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„Wir laufen über den Gottesacker...“, Walser Ultra Trail 2015

„Wir laufen über den Gottesacker...“, Walser Ultra Trail 2015

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Klingt morbid makaber aber so verkündet es der Veranstalter Erich Pühringer zu unchristlicher Zeit um 5:45 Uhr den in froher Erwartung, wartenden Trailjunkies vor der kleinen Gemeindehalle in Riezlern im Kleinwalsertal. „Wir nehmen nicht die Ausweichroute, oben hat es derzeit 70 – 80 m Sicht und durch den Regen ist es etwas rutschig. Paßt halt ein bisschen auf und haltet euch an die Markierungen.“ Ich schaue mir die mit allerlei Trailgimmicks aufgebrezelten Teilnehmer um mich herum an und ertappe mich bei dem Gedanken, vielleicht zwar zur richtigen Zeit, aber doch am falschen Ort zu sein. Was will ich mir hier beweisen? Das ich mit meiner eher bescheidenen Traillaufvita hier mithalten kann. Versuche ich in einen elitären Club zu kommen, dessen Aufnahmebedingungen meiner Platzreife nicht annähernd entsprechen. Irgendwie schleicht sich in meinen Gehirnwindungen der Gedanke ein, mich entgegen meiner üblichen Gepflogenheiten, hier auf etwas eingelassen zu haben, das meiner Kragenweite bei weitem nicht entspricht. Und geradezu fahrlässig habe ich mir keine richtigen Gedanken gemacht, wie lange es dauern könnte im Hochgebirge reinrassige Bergtrails über 65 km und ca. 4200 hm zu bewältigen. Als Zielzeit waren vom Veranstalter 17 Stunden angesetzt. Das hieß bei einem Start um 6:00 Uhr in Riezlern bis um 23.00 Uhr wieder hier zu sein. Zur Pflichtausrüstung war daher unter anderen eine Stirnlampe zwingend vorgeschrieben. Stirnlampe. Püh, dachte ich im Vorfeld. Schnickschnack. Den vergleichbar langen Allgäuer Panorama Ultramarathon habe ich letztes Jahr unter Zehneinhalb Stunden absolviert. Gut, der hatte nur knapp 3000 hm. Schlage ich da mal 4 - 5 Stunden dazu so meine irrige Annahme, wäre ich noch vor Einbruch der Dunkelheit im Ziel. Zur Not nehme ich halt das kleine Discounterlämple mit. „Errare humanum est“ oder ganz locker frei übersetzt: „Irren ist dämlich.“ Und nicht zum ersten Mal machte der Schauläufer von dieser zweifelhaften Errungenschaft seiner Gene reichlich Gebrauch.

Dabei hätten die Alarmglocken schon früher klingeln müssen. Meine wildesten, aber auch schönsten Strecken alpiner Trails, hatte ich schließlich auch beim heute verantwortlichen Tri-Team Kleinwalsertal kennengelernt. 2011 beim Kanzelwandberglauf und noch mehr bei der Widdersteinumrundung im selben Jahr. Teile dieser Strecke beinhaltete der heutige Ultratrail. Und den Abstieg vom Ifen über das Schwarzwassertal kannte ich von einer Bergtour. Also wurde ohne weiteres studieren des Höhenprofils kurz entschlossen gemeldet. Heute morgen um Viertel vor Vier der Wecker getötet um von meinem Quartier im Westallgäu, eine Dreiviertelstunde entfernt, anzureisen und jetzt abzuwarten das es endlich losgeht. Das offizielle Briefing ist mit dem prägnanten Hinweis, das auf der kurz nach dem Start kommenden Hängebrücke nicht gelaufen werden sollte und der Aussicht am Nachmittag besseres Wetter zu haben auch schon beendet. Klar, Walser und Allgäuer sind sich ähnlich, wenn es darum geht sich langatmige Erklärungen, die im Startfieber eh keiner aufmerksam verfolgt, zu ersparen. Mir wird nun jedenfalls das ganze Ausmaß meiner unüberlegten Startentscheidung klar. Heute heißt es kämpfen. Denn da gibt es auch noch ein paar sportliche Zeitlimits an den Verpflegungspunkten einzuhalten.

