Das Rennen
Der Startschuss scheint alle zu überraschen - mich, der ich gerade überlege, ob ich doch noch mal unauffällig in den Straßengraben pieseln soll, aber auch das lautstark babbelnde Umfeld. Zwei Männer diskutierten vorher so laut und aufdringlich über irgendwelche bekloppten Firmenpobleme, dass ich mich entnervt ein paar Meter nach vorn gestellt hatte. Hoffentlich haben die den Startschuss überhaupt mitgekriegt. Als ich endlich über die Linie gehe (wirklich eine auf die Straße gesprühte rote Linie und eben keine Zeitnahmematte) und meine Uhr starte, hat sich das Feld schon soweit aufgelockert, dass ich mein Zieltempo (zwischen 5:55 und 6:00 nach GPS) vom Start weg perfekt treffe. Das erste Mal im Leben renne ich nicht zu schnell los - dass ich das nochmal erleben darf! Ich versuche, die Überhol- und Ausweichvorgänge auf ein Minimum zu beschränken, was mir heute perfekt gelingt - 5:59/km auf den ersten 500m und 5:57 für den ersten ganzen KM auf meiner Uhr. Die erste KM-Markierung kommt sogar noch vor dem Uhrenpiepser; im weiteren Verlauf wird die Uhr aber etwas voreilen und am Schluss 10,10 km anzeigen. 1%, also 3 s pro KM, ist eher ein niedriger Wert für den GPS-Fehler.
Der 2. KM geht mit 6:01 weg - auch noch gut, weil ebenfalls nicht zu schnell. Erst will ich es gar nicht wahrhaben, aber bereits auf diesem zweiten KM fühlen sich die Beine ganz leicht flau an. Zwischendrin schaue ich mal auf den Puls. Hmmm, 91% sind ein bisschen viel. Aber meine Atmung geht noch gut mit 2+2, teils sogar 2+3, und das ist eigentlich immer mein entscheidendes Kriterium für die Tempokontrolle nach Gefühl. Also laufe ich einfach so weiter, 5:58 und 5:59. Dabei ist es der 4. KM, der den ersten VP enthält. Ich entscheide mich für wenig Zeitverzug, also wenig Wasser nach indoors, das meiste über den Kopf. Kurz darauf noch eine Erfrischung, links und rechts je ein Wasserbottich, wo ich kurz meine Kape eintauche. Den Piepser für den 5. KM höre ich nach exakt 30:00 min., wobei aber just dieser letzte Kilometer plötzlich doch schon mit 6:08 zu Buche schlägt. Und die vermessene KM-Markierung kommt erst 50 oder 60m später. Ich bin eindeutig zu langsam unterwegs für sub 60. Trotzdem bleibe ich ganz ruhig - entweder zahlt sich der wirklich verhaltene Beginn jetzt irgendwann aus, dann packe ich die 60 min. über echte 10k doch noch irgendwie. Oder - und das ahne ich an dieser Stelle bereits unterschwellig- es wird härter, dann muss eben Plan B (die 62 min.) greifen und dafür habe ich auch oberhalb der 6:00/km noch genügend Spielraum - genau genommen 24s pro KM, das sollte reichen. Das Beste was ich tun kann, ist daher zu versuchen, die 6:00 auch weiterhin wenigstens halbwegs zu halten.
Irgendwo hier fange ich an, mir virtuelle Rennen mit einigen Mitläufern zu liefern. Dass noch so viele um mich herum sind, stelle ich erst im Nachhinein überrascht fest. Es funktioniert ganz gut, mich an Gleichschnelle anzusaugen und laaaaaangsam an ihnen vorbei zu hangeln, ohne allzu unregelmäßig zu laufen. KM 6 in 6:04, KM 7 in 6:10 (nochmal "oops"). Langsam wird es hart, aber es sind ja nur noch 3 KM. Auf meiner Flachstrecke käme jetzt der Maulwurfshügel. Hier gibt's tatsächlich auch welche, aber die sind nur 1 oder 2 Hm hoch. :Nick: Und trotzdem spüre ich inzwischen jedes einzelne Hügelchen, und zwar gnadenlos.
