszination von diesen Läufen aus, und des Öfteren stand ich auch am Wochenende extra früh auf, um meine Trainingseinheit noch in der Finsternis erledigen zu können.

Die Hatz beginnt
Am 31. Oktober ist es soweit. Sissi begleitet mich nach Frankfurt. Ursprünglich wollte sie auch starten. Aber die Vorbereitung wurde ihr zu lange und so hatte sie sich drei Wochen vorher kurzfristig entschieden, am München-Marathon teilzunehmen. Jetzt hat sie ein Fahrrad dabei und möchte mich an verschiedenen Punkten der Strecke abpassen.
Um 10 Uhr fällt der Startschuss. Die Bedingungen sind ideal. Es ist trocken und windstill bei einer Temperatur von 10 Grad. Meine Taktik besteht darin, mit moderatem Tempo zu beginnen und später schneller zu werden. Vor vier Wochen beim Halbmarathontest ging die Strategie wunderbar auf. Ich konnte meine Bestzeit um ganze zwei Minuten verbessern. So stört mich auch nicht das Gedränge auf den ersten Kilometern, denn es bewahrt mich davor, zu schnell loszurennen.
Es gibt einige Kurven auf dem Innenstadtkurs. Viele Mitläufer kürzen die Strecke ab, indem sie über den Bordstein laufen. Mir ist das zu blöd, und ich folge ganz betont dem Straßenverlauf.
Nach den ersten Kilometern bin ich irritiert. Meine GPS-Uhr zeigt eine Kilometer-Durchschnittszeit, die deutlich unter meinen handgestoppten Kilometerzeiten liegt. Außerdem weist sie nach fünf Kilometern 120 Meter zu viel aus. Vielleicht wäre es doch besser, die Kurven zu schneiden.
Nach sechs Kilometern verspüre ich ein Druckgefühl in der Brust, das nach und nach zur Atemnot wird. Vor einem Jahr in Florenz erging es mir ähnlich mit dem Resultat, dass ich die letzten 10 Kilometer völlig fertig war und nur mit größter Anstrengung das Ziel erreichte. Das gefällt mir gar nicht, und ich versuche durch Hechelatmung (wieder eine Parallele zum Kinderkriegen) mehr Sauerstoff in die Lunge zu pumpen.
Ich beobachte das Feld um mich herum. Einer ist mit Frack und Hut unterwegs, ein anderer trägt ein knappes Cocktailkleid, was überhaupt nicht zu seiner großen, kräftigen Gestalt passt. Auch eine Blinde sehe ich, die von einem Zugläufer an einer Schnur geführt wird. Nach meinen Erfahrungen mit dem Laufen im Dunkeln frage ich mich, wie sie damit zurecht kommt, gar nichts zu sehen.
Bei Kilometer 13 entdecke ich Sissi am Straßenrand und winke ihr zu.
Ab Kilometer 15 wird die Atmung endlich besser. Jetzt nur nicht den Fehler machen, zu schnell zu werden. Ein Marathon wird nicht auf den ersten sondern auf den letzten Kilometern entschieden. Und wie es einem auf den letzten Kilometern geht, kann man nicht vorhersagen. Oft genug habe ich erlebt, dass ich mich auf halber Strecke großartig fühlte und dann doch am Ende durch die Hölle ging. Während mir das so durch den Kopf geht, höre ich „Highway To Hell“ aus einem Lautsprecher am Streckenrand und frage mich, ob ich bereits auf eben diesem bin.
Dann der Halbmarathon-Durchgang in 1:32:24. Wäre klasse, wenn ich den Schnitt halten könnte.