Nach einem kurzen, handgemachten, dreistimmigen Alphornständchen geht, pünktlich zum Start - ohne das obligatorische, aufputschende, stromgeladene Heavy Metal Gebimmel oder bombastisch, schwülstige Sphärengebilde paradisischer Unternehmungen - der Niesel in leichten Regen über. Klasse, ich hatte mir kurz vorm Start noch die Regenjacke ausgezogen. Bereits nach ein paar Metern guten österreichischen Bitumenasphalts, verlassen wir die Dorfstraße und biegen auf einen Kiesweg ein, der zur besagten Hängebrücke über die Breitach führt. Ich habe mich unter den 99 selbst auserwählten „Vertical-Powerwalkern“ vom Start weg weit hinten eingereiht. Jetzt hieß es eh kurz anstehen, ehe über die wild schwankende Brücke gelaufen wird. Weil, gehen würde hier viel zuviel Zeit kosten;-). So wachgerüttelt geht es am anderen Ufer im Wandertempo weiter. In einem leichten Bogen wird eine letzte Ansammlung Häuser und ein kleiner Skilift passiert, ehe wir endgültig zivilisatorische Einflüsse verlassen und es leicht bergab zum Schwarzwasserbach führt. Ein weiterer kurzer Stau folgt. Es geht eine steile Metalltreppe hinab, weiter durch eine Klamm. Ein Wasserfall stürzt ab. Sonst niemand. Scheinen hier alle schwindelfrei zu sein und den ersten Test ihrer Tauglichkeit für die folgende zünftige Bergfahrt bestanden zu haben.

Anschließend erster Anstieg. Noch ein Stück Forstautobahn. Ich mühe mich ab meine am Rucksack verstauten Stöcke im Laufschritt zu greifen. Gelingt nicht. Ungefragt bedient mich ein Verfolger beim Überholen mit einem Stock und wird gleich dazu verdonnert mir doch bitte den anderen nachzureichen. Von jetzt ab setze ich meine Anschubhilfe ein. Liegen ja nur läppische 1100 hm vor mir, die nächsten 10 km. Ich wundere mich über das hohe Gehtempo der anderen. Hallo, das geht heute ja noch ein bisschen länger. Ganz entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten lasse ich mich nicht mitreißen. Na ja, arg viel schneller könnte ich eh nicht, muss ich mir ehrlicherweise eingestehen. Also ziere ich den guten Schluss des Feldes. Etwas ungewohnt für mich und ich musste mir jetzt schon eingestehen, dass heute die Trauben sehr hoch hängen würden für mich. Zwischenzeitlich waren wir in „Trailers Paradise“. Wurzelige Felspassagen oder felsige Wurzelpassagen durch den Wald, egal wie man es auch dreht und wendet. Zur Abwechslung immer wieder kurze Abschnitte über moorige Lichtungen, mit morschen, wackligen Holzplanken belegt. Dazu die wabernden Nebelfetzen. Leider zu wenig Zeit das ganze intensivst aufsaugen zu können. Und auch die Kamera bleibt wo sie ist. Der stetigen Feuchtigkeit aus Nebel und anhaltendem Nieselregen wollte ich sie so wenig wie möglich ungeschützt aussetzen.

Die Wege werden zunehmend steiler, schmaler und steiniger. Plötzlich ändert sich das Landschaftsbild gravierend und ich befinde mich auf einem großen zerklüfteten Felsplateau. Das muss der Gottesacker sein. Zerfurcht und verschrunden wie das Gesicht das mir allmorgendlich im Bad begegnet. Wie auf einem spaltenreichen Gletscher gilt es nun einen sicheren Weg zu finden. Über Klüfte zu springen, Brücken suchen und kleinere Umwege in Kauf zu nehmen. Die Sicht ist zwischenzeitlich besser als morgens noch angekündigt. Da wenig Läufer in meinem Sichtfeld sind gilt es auf die orangenen Bandmarkierungen oder roten Pfeile am Boden zu achten, denn eine offizielle Wegkennzeichnung gibt es hier nicht. Ich bin ganz fasziniert von der wilden Landschaft und lasse mir Zeit. Es geht nun weiter unterhalb des Ifenmassivs bis zum seilversicherten Abstieg ins Schwarzwassertal. Diesen Abschnitt kenne ich und habe ihn im Vorfeld keine größere Bedeutung zugestanden. Heute ist der Fels aber nass und die Seile und Metalltritte schmierig und glitschig. Klar sind ja heute auch schon fast hundertfach mit schlammigen Sohlen in Berührung gekommen. Ich fühle mich ganz und gar nicht sicher und komme mir vor wie ein Flachlandtiroler, obwohl ich schon einige anspruchsvollere Bergtouren unternommen habe. Das ich als bekennender „Ferra(ta)risti“ gerne am Drahtseil über Abgründen hänge, heute aber an der „Schlüsselstelle“ überholt werde, stimmt mich dann doch recht nachdenklich. War ich 2015 zu lange auf Asphalt unterwegs und bin zwischenzeitlich zum Kinderwagenweg-Spaziergänger degeneriert.

