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Fuglarnir - Die Vögel

Fuglarnir - Die Vögel

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Kurz hinter der Stadt (immerhin beinahe 3000 Einwohner) werden die Spalten allmählich immer tiefer. Bis zu mehreren Dutzend Metern geht es zwischen den Erdteilen jäh in die Tiefe. Darunter wabert die Hölle, und mittendrin windet sich die Reichsstraße zwischen spärlich bemoosten, bizarren Hümpel hindurch, welche die Flora sich in mühseliger, jahrtausendelanger Kleinarbeit zurückerobert. Bis sich das nächste Mal Feuer und Schwefel über das zarte Grün ergießen.

Leichten Schrittes bin ich in der späten Sonne unterwegs, die um diese Tageszeit zuhause längst untergegangen wäre. Friedlich sieht es ringsum aus, und es herrscht tiefe Stille. Nicht einmal der sonst so stetige, schneidende Wind vom Meer her bläst mir jetzt ins Gesicht. Wenn da nur dieses Warnschild nicht drohte: "Eggjataka bönnuð - Eiernehmung gebannt!"

Im Gegensatz zu Deutschland, wo alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, gilt hier alles als gelaubt, was nicht explizit gebannt ist. Die Leute hier sind dermaßen diszipliniert, daß normalerweise ein einfacher Bann ausreicht. Strenglich gebannt ist lediglich der Gebrauch sogenannter Fahrtelefone in den Dusch- und Umkleidebereichen öffentlicher Badeanstalten. Spätestens seit dieses Land sich wieder aus der Asche erhob, nachdem es vor einem volkswirtschaftlichen Abgrund wiederfand, der selbst die interkontinentalen Spalten an Tiefe übertraf, und statt die Banken zu retten die Schuldigen zum Teufel jagte, sind eben auch hier die Zeiten vorbei, da man mit den besagten Geräten ausschließlich telefonieren konnte. Und was einmal im Feisbók (wie man das dort gelegentlich nennt) geschrieben steht, ist mindestens ebenso unauslöschlich wie die Gedanken der weisen Raben Hugin und Munin.

Wie gesagt: Ein Schild kündet hier davon, daß Eiersammeln rechts und links der Straße verboten ist. Das kann nur eins bedeuten! Und da erreicht auch schon der erste gellende Schrei mein Ohr. Das ist die Wache an der Pforte der Hölle, die mir wahrscheinlich gleich bereitet wird. Unwillkürlich werden meine Schritte raumgreifender, obwohl ich doch im Grunde weiß, daß ich keine Chance habe. Meine Gegner sind die ausdauerndsten Langstreckler der Welt und bewegen sich dabei mit dem Tempo eines 400-Meter-Läufers vorwärts. Niemand weiß genau, wie lang ihre durchschnittlichen Etmale sind, aber es reicht für mehrere Bieler Lauftage.

Die Schreie der Wachtposten ertönen in immer dichterer Folge. Da! Ein fauchendes Geräusch an meinem rechten Ohr, und vor mir erhebt sich ein lebender Warnschuß aufs Neue in die Lüfte. Sterna paradisaea - ein Geschöpf mit einem solchen Namen kann und darf man sich nicht anders vorstellen als von überirdischer Anmut, und ebenso grazil wie wunderschön anzusehen ist denn auch der Flug der Küstenseeschwalbe. Aber wehe dem, der sie zum Feind hat - so wie ich, den sie als möglichen Eierdieb betrachten, als Meuchelmörder ihrer Brut!

Anfangs sind ihrer nur wenige. Aber zusehends verdunkeln ihre weißleuchtenden Geschwader den Himmel - was ich jedoch immer weniger wahrzunehmen in der Lage bin, denn längst sehe ich nichts mehr. Die Welt um mich herum ist zu einem einzigen auf- und abschwellenden Schreien und Fauchen geworden. Auf geologische Hexenkessel war ich vorbereitet. Ihretwegen kommt man schließlich aus aller Welt hierher. Dieser biologische Hexenkessel aber raubt mir jede Orientierung. Ringsumher nur die Vögel und der Schrei. Der undurchdringliche Schwarm führt einen irren Wirbel um mich herum auf, einen dichten Tanz aus wehenden Flügelschleiern, der von einem schmerzvollen, aber bezaubernden Tod als alles überragendem und am Ende die ganze Welt in sich aufnehmendem Erlebnis kündet. So soll es nach dem Willen der Tanzenden sein, und so wird es unweigerlich kommen. Denn kein Fahrzeug nähert sich auf der Straße, das mich aufzunehmen und zu retten vermöchte. Daß hier so wenig gebannt und fast alles gelaubt ist, liegt ja nicht zuletzt daran, daß man einander schwerlich auf die Füße tritt, weil die Bevölkerungsdichte nur wenig mehr als ein Hundertstel dessen erreicht, was ich aus der Heimat gewohnt bin, die ich gewiß nicht wiedersehen werde.