Auf der Überholspur
Vor mir mache ich ein Läuferpaar aus. Sie machen zwar nicht den Eindruck, zusammen zu gehören, bleiben aber schon eine ganze Weile auf einer Höhe. Er trägt ein weißes Shirt und einen Gürtel mit diversen Fläschchen und Gels. Sie hat blonde Zöpfe, die beim Laufen hin und her tanzen. Ich schließe auf und überhole. Doch sie bleiben mir auf den Fersen und erreichen mich nach kurzer Zeit wieder. Erneut hänge ich sie ab, und ein weiteres Mal wiederholt sich das Spiel. Als ich zum dritten Mal in den Augenwinkeln diese Zöpfe herum wedeln sehe, reicht es mir, und ich verabschiede mich vom moderaten Tempo.
Trotz des schnellen Tempos fühle ich mich gut. Ein Mann am Straßenrand spielt Querflöte, einen alter Jethro-Tull-Titel. Alles ist entspannt und easy.
Ich habe eine Marschverpflegung dabei: drei Marshmallow-Chips, kleine Energieeinheiten, die speziell für Ausdauersportler entwickelt werden. In die Backentaschen gesteckt geben sie über die Mundschleimhaut Glukose direkt ins Blut ab. Davon profitiert vor allem das Gehirn. Ein Trick, mit dem der Zentraleinheit vorgegaukelt wird, im ganzen Körper herrsche ein üppiger Zuckerspiegel. Da Marathonlaufen vor allem Kopfsache ist und Muskeln tumbe Befehlsempfänger sind, funktioniert das. Ich probiere es heute zum ersten Mal aus und habe mit Sicherheitsnadeln drei Chips an meinem Gürtel befestigt. Als ich nach links zu einem greife, stelle ich mit Schrecken fest, dass da außer einem Stück abgerissener Verpackungsfolie nichts mehr ist. Zum Glück sind die beiden auf der anderen Seite noch da. Umständlich öffne ich eines der Plastikbeutelchen, nestel bei Tempo 14 den Chip heraus und reiße ihn in zwei Stücke, die ich mir in den Mund schiebe. Ups. Die sind größer als gedacht. Bis es mir gelingt, sie mit der Zunge an die richtige Stelle zu bugsieren, habe ich das Gefühl zu ersticken. Als ich wieder zu Luft komme, spüre ich, dass meine Finger total verklebt sind. Immer wieder versuche ich erfolglos, den Zucker an die Hose zu wischen. Erst an der nächsten Wasserstation kann ich mich davon befreien.
Die Glukose tut gut. Die Bedenken, ich könnte auf den letzten Kilometern einbrechen, verfliegen. Es ist wie beim Autofahren auf der Überholspur: Man richtet die Augen geradeaus in die Ferne und fühlt sich prächtig, während man an den anderen vorbei zieht. Bei Kilometer 30 höre ich aus einem Lautsprecher, dass der Kenianer Wilson Kipsang mit einer Zeit unter 2 Stunden 5 Minuten einen neuen Streckenrekord gelaufen ist. Gleichzeitig sehe ich die Ersten, die eine Gehpause einlegen müssen. Für mich kein Thema, die Atmung ist gut und die Muskulatur immer noch locker. Für weitere gute Laune sorgen der Sonnenschein und Sissi, die bei Kilometer 31 auf mich wartet. „Wie läuft’s?“, ruft sie mir zu. „Super“, antworte ich und bin schon an ihr vorbei. Sie schwingt sich auf’s Rad und begleitet mich auf den nächsten fünf Kilometern.
Die Endbeschleunigungen der langen Läufe zahlen sich aus. Statt wie die anderen langsamer zu werden, lege ich zu. Immer wieder höre ich Zuschauer, die meinen Vornamen auf der Startnummer sehen und mir zurufen: „Weiter so, Joachim!“ Das motiviert noch mehr, genauso wie die Kinder am Rand, die mir ihre Hände zum Abklatschen entgegenstrecken.
Ich bin so richtig im Flow und überhole einen nach dem andern. Da ist wieder der Typ im Cocktailkleid. Im Vorbeilaufen sage ich, „na wie wär’s mit einem gemeinsamen Drink später?“. Mit dem Tempo hat er anscheinend auch seinen Sinn für Humor verloren und schaut mich stumm mit weit aufgerissenen Augen an.
Es geht wieder in die Innenstadt. Ich werde müde, aber nicht langsamer. Der zweite Marshmallow ist bei Kilometer 36 fällig. Die Energieversorgung ist gut. Keine Spur von Unterzuckerung, und die Beine sind immer noch locker. In wildem Zickzack-Kurs geht es jetzt durch die Straßen. Immer wieder verlaufen Streckenabschnitte parallel zu einander. Mir ist unklar, ob die Entgegenkommenden vor oder hinter mir sind. Auf den letzten Kilometern halte ich Ausschau nach dem Messeturm, der das Ziel markiert. Zwischen den Hochhäusern kann ich ihn nicht ausmachen. Endlich, da ist er. Gefühlte fünf Kilometer entfernt, obwohl ich inzwischen bei Kilometer 40 angelangt bin.
Die Organisatoren waren gnädig. Kilometer 41 geht bergab. Ich renne weiter. Die lange Gerade zum Messegelände. Zwei Läufer vor mir. Die schaffe ich auch noch. Was ist mit dem Publikum los? Kein Jubel, keine Anfeuerungsrufe. Echt enttäuschend. Ich biege in die Messehalle ein, setze zum Endspurt an und durchlaufe das Ziel nach 3 Stunden 3 Minuten und 11 Sekunden. Die zweite Hälfte bin ich um zwei Minuten schneller gelaufen als die erste. Die alte Bestzeit ist pulverisiert.