Danach wird der Untergrund endlich laufkompatibel. Na ja, für mich eher im gemäßigten Tempo, alle Sinne geschärft, in der Hoffnung unfallfrei durch den schlammigen Downhill zu kommen. 900 negative Höhenmeter werden dergestalt vernichtet. Zum Schluss der lange berüchtigte Fahrweg, der ab der Melködealm, so richtig zum Gasgeben einlädt. Nach 22 km Distanz taucht die Talstation des Sesselliftes zum Ifen auf. Der VP an der Auenhütte ist nicht mehr weit. Fast 5 Stunden habe ich für diese paar Kilometer gebraucht. So langsam schwant mir, dass mein krudes Zeitkonzept nicht aufgeht und ich heute noch unentspannt der verbleibenden Restzeit hinterherhecheln muss um im Rennen zu bleiben. Ursprünglich war der erste Cut Off beim Verpflegungspunkt 2 auf 11:15 Uhr gelegt. Als ich dort zu ersten längeren Einkehr aufschlage ist es kurz vor 11:00 Uhr. Die Damen dort versichern mir aber, dass dieser auf 12:15 verlegt wurde , aufgrund des seit gestern Abend anhaltenden ausgiebigen Regens. Der mich dazu veranlasst hatte, bereits vor dem Abstieg vom Ifen, meine Regenjacke überzuziehen. Was ich mir jetzt noch gönnte war der Druckstelle in meinem linken Speedcross auf den Grund zu gehen. Wahrscheinlich ein Steinchen, dass trotz Gamasche, seinen Weg unterhalb des großen Zehen gefunden hatte. Zeit hatte ich ja jetzt genügend in Reserve. Oder? Verwundert war ich immer noch darüber, dass ich soweit hinten im Feld liege. Platz 86. Viele dürften nach mir nicht mehr kommen.

Mit voll geschlagenem Magen geht es über den Parkplatz ein Stück die Straße hinunter. Aber schon nach wenigen hundert Metern geht es rechts rein und über einen Kiesweg hinauf zum Walmendinger Horn. Ein erholsamer, technisch einfacher Anstieg, zunächst noch moderat steil. 40 km to go. Dieses „aufbauende“ Schild muss ich nun lesen ehe ich die im Nebel liegende Alm erreiche. Einige Wanderer sitzen dort oben und lassen sich ihr Weizen schmecken. Es sind trotz des schlechten Wetters etliche Wandergruppen unterwegs die uns Läufer aufmunternd loben und anfeuern. Das soviel Zuspruch kommt hätte ich nicht erwartet. Ich weiß nicht wie ich vor ein paar Jahren noch, als bekennender Sportmuffel auf diese „Außerirdischen“ reagiert hätte, die da mit einem Affenzahn völlig unentspannt durch die Berge hetzen, anstatt die Aussicht und Ruhe zu genießen. 600 Meter höher bin ich nun seit Verlassen des VP 2, am Gipfel des Walmendinger Horns angekommen. Der zähe Nebel hält sich als es auf den Grat geht. Ein nettes Schild warnt völlig zu Recht davor hier nicht zu überholen. Hallo wenn soll ich überholen? Ich laufe schon seit Stunden mutterseelenallein durch diese Berglandschaft.

