1. September 2010. 24 Stunden von Bernau. Nach 8,5 Stunden und knapp unter 85 Kilometern hat mir jemand um 22:30 Uhr den Stecker rausgezogen. Totalkollaps mit darauf folgenden 8 Stunden Schüttelfrost im Zelt. Anstatt die Nacht durchzulaufen, habe ich sie durchgezittert und -geschlafen. Das war nicht so geplant.
Für den 14. Juli 2012 ist mein nächster 24er geplant. Und ich habe einen Heidenrespekt vor diesem Lauf. An sich schon. Aber noch mehr vor den Stunden von 22-6 Uhr. Weil das gegen meinen Biorhythmus ist. Weil es da dunkel ist. Weil ich da auch in Bernau gescheitert bin. Was folgern wir daraus? Wir müssen das vorher ausprobieren. Sich der Angst stellen. Ihr begegnen. Konfrontationstherapie nennt man das, glaube ich.
Also habe ich mir einen „Nacht-Dreierpack“ zur Vorbereitung geschnürt. Drei Läufe über je 100 KM, die nur durch die Nacht gehen. Wenn ich das gut überstehe, bin ich getrost und gerüstet.
25. Mai 2012. Es ist Mitternacht und ich sitze auf dem Klo im Schützenhaus zu Apfelstädt. Zum wiederholten Male. Vorher habe ich meinen Mageninhalt auch schon auf anderem Wege in den Büschen verteilt. Ich bin tierisch angenervt. Ich habe Magenkrämpfe, noch nicht mal Wasser will bei mir bleiben. Nach weiteren 2,5 Stunden, um 03:30 Uhr, beschließe ich Schluss zu machen. Mit knapp 35 Kilometern beende ich den 10-Stunden Nachtlauf und damit meine erste von 3 Nachtlaufproben vorzeitig. Das war nicht ganz so, wie es sollte. Das hat jetzt nicht wirklich dazu beigetragen, meine Angst vor der Nacht zu minimieren... Mal sehne, was da in Biel kommt...
Am Donnerstag, den 07. Juni reise ich mit dem Zug von Freiberg nach Freiburg. Eine Anreise am Lauftag selber wäre möglich, aber sehr knapp geworden, auch wenn der Start erst um 22 Uhr erfolgt. Also fahre ich schon einen Tag früher und nächtige bei der Familie einer Freundin eines ehemaligen Gemeindemitgliedes von mir. Kompliziert, aber toll: Obwohl ich diese Familie außer über ein paar Mails überhaupt nicht kenne, werde ich unglaublich herzlich empfangen und aufgenommen. Es war eine sehr, sehr nette Zeit bei euch!!!
Ich weiß ja, dass ich nicht der vernünftigste Läufer bin, den die Welt je gesehen hat. Aber dieses Mal habe ich mich, was die Vorbereitung der 100 km von Biel angeht, selber übertroffen.
Da dieser Lauf ja kein Jahreshöhepunkt oder so was war, sondern „nur“ ein Vorbereitungswettkampf, habe ich mich im Vorfeld so gut wie gar nicht mit der Strecke beschäftigt. Wann gibt es wo und was zur Verpflegung, wie sieht das Höhenprofil aus, wie ist die Beschaffenheit der Wege etc. Im Verlauf des Rennens merkte ich, dass so manche Information durchaus sinnvoll und weiterbringend gewesen wäre...
Und auch das mit dem Tapering... war so eine Sache. Am Sonntag vor Biel wollte ich zum Abschluss meines Urlaubs unbedingt noch einen Marathon laufen. Nicht gerade weise. Mir dann noch den Europamarathon Görlitz mit seiner recht anspruchsvollen Strecke mit knapp 300 Höhenmetern hoch und wieder runter auszusuchen war noch weniger weise. Ihn dann auch noch nicht wie geplant in knapp sub 4, sondern in 3:33 zu laufen (aber es lief doch so gut... und die Zahl sah so nett aus...) war dann wohl der Gipfel der Torheit.