Im Läuferparadies
Im Zielbereich treffe ich Stephan. Wir hatten ausgemacht, dass er dort auf mich wartet. Ich weiß, dass Stephan drei Stunden unterbieten wollte und frag, ob’s geklappt hat. Die Antwort ist mir schon klar, bevor er sie mir gibt. Er sieht erschöpft und enttäuscht aus. 1 Minute und 43 Sekunden haben gefehlt. Trotzdem eine super Leistung, zu der ich ihm gratuliere. Nächstes Mal wird er es schaffen.
Gemeinsam gehen wir weiter und kommen an den Eliteläufern vorbei, die sich zur Siegerehrung aufgestellt haben. Stephan spricht sie an. Ich verstehe nicht, was er ihnen sagt. Ich für meinen Teil nicke ihnen respektvoll mit einem „Congratulations“ zu. Als sie freundlich zurück lächeln, habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl, dazu zu gehören.
Wir verlassen die Halle und nehmen Medaille und Alu-Umhang in Empfang. Viele der Finisher bewegen sich, als bräuchten sie ein neues Hüftgelenk, während ich geschmeidig auf die Verpflegungsstände zusteuere. Lauter leckere Sachen warten da auf uns: Tee, Iso-Getränke, Bananen, Rosinenkuchen und sogar Weizenbier. Genau das Richtige, um etwas gegen meine Unterhopfung (eine der negativen Folgen der sportlergerechten Trinkgewohnheiten) zu unternehmen. Ich setze mich auf den Platz und genieße die wärmenden Sonnenstrahlen. Stephan und ich tauschen uns über Vorbereitungsstrategien und die Pläne für den nächsten Marathon im Frühjahr aus. Ich fühle mich blendend. Keine Spur von erschöpft. Das Bier schmeckt hervorragend, und ich freue mich auf den nächsten Marathon im Frühjahr.

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Lieber Bernd,
oh ja, da hört man die Schule von Peter Greif raus.
Du hast es sicher gut gemeint und mit dem ein oder anderen auch recht. Was ich anders sehe, kannst Du in meinen Inline-Anmerkungen nachlesen.
Danke für Den Kommentar und viele Grüße
Joachim

burny hat geschrieben:Ich möchte deinen schönen Bericht nun nicht „kaputt machen“, aber da du direkt fragst, will ich auch gern antworten.