Jetzt würde ich gerne das Gefälle des Grates ausnutzen und einen Gang höher schalten. Aber dazu fehlt mir der Mut angesichts des schmierigen, schlammigen, morastigen, schmalen Weges. Eine kleine Rutschpartie und ich müsste mich mit der weiteren Tagesgestaltung nicht mehr beschäftigen, egal ob ich den Steilhang links oder rechts des Trails für die ungewollte Abkürzung ins Tal bevorzuge. Safety First also. Um anschließend das Grünhorn zu erklimmen. Zäh geht es wieder 300 Höhenmeter hoch. Schon über 7 Stunden unterwegs. Gerade mal knapp die Hälfte der 65 km sind geschafft. Die nächsten beiden Kilometer werde ich mir etwas schneller erarbeiten. Es geht runter nach Baad. Gut 800 Meter tiefer. Durch den lieblichen Ort laufe ich der Sonne entgegen. Ja wirklich keine Halluzinationen. Es hat zwischenzeitlich aufgehört zu regen, um dann unvermittelt plötzlich aufzureißen. Sofort spürt man die wärmenden Sonnenstrahlen. Es ist kurz nach zwei. Dank der Cut Off Korrektur habe ich jetzt noch 1 Stunde Luft. Eine Stunde. Vorher am Ifen-Kontrollpunkt waren es noch 15 Minuten mehr. Aufgrund der schon gelaufenen Kilometer und der zunehmenden Wärme werde ich von hier ab bestimmt nicht mehr schneller. Also dranbleiben und nicht unnötig bummeln.

Noch bevor ich mich über das Bufett hermache werde ich von einem Kontrollposten interviewt. „Geht es dir gut? Dies ist die letzte Möglichkeit um das Rennen einfach zu beenden mit dem Bus zurück zu kommen. Ab hier geht es hochalpin weiter und bei einem Abbruch wird es schwierig“. Na toll, denke ich. Sehe ich so mitgenommen aus? „Ich kenne den nächsten Abschnitt durchs Bärgunttal“ antworte ich. „Und denn Weg bis zu Widdersteinhütte.“ Auf dem Weiterweg über den breiten Schotterweg kommen mir nun sehr viele Bergwanderer entgegen. Als ich unmittelbar an der Terrasse der Bärguntalm vorbei muss, hätte ich mich am liebsten zu den Ausflüglern in die Sonne gesetzt und ein kühles Bierchen mitgetrunken. Schnell gehe ich weiter, denn Blick stur nach vorn gerichtet. Zum Glück macht niemand eine dumme Bemerkung. Kurz danach zweigt auch der schöne Trail ab, der mir als Downhill beim Widdersteinlauf 2011 noch in guter Erinnerung ist. Weiter oben, das weiß ich auch noch, geht es über Almwiesen die durch die Kühe total zertrampelt sind. Und durch die Regenfälle der letzten Tage noch mehr aufgeweicht. Das heißt, immer wieder Alternativen suchen, auf die etwas bessere Variante oder die holprige, verstampfte Wiese ausweichen, um nicht bis zu den Knöcheln im Morast zu versinken. Ausweichen, dass musste ich auch schon weiter unterhalb, wo Mountainbiker ihre Räder huckepack den Berg hoch trugen. Auch kein Zuckerschlecken, noch dazu bei der zunehmenden Hitze. Kurz komme ich mit einem der MTBler ins Gespräch. Sie wollen heute auf der Widdersteinhütte übernachten, morgen nach Warth abfahren und bis zum nächsten Samstag in Riva ihre private Transalp Tour beenden. Hört sich verlockend an. Aber fürs Erste bin ich froh bald die nächste VP an der Widdersteinhütte zu erreichen. 43 km, ein bisschen weiter wie Marathon. Denn hatte ich in unglaublich gemächlich wirkenden 9,5 Stunden hinter mich gebracht.

Bis die in Sichtweise liegende Hütte erreicht zieht es sich aber noch. Stetig leichtes auf und ab. Linker Hand das Massiv des Widderstein, Watzmannlike umrangt von Nebelschwaden. Es sieht gewittrig aus. Ich entsinne mich meines Gipfelsturmes vor ein paar Jahren. Da sah es ähnlich aus. Hoffentlich zieht heute nichts herein. Endlich ein Schild. Noch 500 Meter bis zur Verpflegung. Dort angekommen genehmige ich mir erst mal 2 Becher Cola. Hier sitzt schon einer wie ein Häuflein Elend, vollständig eingepackt in Isolierfolie. Persönlicher Rennabbruch. Gerade wird der Ärmste über seine Alternativen aufgeklärt. Entweder 2 km mit Begleitung absteigen und dann mit der Bahn runter fahren oder der Hubschrauber. Letzteres wird sofort vehement abgelehnt. Mir ist nicht klar wie der gestrandete dann vom Bregenzerwald weiterkommt. Ich will über so eine Option gar nicht nachdenken und mache das ich weiter komme. Hier gab es zwar keinen Cut Off. Ich frage trotzdem nach ob das Wetter hielte und ich es bis 20:00 Uhr zum Fiderepaß schaffen könnte. Beides wurde mit einem beruhigenden Ja beantwortet.