Und das hörte auch in der Woche vor Biel nicht auf. Ich versuchte, genug Schlaf zu bekommen (beim Versuch blieb es dann auch) und am Abend vor Biel bin ich dann bei meiner Gastfamilie noch zu einem „ganz kurzen Trainingslauf“ zum Beine locker machen losgelaufen. Resultat waren über 10 km im strömenden Regen, mit Stürzen auf matschigen Feldwegen und etlichen Höhenmetern durch wunderschöne Weinberge. Es war einfach zu toll, um kürzer zu laufen...
Wenigstens gut geschlafen habe ich, so dass ich dann, nachdem ich noch ein wenig mit dem Zug durch die Gegend gefahren bin uns gearbeitet habe, um 19 Uhr in Biel angekommen bin.
Das Abholen der Startunterlagen verläuft reibungslos und blitzeschnell, es ist überhaupt alles hervorragend organisiert. Und so überbrücke ich die Zeit bis zum Start mit Lesen und versuche mich noch ein wenig zu entspannen. Kurz vor Zehn begebe ich mich in den Startblock – und merke, dass ich das hätte früher tun sollen. Denn der Startblock war gerammelt voll – und ich stand ganz hinten. Ich versuchte, mich ein wenig nach vorne zu drängeln, aber als ich nach gefühlten 5 Minuten neben Sigrid Eichler stand, wusste ich, dass ich definitiv zu weit hinten war. Was tun? Ich hatte echt keine Lust, mehrere Kilometer Slalom zu laufen. Also hinten wieder raus, und weiter vorne über die Absperrung geklettert. Keinen Moment zu spät, denn schon Sekunden später ertönte der Startschuss (der seinen Namen in Biel wirklich, wirklich verdient!!!) und ab ging die Paula!
Meine Streckenkenntnis war,wie schon gesagt marginal. Ein paar Kilometer durch Biel (wie viele noch mal? Kein Ahnung!), dann raus aufs Land. Feldwege vor allem, glaube ich. Bei KM 54 (falsch, wie sich später rausstellte und mich echt frustrierte) VP Kirchberg, so ca. 5 KM später der Emmendamm (wieder falsch), das am schlechtesten zu laufende Streckenstück (sehr richtig!!!). Flache Strecke. (Naja, nicht ganz falsch. Für die Schweiz bestimmt. Auch ist die Anzahl der HM für einen 100er nicht hoch. Insofern korrekt. Aber für das, was ich erwartet, war es schlichtweg falsch, so dieses Rennen anzugehen)
Ca. 500 Meter nach dem Start konnte man frei laufen – was nicht hieß, dass man alleine war. Im Gegenteil. Das Feld blieb bis ca. Km 40 dicht zusammen, und auch danach, bis zum Schluss, gab es kaum einen Moment, wo ich wirklich alleine war. Das habe ich in meiner Leistungsklasse (oft kurz hinter den ersten 10%) bei einem Ultra noch nicht erlebt! Aber das ist natürlich sehr angenehm, ich habe das wirklich genossen.
Wir laufen also die ersten 6 Kilometer so kreuz und quer durch Biel, ich muss überrascht feststellen, dass ich zu schnell laufe. Km 3 in 05:06! Geht gar nicht. Tempo raus. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Weil: Hier steppt der Bär! Was hier los ist, um diese Uhrzeit, das geht auf keine Kuhhaut. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, schreit, gröhlt und feiert uns. Wie will man da langsamer laufen? Ich versuche es trotzdem. Gelingt mehr schlecht als recht.
Und ich kann es nicht fassen: Diese Stimmung bleibt erhalten. Jedes Dorf, das wir durchqueren (und das sind einige, denn auh die Annahme mit den Feldwegen erweist sich als falsch), ist auf den Beinen. Auch wenn es schon 2, 3, 4 Uhr ist. Immer wieder stehen Menschen am Straßenrand, sitzen in Kneipen und Biergärten, vor ihren Häusern und feuern uns an. Wahnsinn. Einfach toll. So was habe ich noch nicht erlebt. Sogar beim Dresden-Marathon (und das ist ein Stadtmarathon der tagsüber stattfindet) ist erheblich weniger los! Liebe Schweizer, ihr seid meine neuen Helden. Das muss euch erst mal jemand nachmachen! Und noch was bringe ich aus der Schweiz mit: Einen neuen Lieblingsanfeuerungsruf: Hopp, Hopp, Hopp. Immer wieder ertönt der. Ganz großes Tennis!