Was mir auffällt, ist, dass du dein Ziel ziemlich schnell und ohne Gegenwehr abschreibst.
Keine Frage. Da hast Du recht. Und das ärgert mich auch selbst, gerade wie Du sagst, weil ich so hart trainiert habe.
burny hat geschrieben: Ob an dem Tag eine Zeit unter 3 h drin gewesen wäre, lässt sich aus der Ferne nur spekulieren. Aber das ist für mich auch nicht der Punkt. Wenn ich so hart trainiert habe, wie du es offensichtlich getan hast, dann will ich auch etwas davon haben. Dann wehre ich mich gegen die drohende Niederlage, setze mir ein alternatives Ziel (z. B. alte PB unterbieten o. ä.), wenn ich es nicht schon vorher getan habe, gerade wenn die Bedingungen nicht so gut sind am Wettkampftag. Peter Greif empfiehlt ja sogar, insgesamt 3 Ziele zu definieren, wenn das Urspungsziel gefährdet ist.

Du hast sozusagen von jetzt auf gleich aufgegeben und dich hängen lassen. 4:57 min/km für die letzten min/km ist ins Ziel joggen. Das klingt jetzt hart. Ich will dich damit nicht angreifen. Ich denke halt, es nützt dir wenig, wenn ich dich beglückwünsche, den Lauf beendet zu haben. Das hilft dir nicht weiter. Bissigkeit trainiert man sich unter anderem an, indem man aus dem Ärger und der Wut über Niederlagen Energie schöpft. Wenn man dagegen noch zufrieden ist mit dem, was man erreicht hat, legt das den Keim für das nächste Scheitern.
Ich war mit dem Ergebnis keineswegs zufrieden. Das ist auch im Bericht nicht anders beschrieben.
burny hat geschrieben: Wenn man ein anspruchsvolles Ziel erreichen will, ist natürlich Training erforderlich. Das hast du getan. Aber dann kommt es darauf an, die Leistung auch abzurufen. Und das funktioniert nicht mit „Durchlaufen des Ziels mit fleckenfreiem weißen Hemd und ohne Staub auf den Schuhen“, sondern nur mit Schweiß, Leiden und Quälerei (um es mal etwas pathetisch auszudrücken). Ohne das erzielst du 80 oder vielleicht 90% deiner Leistung, aber nicht 100%. Es ist auch egal, ob es die Hitze bei km 30 ist oder das nächste Mal der Wind bei km 35 oder das Ziehen im Knie bei km 40, die zum Scheitern führen.

Genau das ist der Punkt. Wenn es super easy ist, kann’s jeder. Aber dann reagierst du auf äußere Gegebenheiten, hoffst, dass ein gnädiger Gott dir den Weg frei macht. Meine Erfahrung ist, dass man die meiste Bissigkeit aus den Wettkämpfen selbst holt: das Gefühl, obwohl es nicht gut lief, trotzdem gekämpft zu haben (und wenigstens ein Alternativziel erreicht zu haben) oder nach einigen harten km plötzlich zu merken: Hey, jetzt läuft’s ja doch wieder besser.Aber das bedeutet, Phasen des Zweifels und der Quälerei durchzustehen, eben zu kämpfen.
Du hast sicher recht, dass man so zu Biss kommt. Aber was Du schreibst, klingt so, dass man nur mit genügend Willensstärke schon seine Ziele erreichen wird. Das glaube ich nicht.
Von den 8 Marathons, die ich bisher gelaufen bin, waren 5 auf den letzten Kilometern die Hölle und ich habe mich durchgebissen mit einer Zeit, die in den meisten Fällen meine Erwartungen nicht erfüllt hat. Zwei liefen von Anfang bis Ende richtig gut und ich schaffte beide Male eine neue Bestzeit. Glaube nicht, dass die nicht super anstrengend gewesen wären und dass ich nicht das Letzte dabei gegeben hätte, aber ich habe mich trotzdem gut dabei gefühlt. Die Erfahrung habe ich auch bei HMs und 10ern gemacht. Je besser ich mich fühle, umso besser ist die Zeit.
Also nur durch Bissigkeit, wenn ich mich vorher aus einer falschen Taktik heraus zu sehr verausgabt habe, werde ich keine Superzeit mehr machen können.