Der Weg dorthin sollte in einer gute Stunde machbar sein. Nun ja. Zeitangaben, die für exzessive heimatnahe Bergnutzer gelten, sollte man bekanntermaßen großzügig mit einer 2 multiplizieren. Zumal die reine Wanderzeit bis zur Mindelheimer Hütte bereits mit 3,5 Stunden auf dem Wanderschild angegeben ist. Und die liegt in etwa auf halber Strecke. Also die Gunst der Stunde nutzen und auf der mäßig steilen Abwärtsstrecke, die nach dem Koblatpaß folgt, moderat beschleunigen. Sind ja eigentlich nur 11 km bis zum nächsten VP. Ich erreiche die Mindelheimer Hütte und ein Schild, das in 3 Stunden 15, das erreichen der Fiderepaßhütte ankündigt. Über 1,5 Stunde habe ich schon hierher gebraucht. Oberhalb von mir muss der Mindelheimer Klettersteig verlaufen, denn ich im zarten Alter von 12 Jahren mit meinem Vater gemeistert habe. Mit handgeknüpftem Brustgeschirr und Tirolerhut. Schon seit Jahren versuche ich das ganze zu wiederholen. Natürlich mit dem entsprechenden zeitgemäßen High-Tech Equipment. Ich sollte meine Kamera zücken und ein paar Bilder machen. Aber mir sitzt irgendwie die Angst im Nacken, dass es sich noch ganz schön ziehen wird bis zur Fiderepaßhütte. Und die liegt in über 2000 Metern Höhe. Vor dem Paß lauert noch die gleichnamige Scharte, welche auszuwetzen ist. Wobei mit „wetzen“ ist da nicht viel. Steinig, steil und heiß sind die Attribute. Und die Zahl 400, die für den Anstieg steht. Ich ertappe mich dabei, erstmals heute ohne Grund mehrmals kurz stehen zu bleiben. Bisschen die Aussicht genießen :D und genussvoll die gute Bergluft einatmen. :wink: Mein Hirn bekommt in diesem Moment wohl nicht ausreichend Sauerstoff. Denn ich bin der irrigen Annahme dies sei heute der letzte nennenswerte horizontale Störfaktor für zügiges Reisen. Den hier verwurzelten Gebirgsbewohnern würde wahrscheinlich niemals in den Sinn kommen die Bewältigung dieser marginalen Erdauffaltung weitere Bedeutung zu schenken. Meiner ambivalenten Lust, zusätzlicher vertikaler Ertüchtigungen, war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls ausreichend Genüge getan und mein Tagesbedarf bereits hinreichend gedeckt.

Auch die steilste Scharte hat ihre negativen Seiten an sich und die beginnen jetzt. 200 Meter sanft abschwingen. Einen Kilometer dauert das Vergnügen. Letzte Jause an der Hütte. Bergsteiger sitzen im warmen Licht der Abendsonne und bereiten sich gedanklich auf ihre morgigen Touren vor. Idyllisches Plätzchen. Halb acht. Mir wird endgültig klar das heute noch meine Billigfunzel zum Ersteinsatz in den Bergen kommen wird. Mit Restlichtverstärkung, wie bei meinen nächtlichen Läufen über dem heimischen Großstadt-Talkessel, kann ich hier nicht rechnen. Dazu der beruhigende Satz einer Verköstigerin zu einem kurz vor mir angekommenen Läufer. „Bis um 20:00 Uhr bleibt man in der Wertung, bei den später ankommenden werden die Startnummern von uns gelocht. Für ihr runter kommen sind die dann selbst verantwortlich“. Später erfahre ich, dass damit bis 20:30 gewartet wird und der Schlussläufer die Letzten über einen kürzeren und einfacheren Abstieg nach Riezlern führt. Als ich mich im Ziel mit einem, der unmittelbar vor mir gefinishtet hatte, während des Rennens aber hinter mir lag, unterhalte wird mir klar wo ich überholt wurde. Da ich heute weit weg von Bestzeitgedanken oder guten AK-Platzierungen bin ist mir das aber reichlich wurscht.