Bei Km 6 etwa kommt der erste lange Berg. Anfangs laufe ich noch, dann gehe ich. Muss ja nicht sein, hier schon alle Körner zu verbrennen. Mensch, der hört gar nicht mehr auf. Irgendwann hat er dann doch ein Ende und direkt danach geht es im Sauseschritt wieder ins Tal. Die Stirnlampe, die ich mitgenommen habe, steckt in der Tasche, sie ist absolut überflüssig. Auch ohne die Mitläufer würde es ohne gehen, aber mit dem dichten Läuferfeld um mich herum, von dem einige ganze Flagscheinwerfer mitzuführen scheinen, ist mehr als genug Licht vorhanden, so dass ich die für mich unangenehm zu tragende Lampe in der Tasche lassen kann.
Ich schwitze wie ein Ochse. Anscheinend habe ich mich tatsächlich zu warm angezogen. Der Wetterbericht hatte 10-13 Grad verkündet. Kurz oder Lang? Ich konnte mich nicht entscheiden. Und da ich vor dem Start, beim Lesen in T-Shirt und dickem Pulli gefroren hatte, habe ich mich für ein dünnes Longsleeve mit T-Shirt darüber entschieden. Das war wohl zu viel. Mir rinnt der Schweiß in Strömen vom Körper und bei jeder Verpflegungsstation muss ich drei bis vier Becher trinken, ich habe richtig Durst. Ungewohnt, habe ich sonst bei solchen Temperaturen nicht. In diesem Moment ärgere ich mich über die Kleidungswahl, werde später aber wirklich froh sein, mich so entschieden zu haben.
Die Strecke ist gut zu laufen. Bei km 10-15 geht es über Feldwege, auf denen sich noch einige Pfützen befinden, ansonsten geht der Lauf vor allem über asphaltierte Wege und Straßen – was ich ja sehr gerne mag. Es besteht nie die Gefahr, sich zu verlaufen, die Strecke ist hervorragend markiert und eine Heerschar an Helfern macht einen super Job.
Bei Km 15 fällt es mir zum ersten Mal auf. Da stimmt was nicht. Meine Beine fühlen sich nicht so an, wie sie sich nach knapp 1,5 Stunden lockeren Laufens anfühlen sollten. Sie sind müde. Schwer. Das ist nicht gut. So fühlen sie sich im Training wenn überhaupt, nach 30 km an. Wenn ich deutlich schneller laufe als jetzt. Aber ich habe noch 85 km vor mir. FÜNFUNDACHZIG. Zwei volle Marathons. Mehr sogar. Mit diesen Beinen? Das kann ja heiter werden...
Und auch so macht es gerade keinen Spaß. Es ist jetzt halb zwölf. Ich bin müde. Mein Körper sagt mir ganz deutlich, was er von der Idee hält, hier jetzt durch die Gegend zu rennen. Nämlich gar nichts. Alles ist schwer, ich bin lustlos, alles ist doof. Es ist einfach nicht meine Zeit. Und ganz ehrlich: Wenn das hier ein Lauf mit vielen kleinen Runden gewesen wäre, ich hätte wahrscheinlich aufgehört. Nur das wissen, dass ich ja irgendwie wieder nach Biel muss – und dort auch keine Möglichkeit zum Schlafen habe – hat mich weiterlaufen lassen. Weiterschlurfen. Äußerst lustlos. Und ganz ehrlich: Auch heute, einen Tag nach dem Lauf, macht mir das Sorgen. Gut, die Beine bin ich selber schuld. Aber diese Lustlosigkeit und Müdigkeit um diese Uhrzeit lassen mich das schlimmste für den 24er erwarten. Das wird mental eine ganz harte Kiste.