Also bereite ich mich schicksalsergeben darauf vor, von ihren scharfen Schnäbeln und Krallen zerhieben und zerschlissen zu werden. Aber sie sollen später nicht sagen können, ich hätte feige resigniert und mich ohne Gegenwehr ihrer schieren Macht gebeugt. Waffen habe ich nicht dabei. Mich ihrer mit fuchtelnden Händen zu erwehren, wäre unter ihrer Würde, denn sie sind ja keine lästigen Fliegen, die man mit einem verächtlichen Handstreich fortscheucht. Und so beschleunige ich abermals meine Schritte und bemühe mich um einen Laufstil, der es mit ihrem Flug, wenn schon nicht an Schnelligkeit, so doch wenigstens an ästhetischer Würde aufnehmen kann. Schön sei der Tod und des edlen Recken würdig!

Ob sie mich für einen solchen halten, ob ich Eindruck auf sie mache oder nicht, weiß ich nicht zu sagen. Mir ist nämlich schlichtweg nicht klar, wie ich die Waffen deuten soll, die sie nun ihrerseits scharf machen. Plötzlich ein platschendes Geräusch, und vor mir auf dem Asphalt leuchtet ein weißer Fleck, der eben noch nicht da war. Und schon wieder - Platsch! Und noch einmal. Immer dichter wird das Bombardement, immer näher kommen die Einschläge. Halten sie es für erforderlich, solch schweres Geschütz einzusetzen, oder wollen sie mir auf ihre Weise zeigen, was sie von meinen lächerlichen Versuchen halten, meine Haut zu retten?

Noch schneller wird mein Lauf. Das macht es ihnen hoffentlich schwerer, mich zu erwischen. Aber weit gefehlt! Sie übernehmen einfach mein Tempo und nehmen in aller Ruhe Maß. Haarscharf neben, hinter und vor mir prasseln die Projektile auf die Straße. Hätten sie mich treffen wollen, hätten sie das längst getan. Aber sie bevorzugen den Nervenkitzel (vor allem den meinigen). Mir ist zumute, als würde ich mich aufs Geratewohl einem Messerwerfer als Zielfigur zur Verfügung stellen, dessen Künste mir völlig unbekannt sind. Und so laufe ich, was die Beine hergeben, von Granaten bespritzt und von dicht an meinem Kopf vorbeijagenden Vögeln getrieben, wie durch das Auge eines Sturms, um mich herum ein steter Wirbel aus weißen Flügeln, roten Schnäbeln und Krallen und ohrenbetäubendem Geschrei.

Mit einemmal aber - niemand vermag zu sagen, wie sich das zugetragen hat - verliert das Tosen der Vögel jeden Schrecken. Diese Ergebenheit in das Unabänderliche, in die Rückkehr in die Asche und den Staub, aus denen sich einst mein Dasein verdichtete, dieses finale Delirium ist das untrügliche Anzeichen dafür, daß das Ende naht. Der tanzende Schleier gleicht mehr und mehr einer sanften Welle, die sich wärmend über mich ergießt, und der Chor der langgezogenen Rufe scheint sich verwandelt zu haben in ein Streichorchester, dessen anfangs noch klagende Töne immer tröstlicher und ruhiger dem Ursprung allen Lebens entgegentreiben. Hart ist der Asphalt unter meinen Füßen, aber weich werde ich fallen. Schön ist der Tod. Gleich...

Der Schlußakkord des Geschreis, das in meinen müden Ohren längst zum Engelsgesang geworden ist, verhallt mit einem Glockenschlag, der noch einige weniger werdende, abebbende Rufe hinterläßt. Der Schleier zerstiebt, und sich immer mehr vereinzelnde Vögel verwehen wie große weiße Blüten, die der Wind vor sich hertreibt. Über alledem steht unverhofft die Sonne, die nun den Norden fast erreicht hat und um diese Tageszeit zuhause längst untergegangen wäre. Ob sie es auch ist, die alles ringsumher in leuchtendes Rot taucht, und nicht mein Blut, das ich doch eben noch meinem geschundenen Leib entwichen meinte? Ist dies nun ein neues Leben oder noch das alte? Ach, egal...
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!
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