Gedanklich bin ich schon im Ziel, aber die Hoffnung auf ein schnelles Ende wird sich alsbald als großer Trugschluss erweisen. Da ich die Orientierung ein bisschen verloren habe, frage ich naiv nach ob es nochmals hoch ging bis dahin. „Nicht mehr nennenswert. Ca. 300 hm, allerdings sanfter ansteigend“, bekomme ich zur Auskunft. Autsch, meine gute Laune trübt sich blitzartig. Ich kann zwischenzeitlich die Aussagen der Einheimischen einordnen und dieses 'sanft' macht mich hellhörig und misstrauisch. Wie war das mit der Stunde bis hierher. 2:45 Stunden habe ich als Schmalspur-Bergtouri hierher gebraucht. Ich verabschiede mich nun recht schnell von der letzten Labe und bin froh das es erst mal mit kleinen Laufschritten abwärts weiter geht. Die Sonne rutscht tiefer, eine herrliche Abendstimmung breitet sich aus. Sollte mich nicht dazu verleiten zu verweilen und so versuche ich ab und an den Blick vom steinigen schmalen Weg auf die grandiose Berglandschaft zu richten, ohne dabei die Füße zu verwechseln. Mein genussvolles Treiben wird jäh unterbrochen als die Kuhgehrenalpe erreicht wird. Ein schöner Wiesenweg führt von dort weiter ins Tal. Aber ein gelbes Schild zeigt unmissverständlich nach oben. Auf einem vorgelagerten Grasgipfel erkenne ich eine orange Fahne. Ist dort oben ein Golfloch? Ich stöhne innerlich. Da muss ich nun noch hoch. Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Es wird noch deutlich weiter hoch gehen als von da aus vermutet. Ich füge mich in mein Schicksal und beginne aufzusteigen. Und da jammern die Teilnehmer vom APU immer, dass sie kurz vor Sonthofen noch auf den Sonnenkopf hinaufgejagt werden. Den würde ich mir jetzt hierher wünschen. Aber es nützt nichts. Jetzt bin ich soweit gekommen, da werde ich doch jetzt nicht der mentalen Ermüdung huldigen. Weil die Knochen waren heute sehr freundlich und entgegenkommend zu mir. So entspannt hätte ich mir deren Zustand nach der bereits gelaufenen Strecke gar nicht zugetraut. Kein Vergleich zu den 24-h von Dettenhausen, wo ich vor 14 Tagen nach 10 km schon von Fersenseuche und Wadenpest geplagt wurde. Ich wuchte mich bis zur Fahne hoch und werde der weiteren Streckenführung gewahr. Das geht ja langgezogenen am Berg entlang weiter. Die Steilheit einer Direttissima bleibt mir so zwar erspart, aber ein gemächliches hochschrauben auf die versprochene sanfte Tour wird das auch nicht.

Die Bergstation der Kanzelwand ward nun ersichtlich. Mein Blick geht allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Nicht allein deshalb um mir den Anblick des noch so weit entfernt erscheinenden letzten Höhepunktes des heutigen Tages zu ersparen. Nein, der Weg war zwischenzeitlich kein Weg mehr, sondern ein einziges wassergefülltes Schlammloch. Denn heute schon zahlreich begegneten vierbeinigen Almbewohnern sei Dank. Mir zieht es wahrlich schier die Schuhe aus und ich komme rückwärts rutschend kaum voran. Da sorgen auch die groben Stollen der Traillatschen für null Grip. Beim regelmäßigen Versenken der Quanten bin ich nun froh die Gamaschen angezogen zu haben um mir eine Fangopackung und einziehende Kellerfeuchte zu ersparen.