Und noch etwas. Ich möchte auch in 20 Jahren noch Marathon laufen. Wenn die Läufe allerdings jedesmal zur Tortur werden, werde ich bald die Lust verlieren und Marathons nur noch von der Couch aus auf dem Fernseher verfolgen.
burny hat geschrieben: Um es noch mal zu betonen: Ich meine das weder als Vorwurf noch als Kritik. Du musst letztlich selbst wissen, wie du damit umgehen willst. Ich habe meine Erfahrung aus etlichen Marathons eingebracht, und die besagt: Training ist quasi die notwendige Bedingung für den Erfolg, aber entschieden wird das Rennen im Kopf.

Bernd
Hab Deine Vereinsseite gesehen. Hut ab.

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dryrun hat geschrieben:Aber was Du schreibst, klingt so, dass man nur mit genügend Willensstärke schon seine Ziele erreichen wird. Das glaube ich nicht.
Nein, das glaube ich auch nicht, überhaupt nicht.
Gerade weil das kurz zuvor in einem anderen Thread diskutiert wurde (die Ausgangsfrage war nicht ganz identisch, aber es lief mehr oder weniger auf diesen Punkt hinaus) und gerade weil ich dort vehement dagegen argumentiert habe, sehe ich mich gemüßigt, das noch mal zu betonen. Diskussion hier: http://forum.runnersworld.de/forum/lauf ... renze.html

Ist ne ewig lange Diskussion, aber vor allem in Post #24 und #206 habe ich meine Sicht dargelegt.
Ich neige nicht unbedingt dazu, mich selbst zu zitieren, aber mir ist in dem Zusammenhang eingefallen, dass ich vor längerer Zeit mal was ganz Tiefschürfendes (*scherz*) geschrieben habe, das ich hier auch nochmal angeben will. Denn mein Punkt ist weiß Gott nicht der von dir vermutete Greif'sche Superheld, der mit gerissener Achillessehne, Ermüdungsbruch und auf allen Vieren robbend dem Sieg und neuer Bestzeit entgegen eilt.

Was ich hiergeschrieben habe, ist nach vor meine Sicht der Dinge und das, was ich für wesentlich halte, wenn man das Optimum dessen heraus holen will, was man drauf hat (=was man an Potenzial hat und was man durch das Training aufgebaut hat).

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de

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burny hat geschrieben:Ob an dem Tag eine Zeit unter 3 h drin gewesen wäre, lässt sich aus der Ferne nur spekulieren. Aber das ist für mich auch nicht der Punkt.
Klar sind das Vermutungen. Der Punkt ist aber der, dass mit dieser Taktik die Wahrscheinlichkeit sub3 zu laufen sehr gering war. Das bedeutet, das Rennen wurde im Kopf verloren, aber schon bei der Taktikentscheidung.
burny hat geschrieben: Wenn ich so hart trainiert habe, wie du es offensichtlich getan hast, dann will ich auch etwas davon haben. Dann wehre ich mich gegen die drohende Niederlage, setze mir ein alternatives Ziel (z. B. alte PB unterbieten o. ä.), wenn ich es nicht schon vorher getan habe, gerade wenn die Bedingungen nicht so gut sind am Wettkampftag. Peter Greif empfiehlt ja sogar, insgesamt 3 Ziele zu definieren, wenn das Urspungsziel gefährdet ist.[/font]
Das mit den drei Zielen sehe ich ähnlich wie Greif, aber das ist auch keine Garantie dafür, dass man im konkreten Fall alles für ein Alternativziel tut. Die B- und C-Ziele sind eben weniger attraktiv und es ist völlig Normal, dass jemand dafür nicht so weit an die Grenze gehen kann oder will wie für das A-Ziel.