Und ich würde jetzt gerne schreiben: Aber das war nur eine kurze Phase, danach ging es hervorragend weiter. Aber die Beine haben sich den ganzen Lauf nicht erholt. Das war von vorne bis hinten hart. Und mental ging es noch bis km 40 so weiter. Dann, um kurz nach 2, war dieses Tief überwunden. Das ist eine sehr positive Erkenntnis: Es geht vorbei. Meine kritische Phase scheint wirklich von 22-02 Uhr zu gehen. Gut zu wissen.
Bei km 30 treffe ich zum ersten Mal „meinen Franzosen“, wie ich ihn liebevoll nenne. Junger Kerl, etwas älter als ich, ist mit 2 Fahrradbegleitern unterwegs. Ich weiß nicht, ob er wirklich Franzose ist, aber er redet Französisch. Und der Kerl ist sehr fit drauf, hat einen sehr lockeren, kraftvollen Laufstil. Und er regt mich auf. Nervt mich. Und ich weiß nicht warum. Hat mir ja nix getan. Trotzdem finde ich ihn doof. Und ich laufe ihm dauern über den Weg. Er überholt mich, zieht von dannen – um sich dann von mir wieder einholen zu lassen. So geht es die ganze Zeit, gute 30 Km lang. Erst am Emmendamm zieht er von dannen.
Ein großes Problem für mich ist, das merke ich jetzt, das internationale Starterfeld. Ich bin eine alte Labertasche und quatsche bei Läufen gerne die Läufer um mich herum an. Mal nur für einen blöden Witz, mal auch gerne für ein längeres Gespräch. Das hilft mir immer sehr, vor allem wenn es mir schlecht geht, so wie jetzt. Und hier in Biel habe ich endlich mal genug potentielle Opfer um mich herum, eigentlich ja hervorragend. Aber ich merke schnell, dass es hier drei Gruppen von Läufern gibt, zu welcher Gruppe ein Läufer gehört, merkt man erst wenn man ihn anspricht:
Gruppe 1: Die Deutschen. Die verstehen mich, die können dann auch antworten, alles ist gut. Ob man sich mit ihnen versteht und sich in Gespräch entwickelt steht dann auf einem anderen Blatt, aber das ist ja erst mal egal.
Gruppe 2: Die nicht deutschen, nicht deutschsprachigen Läufer. Gibt es auch einige davon. Polen, Russen, Franzosen, Italiener. Erkennt man daran, dass sie entweder gar nicht reagieren, wenn man sie anspricht, oder nur mit einem Schulterzucken.
Gruppe 3: Die Schweizer. Die verstehen mich, sie antworten auch – aber dann verstehen ich sie nicht. Ganz blöde Situation. Äußerst peinlich. Wenn man erkennt, dass das jetzt sowas wie deutsch war, aber nicht antworten kann.
Diese Unterteilung hat mich dann dazu veranlasst, nur noch Läufer anzusprechen, die aufgrund ihrer Shirts als sehr wahrscheinlich Deutsche zu erkennen waren. Auch ne Erfahrung...
b Kilometer 40 geht es mir langsam besser. Zumindest mental. Den ersten Marathon laufe ich in 04:05, damit bin ich sehr zufrieden. Die Hälfte, km 50 passiere ich in 4:50:20. Auch mehr als ok. Immer, wenn es mir schlechter geht, verwerfe ich alle Zeitziele, wenn es dann wieder besser geht, formuliere ich sie neu. Ich hatte im Vorfeld von 09:40 geträumt, aber das wird der Strecke nicht gerecht. Jetzt manifestiert sich das Ziel sub 10 immer mehr – und dafür ist die Halbzeit doch in Ordnung.