Die Abenddämmerung nimmt an Intensität zu. Nicht mehr lange und die blaue Stunde bricht herein. Am Abzweig zum Fahrweg nach Riezlern bleibe ich unschlüssig stehen. Wieso ist hier kein oranges Band? Hier runter könnte ich jetzt flüssig auf den letzten 6 km, 800 Höhenmeter vernichten. Das gelbe Schild zeigt unmissverständlich weiter nach oben. Ich ertappe mich bei dem unmoralischen Gedanken hier einfach abzukürzen. Nein, geht gar nicht. Wir bringen das ganze mit Anstand zu Ende. Die letzten Anstiegsmeter gehen auf dem geschotterten Fahrweg weiter nach oben. Am Kanzelwandgrat harren ein paar Bergwachtler aus. Ich werde über den richtigen Einstieg in den finalen Abstieg eingewiesen. Ich weiß was nach dem kurzen Stück bis zum Speichersee kommt. Das Kanonenrohr. Und so krame ich jetzt nach meinem Lichtspender für Arme und hoffe das die frisch geladenen Batterien mir heimleuchten. Und ich bin überrascht. Besser als gedacht die Lichtausbeute. Und als Notbeleuchtung habe ich nun den Sternenhimmel über mir. So beginne ich langsam den schmalen Grasweg abwärts zu laufen, bis zu der Stelle wo man sich an einem unterstützenden Seil hinunterhangeln kann. Ich packe letztmals die Stöcke in die rechte Hand, greife nach dem Seil, versuche mit dem Kopf den Bereich nach unten auszuleuchten. Verhasple mich dabei etwas und lasse meine Hand schneller als geplant nach unten rutschen. Autsch, am Ende bleibe ich an einer scharfen Stelle der Verankerung etwas hängen. Nicht schlimm, aber ich bin genervt. So langsam reicht es für heute. Und der wurzlige, steile Abstieg im dunklen Wald wartet ja noch auf mich. Dieser zieht sich dann auch endlos in die Länge. Längst hat mein treuer Begleiter bei km 65 gepiept. Ich kann nun die beleuchten Häuser von Riezlern im Tal erkennen. Aber die sind doch noch so weit unten. Nur langsam verringert sich der senkrechte Abstand. Wurde Riezlern tiefergelegt und ist das mal wieder das Raum-Zeit Kontinuum das mich seit heute morgen so penetrant verfolgt.

Zumindest verlaufen kann ich mich jetzt nicht mehr. Da unten ist das Paradies. Zumindest für heute. Endlich endet der Wald und ich komme auf die ortsnahen Wiesen. Gerade runter wäre ich ruckzuck da. Warum geht es nun nach rechts weiter? Drehen wir einen Ehrenrunde? Füllkilometer braucht es doch nicht. Ich habe zwischenzeitlich schon über 66 km auf der Uhr. Einfach abkürzen? Hart bleiben. Noch ein bisschen kreuz und quer, das kann dich doch auch nicht mehr schocken. Eine Nebenstraße wird erreicht. Links, oder rechts? Keine Zeichen mehr. Sollte ich mich so kurz vorm Ziel noch verlaufen. Da ruft es von einem Hotelbalkon herunter: „Geradeaus die Straße runter“. „Danke“. Ich erreiche die Hauptstraße. Nach soviel Gebirge bin ich jetzt etwas desorientiert. War die Gemeindehalle jetzt links oder rechts von dieser Abzweigung? Wieder helfen mir Touristen weiter. „Einfach links weiter und dann noch 200 Meter die Straße runter. Schon über 67 km gelaufen. Hoffentlich ist das wirklich nicht mehr weiter als die Verheißung verspricht. Also an den Läden und Kneipen der Hauptstraße vorbei, die lobpreisenden Verkündigungen der zahlreichen Passanten inhalieren und langsam realisieren. Gleich ist es vollbracht. Wie würde mein Navi jetzt sagen. „Sie haben die Zielstraße erreicht. Das Ziel befindet sich links“. Vorm Zieltor warten 4 Mitstreiter um gemeinsam über die Messmatte zu laufen. Unter johlenden Anfeuerungen werden Sie ausreichend gewürdigt. „Da kommt ja noch einer“, werde ich angekündigt. Showtime denke ich mir und laufe laut jodelnd, die Stöcke über dem Kopf schwenkend die letzten Meter. Die Uhr zeigt: 22:21:26. O.K., das ist die aktuelle Uhrzeit. Ich habe es rechtzeitig geschafft. Aber wenn ich heute morgen gewusst hätte, das es 16:21 Stunden dauern würde bis ich wieder nach Riezlern komme. Als Achtletzer, aber immerhin nicht ausgeschieden wie fast ein Viertel der Starter.