Es gibt eine Menge Weltklasseläufer, die das Rennen nur irgendwie zu Ende bringen ("joggen") oder gar aussteigen, wenn sie keine Chance mehr auf die angestrebte Mindestplatzierung oder Zeit sehen.

Du willst hoffentlich nicht behaupten, dass Otto Normalläufer, nur weil er verbissen für die 3:02 kämpft, nachdem die Sub3 nicht mehr möglich ist, der bessere Läufer ist? :confused:

Und ich will nochmal ein Gedanke zum harten Training anschließen Was viele nicht beachten: das kann auch nach hinten losgehen. Und ich meine nicht körperliche Überlastung oder Übertraining. Sondern wenn jemand über einen zu langen Zeitraum zu hart trainiert, fehlt dann einfach im WK die Quälbereitschaft, der Biss. Die vorhandene "Quälenergie", die "mentalen Körner" wurden vorher im Training verbraucht.

Führt dann u. U. zum sogenannten Trainingsweltmeistersyndrom.
burny hat geschrieben:
4:57 min/km für die letzten min/km ist ins Ziel joggen. Das klingt jetzt hart.
Klingt hart, ist falsch. Wenn 4'15 MRT ist, ist 4'57 nicht joggen. Sicher nicht nach 30km in 4'16.

Gruß

C.

"If a man coaches himself, then he has only himself to blame when he is beaten."
- Sir Roger Bannister

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Greif produziert mMn eine Menge Trainingsweltmeister. Ist die Erfahrung in meinem Umfeld.
Wer sich sklavisch an die Vorgaben hält bzw. sogar immer noch etwas härter trainiert, der resigniert sofort, wenn im WK es nicht gut läuft oder etwas Unvorhergesehenes passiert. Und hat eben ggf. keine Körner für den WK übrig.

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DerC hat geschrieben: Es gibt eine Menge Weltklasseläufer, die das Rennen nur irgendwie zu Ende bringen ("joggen") oder gar aussteigen, wenn sie keine Chance mehr auf die angestrebte Mindestplatzierung oder Zeit sehen.
Das kann ich nachvollziehen, vor allem das Aussteigen. Wenn es, warum auch immer, nicht läuft, ist es rational erklärlich, den Lauf sausen zu lassen und es 2 oder 3 Wochen später erneut zu probieren, egal ob es um Siegprämie, Quali für irgendwas oder sonst was geht. Das ist für mich ähnlich wie im Fußball, wenn das Weiterkommen im Sack ist und die Mannschaft fürs nächste Spiel geschont wird. Aber das war hier ja nicht der Fall. Ich werde es übrigens ähnlich machen: Ich trainiere für die 100 km am 30.4., weil ich nochmal unter 8 h laufen will. Wenn die Temperaturen zu hoch sind, lasse ich den Lauf sausen und probier's erneut im September.
DerC hat geschrieben: Du willst hoffentlich nicht behaupten, dass Otto Normalläufer, nur weil er verbissen für die 3:02 kämpft, nachdem die Sub3 nicht mehr möglich ist, der bessere Läufer ist? :confused:
Manchmal schon, jedenfalls ringt er mir manchmal mehr Respekt ab. Wenn ich an den groß angekündigten Marathon von Dieter Baumann in Hamburg 2002 und das klägliche Aussteigen denke, bin ich immer noch nicht sicher, ob ich die ganze Aktion eher peinlich oder eher lächerlich finde (mit dem ganzen Brimborium drumherum, der Art und Weise des Scheiterns, den Rechtfertigungen hinterher etc.).

Bernd
Das Remake
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