Außerdem hilft es mir sehr zu wissen, dass jetzt mehr als die Hälfte rum ist. Denn jetzt dürfen die Beine auch weh tun. Die Müdigkeit hält sich mehr und mehr in Grenzen und so ziehe ich fröhlich meiner Wege. Ich kann mein Tempo noch gut halten, werde kaum überholt (außer immer wieder von meinem Franzosen) und hole immer wieder Läufer vor mir ein. Eine tolle Sache in Biel ist, dass alle Läufer, die nicht die 100 km laufen, sondern Halbmarathon, Marathon oder Staffel, zwei Startnummern tragen müssen: Eine normale vorne und eine mit ihrem Wettbewerb hinten. Und es war für mich wirklich immer sehr beruhigend, wenn mal wieder einer vorbeigezogen ist, das Schild „Staffette“ zu sehen. Gut, ich bin doch nicht stehen geblieben...
So geht es immer weiter vor sich hin, bis ich dann bei km 56 in Kirchberg ankomme (ja, km 56, nicht 54, und diese ver**** Station wollte einfach nicht kommen!!!). Kurz gestärkt, und dann los, auf zum Emmendamm. (Kleine Anekdote: Ich wusste, dass dieses Wegstück so heißt. Ich wusste auch, dass es einen Käse gibt, der auch mit E anfängt. Ich war mir aber sicher, dass er nicht Emmendammer heißt. Ich habe mich dann fast eine Stunde damit beschäftigt zu grübeln, wie dieser Käse denn so heißt – und hatte wirklich einige amüsante Gedanken und Ideen dabei. Was Laufen doch so aus einem macht...)
Der Emmendamm, auch Ho-Chi-Min-Pfad genannt, sollte das ekelhafteste Stück des Laufes sein. Lampe dringend empfohlen. Schmal, wurzelig, mit vielen Steinen. Höchste Stolpergefahr. Zumal dieses Stück ja nach knapp 60 Kilometern zu einer Zeit kommt, in der die Beine doch schon recht müde sind.
Und ich wurde – leider – nicht enttäuscht. Das war unglaublich ekelhaft. Fast 5 Kilometer ständige Angst umzuknicken, zu stolpern. Es tat weh, dort zu laufen. Und ich glaube, sogar im hellen, mit ausgeruhten Beinen, ist dieser Weg kein Zuckerschlecken. Hier musste ich, was mir sonst selten passiert, richtig viele Läufer ziehen lassen. Auch mein Franzose zog hier von dannen. Ich hätte mich am liebsten an den Rand gesetzt und geweint, nicht wegen des Franzosen, sondern weil ich einfach nicht mehr wollte. 10 Stunden fühle sich hier wie eine Utopie an. Noch fast ein ganzer Marathon zu laufen. Und ich war alle.
Auf einmal merkte ich, dass ein Läufer hinter mir war – und blieb. Die ganzen letzten 2 Kilometer auf diesem blöden Damm. An der Verpflegungsstation sah ich ihn dann zum ersten Mal, und aus irgendeinem Grund blieben wir die nächsten Kilometer zusammen. Und das war mein großes Glück. Wir haben nicht viel geredet, ich weiß nur, dass er aus Südtirol kommt, ich schätzte ihn auf etwa 50 Jahre. Und so liefen wir, unabgesprochen, zusammen. An den Verpflegungsstellen warteten wir aufeinander, und zogen so unseres Weges – und zogen das Tempo an. Mal machte ich die Führungsarbeit, mal er. Und das Tempo erhöhte sich auf 5:30-5:40 / km. Klingt jetzt nicht so schnell? Nach so einem Tief wie am Emmendamm, mit müden Beinen, um halb 5 Uhr morgens IST das schnell. Schneller, als ich für möglich gehalten hätte. Und so wurden die nächsten 17 Kilometer nicht leicht, aber angenehm. Wir wurden gar nicht mehr überholt, sammelten aber Läufer um Läufer ein. Das war schon klasse!
Was mich wunderte war, dass es einfach nicht hell wurde. Ich hatte in den letzten Tagen mal drauf geachtet: In Freiberg war es um 4 Uhr so hell, dass man im Zimmer alles ohne Licht betrachten konnte. In Biel konnte ich um 5 Uhr meine Uhr noch nicht problemlos ablesen. Das hat mich auch ein wenig frustriert.