Erst mal hinsetzen auf die nächste Bierbank und bei einem von den netten Servierdamen gereichten alkoholfreien Bier den Tag Revue passieren lassen. Es war ein hartes Stück Arbeit in einer wunderschönen Landschaft. Mir wird nun erst richtig bewusst, was es bedeutet eine Umrundung von Deutschlands oder Österreichs höchstem Berg anzugehen. An Chamonix wage ich nicht mal zu denken. Da ich aber schon so manche Dinge geschafft habe, die mir zuvor fern jeglicher Realität vorkamen, werde ich in einem meiner hintersten Ecken Platz für solche Träume lassen. Für heute träume ich erst mal von einer heißen Dusche und einem warmen weichen Bett. Und mache mich schnell auf den Heimweg. Vielleicht bin ich zumindest in meinen Träumen heute Nacht schon einen Schritt weiter. Als geistige und körperliche Aufbaunahrung für alpin-affine Läufer taugt der Walser Ultra Trail allemal. Und als ein solcher schließe ich mich in diese Zielgruppe seit heute ganz unbescheiden mit ein.
13.04. 12h Lauf Grüntal 53,55k
14.04. LIWA-Mara 04:56:44
27.04. Tri-speck 69 km 1100 hm
28.04. Ditzinger Lebenslauf
05.05. Trolli-Mara
11.05. Albtraum 115 k 3000 hm
06.07. Heuchelbergtrail 50 k
28.07. Schönbuch Trophy 47, k 1300 hm
17.08. 100 M Berlin

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Ganz ehrlich. Schön war es das ganze traumhafte Gebiet im Zusammenhang kennen zu lernen und die Herausforderung dies körperlich zu meistern. Aber die Hektik mit dem Zeitlimit war echt nervig und hat mich davon abgehalten ab und an stehen zu beleiben und die Landschaft richtig zu genießen. Erst mit dem Laufbericht habe ich das Ganze noch mal wirken lassen können.
13.04. 12h Lauf Grüntal 53,55k
14.04. LIWA-Mara 04:56:44
27.04. Tri-speck 69 km 1100 hm
28.04. Ditzinger Lebenslauf
05.05. Trolli-Mara
11.05. Albtraum 115 k 3000 hm
06.07. Heuchelbergtrail 50 k
28.07. Schönbuch Trophy 47, k 1300 hm
17.08. 100 M Berlin

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Ui Klaus, wir sind gestern "nur" von Baad über die Fluchtalpe, die Mindelheimer Hütte, die Widdersteinhütte und die Bärguntalpe wieder nach Baad gelaufen und gewandert und waren vollends bedient. Vielleicht lag es auch am K78 vor 14 Tagen, aber die Wege waren nicht gut laufbar.

Jedenfalls wäre DAS nichts für mich und du hast meinen vollen Respekt für diese Leistung!!!

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Jolly Jumper hat geschrieben:Ui Klaus, wir sind gestern "nur" von Baad über die Fluchtalpe, die Mindelheimer Hütte, die Widdersteinhütte und die Bärguntalpe wieder nach Baad gelaufen und gewandert und waren vollends bedient. Vielleicht lag es auch am K78 vor 14 Tagen, aber die Wege waren nicht gut laufbar.

Jedenfalls wäre DAS nichts für mich und du hast meinen vollen Respekt für diese Leistung!!!
Na das wäre was gewesen, wenn du eine Woche früher dort gewesen wärst. Ohne die Vorbelastung vom K78 nächstes Jahr könntest du doch mindestens die Kurzstrecke der Trail Challenge 2016 mitlaufen. Oder nur auf die Kanzelwand. Das ist natürlich auch eher eine Bergwanderung mit Wertung das muss ich schon zugeben.
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Es heißt ja immer so schön. Der Täter kehrt an seinen Tatort zurück. Heute war ich nochmal im Kleinwalsertal und bin von Mittelberg auf die Kühgungalpe gewandert. Dort wo ich beim Walser Ultra Trail nicht wahr haben wollte, dass es nochmals hoch geht zur Kanzelwand. Bin diesmal von dort entgegengesetzt Richtung Fiderepaßhütte und dann abgezweigt auf die Hammerspitze. Wetter ähnlich wie beim Lauf morgens bis zum frühen Nachmittag war. Nebel, null Sicht. Der Absieg von Gipfel wieder zur besagten Hütte. Die Wege trotz einsetzenden Regens waren diesmal nicht so verschlammt.
13.04. 12h Lauf Grüntal 53,55k
14.04. LIWA-Mara 04:56:44
27.04. Tri-speck 69 km 1100 hm
28.04. Ditzinger Lebenslauf
05.05. Trolli-Mara
11.05. Albtraum 115 k 3000 hm
06.07. Heuchelbergtrail 50 k
28.07. Schönbuch Trophy 47, k 1300 hm
17.08. 100 M Berlin
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