Was ich schnell merkte war, dass mein Begleiter noch fitter war als ich. Vor allem an Anstiegen musste ich schon sehr beißen, um dran bleiben zu können, und auch wenn er vorne weg lief, war meine Mühe doch erheblich, keine Lücke reißen zu lassen.
Bei km 76 ertönten auf einmal die Klänge einer Trompete. Ich kannte dieses Lied. Konnte es aber nicht zuordnen. Textfetzen kamen in meinen Verstand. „...Vögel sangen Lieder...“ Was ist das für ein Lied, ich kenne das do... RENNSTEIG! Da steht jemand, nachts um halb sechs, mitten in der Schweizer Pampa und spielt das Rennsteiglied. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen.
In Bibern, bei km 76, war unsere Läuferallianz dann leider zu Ende. Denn dort erhob sich noch einmal der letzte wirklich steile, längere Hügel vor uns (wer meinte noch mal, die Strecke sei flach?!?). Und mir war klar: Hier komme ich nicht laufend hoch. Mein Begleiter schon. So musste ich ihn ziehen lassen und wanderte diesen Berg hoch. Ein Mitläufer, den ich dabei überholte, meinte, das sei wirklich der letzte Berg des Laufs. Hier hoch, dann langgezogen wieder runter, und dann, ab km 80, nur noch am Wasser entlang nach Biel. Das klingt doch gut, das klingt machbar.
Oben angekommen ließ ich es rollen. Jetzt wollte ich es doch irgendwie wissen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die 10 Stunden so gut wie sicher waren. Sollte ich nicht einbrechen und nicht extrem viel langsamer werden, müsste ich unter 10 stunden ins Ziel kommen. Also ließ ich es rollen und sammelte Läufer um Läufer ein. Das gibt mir jedes Mal so viel Motivation, da fühle ich mich immer richtig beflügelt.
In Arch, und damit unten angekommen ging es dann an das Ufer der Aare, für mich mit der schönste Abschnitt des Laufs. Ein kleiner, schmaler, flacher Schotterweg, wunderschön am Fluss gelegen, gut zu laufen, und es ist hell, so dass man die Strecke auch sehe und genießen kann. Die Kilometerschilder, die in Biel (außer bei den ersten und letzten 5 Kilometern) in 5-KM-Schritten stehen, wurden meine Zwischenziele. Nur noch von Schild zu Schild denken. Etwas bei KM 85 begann ich noch mal zu rechnen. Wäre doch schön, wenn ich die zweite Hälfte auch unter 5 Stunden laufen könnte. Das wird ein wenig knapper, ist aber noch möglich. Und da ich gerade eine gute Phase hatte, von Müdigkeit keine Spur mehr, die Beine fühlten sich an, wie sie sich nach knapp 90 Kilometern anfühlen dürfen – lass es us versuchen. Und ich sammelte weiter Läufer ein.
In Büren, bei km 88, schnorrte ich mir bei feiernden Jugendlichen noch einen Becher Bier, der mir bereitwillig und unter großen Staunen gewährt wurde. So nett Iso, Wasser und Cola auch sein mochten, ich hatte so eine Lust auf etwas bitteres, ich glaube, so gut hat mir Bier selten geschmeckt.
Kurz nach dieser Erfrischung wechselten wir die Flussseite – und die große Ödnis begann.
War es am Ufer der Aare noch schön, malerisch und abwechslungsreich, war es jetzt am Ufer des Nidau-Büren-Kanals stinklangweilig. Schnurgerade, breiter Asphaltweg, keine Abwechslung. Grausam. Und das ganze 10 Kilometer lang, die sich endlos in die Länge zogen. Die Schilder wollten einfach nicht kommen und meine Motivation mich zu quälen war auch nicht mehr vorhanden. Wofür auch? Die sub 10 war sicher, dass ich die zweite Hälfte unter 5 Stunden laufe war mir nicht wirklich wichtig. Also schleppte, quälte schob ich mich über diesen Streckenteil. Ich konnte auch nicht mehr wirklich zu anderen Läufern aufschließen. Warum auch?
Bei km 96 änderte sich die Strecke wieder langsam. Sie wurde abwechslungsreicher, mehr Knicks und Winkel, die Ausläufer von Biel waren erreicht. Und mit dem Ende der Strecke kam auch meine Motivation zurück. Einen Endspurt würde ich mir heute nicht mehr antun, aber wenn ich jetzt jetzt Kilometer unter 4:45 laufe komme ich sicher unter 9:50 ins Ziel – und damit beende ich die 2. Hälft – genau, unter 5 Stunden. Also habe ich noch mal den Hintern zusammengekniffen, auf meine Haltung geachtet und bin konzentrierter weitergelaufen.
Mit dem Ergebnis, dass nicht nur meine Zeiten wieder besser wurden, sondern ich auch wieder Läufer sammeln konnte. Auf den letzten Kilometern habe ich dann noch gut und gerne 10 Läufer kassiert, was mir sehr Spaß gemacht hat, vor allem, dass unter ihnen auch „mein Franzose“ war. Ein bisschen Genugtuung war da dabei. Komisch, wo er mir doch wirklich nichts getan hat.
Die letzten 2 Kilometer durch Biel konnte ich dann noch richtig genießen, trotz zweier letzter gemeiner, wenn aquch kurzer Anstiege lief ich die KM 99 und 100 in jeweils unter5:30. Das zeigt doch, dass ich mir das Rennen nicht ganz schlecht eingeteilt habe.
Den Zieleinlauf noch mal voll genossen und mit 9:48:37 Stunden ins Ziel eingelaufen. Perfekt. Damit kann ich sehr zufrieden sein!
Im Ziel dann noch die einzige Enttäuschung, was die Organisation angeht. Es gab nur Wasser und Iso zu trinken. Kein Bier, kein Kaffee, keinen Saft, nichts. An fester Nahrung nur Brot und Bananen. Und als ich mir mit einem Becher Wasser die Hände gewaschen habe, die total verklebt waren, wurde ich angemeckert, dass dafür doch die Duschen da wären. Bei einem Lauf, für den ich mit über 100 Euro mehr als das Doppelte meiner eigentlichen Schmerzgrenze bezahlt habe, hätte ich da deutlich mehr erwartet.
(Anmerkung: Ja, es gab Bier. Im Festzelt. Zum Freundschaftspreis von 5 Franken die Flasche!!!)
Mein Fazit: Einmal musst du nach Biel. War nett. War gut. Aber ob ich mir die Reisestrapazen für diesen Lauf noch mal gebe weiß ich noch nicht.
Mein 2. Test für die Nacht ist positiv gelaufen, ich habe in einer sehr annehmbaren Zeit gefinisht. Ohne mich gegen Ende quälen zu müssen. Und ich weiß jetzt, dass die Stunden von 22-02 Uhr bei den 24er mit rennentscheidend werden. Und ich weiß nicht nicht, wie ich damit jetzt umgehe...
Meine Renneinteilung hat übrigens auch wieder anscheinend ganz gut geklappt:
Bei km 38 war ich 218.
Bei km 56 war ich 180.
Bei km 76,5 war ich 126.
Und im Ziel dann 103.
Einen negativen Split bin ich zwar nicht gelaufen, aber die 2. Hälfte „nur“ knapp 8 Minuten langsamer als die erste, das kann sich auf 100 km doch sehen lassen, oder?
In zwei Wochen stehen dann die 100 km in Ulm an. Wenn ich jetzt daran denke, wieder 100 km durch die Nacht zu laufen, mit erheblich mehr Höhenmetern, wird mir schon ein wenig blümerant,,,
Die Nacht - mein Freund? Was das Laufen angeht, sicher nicht. Aber auch nicht mein Feind. Ich hoffe, wir können uns auf ein Waffenstillstandabkommen einigen. Mal sehen!
Danke fürs Durchhalten
nachtzeche
Die Nacht - mein Freund? 100 km Biel 2012
1"Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden!" (Die Bibel, Jesaja 40,31)