Während KM 7 oder 8 sauge ich mich wieder an einen etwa gleichschnellen Mann älteren Semesters an, könnte mein Alter sein, aber auch jünger. Als ich vorbei bin, höre ich seinen schweren Atem hinter mir. Meiner wird aber auch nicht viel anders geklungen haben. Eine Zeitlang versucht er, wieder heranzukommen und fällt dann aber immer wieder leicht zurück. Ich nehme mir vor, ihn spätestens beim Zielsprint zu packen, Träumen darf man ja. Jetzt zumindest noch. Jedenfalls wird es mir bis weit in den KM 9 hinein gelingen, ihn verlässlich hinter mir zu halten.
Kurz darauf spüre ich, dass zwei Marmeladenbrote an die Magenpforte klopfen. Ich überlege, ob es erwünscht ist, sprich: ob es mir irgendeinen Vorteil bringt, sie durchzulassen, finde aber, dass mich das zuviel Zeit und vor allem Schwung kosten würde. Aber wenn man solche Überlegungen überhaupt noch bewusst steuern kann, dann ist die Kotzgrenze wohl noch nicht ganz erreicht. Dann können die Jungs auch bleiben, wo sie sind. Trotzdem wird mir immer deutlicher bewusst, dass ich längst voll am Limit laufe. Meine Beine schreien schon lange im Chor "Aufhöööören!". Und Horst, dieser elende Eunuch, heult am lautesten die Sopranstimme dazu.
Von meinem kleinen Race im Race abgelenkt, stelle ich überrascht fest, dass der letzte KM schon begonnen hat (KM 8+9 in jetzt ganz ordentlichen 6:02 und 6:05). Da höre ich doch nicht auf - den letzten Kilometer schaffte ich bisher noch immer irgendwie mit Kämpfen und Beißen, also wird das auch jetzt nicht anders sein. Denke ich da noch. Etwa 500m vor dem Ziel, schon auf der letzten Geraden bis zum Stadion, wird das fiese Gefühl in den Beinen so unerträglich, dass ich beschließe, meinem Widersacher einen schönen Nachmittag zu bescheren, damit er auch was zu erzählen hat ("und dann ich - nochmal volles Rohr alles reingeklotzt und den lahmen Sack einfach in meiner Staubwolke stehen gelassen ..." oder so ähnlich, es sei ihm gegönnt
). Und schwupps ist er im Nu auch schon 10m vor mir. Immerhin widerstehe ich der jetzt geradezu übermächtigen Versuchung, einfach mal stehen zu bleiben oder auch nur zu traben. Da wäre ich nie mehr in Gang gekommen.
Und dann ist da auch schon "das Marathon-Tor" in der Maschendraht-Ausführung, der Hintereingang zum Stadion. Jetzt sind es nur noch etwa 250m. Einfach beißen wie immer und gut iss'. Oder ... ?
Was ist das nun wieder? Bei X-200m merke ich plötzlich, dass ich extrem starke Vorlage habe und aufpassen muss, nicht flach auf die Fresse zu fliegen.
Im letzten Moment kriege ich die Beine noch unter der Schwerpunkt. Puuuh, gerade noch mal gutgegangen. Aber sofort finde ich meinen Oberkörper schon wieder um gefühlte 45° vorgeneigt. Tief im Unterbewusstsein höre ich einen aufmunternden Zuruf von Biene. Aber klar, die letzten paar Meter schaffe ich jetzt auch noch, wäre ja gelacht. Denke ich da immer noch. Am Eingang der letzten Kurve, also nur noch 100m vor dem Ziel, kämpfe ich weiterhin mit der Vorlage - mein Oberkörper will einfach schneller ins Ziel als meine Beine.
Irgendwie schaffe es aber immer wieder, das Gleichgewicht zu halten. Dann, im Scheitelpunkt der Kurve (also X-50m), weiß ich nur noch, dass ich plötzlich unglaublich gekonnt und lehrbuchmäßig über die rechte Schulter nach außen hin abrolle. Erst ein, dann ein zweiter Helfer stürzen auf mich zu, richten mich auf und stützen mich, als ich ziemlich bald wieder ein paar Schritte tun kann. Und sie haben ein wirklich ein goldenes Herz für schrumpelige Rennkartoffeln, das muss man lobend hervorheben! Führen sie mich doch nicht, wie man meinen sollte, direkt von der Bahn ins Off ("Gehe in das Gefängnis. Begib dich direkt dorthin. Gehe nicht über Los und ziehe nicht 4000 Mark ein.") sondern auf der Tartanbahn bis ins Ziel. Einziger Kompromiss ihrerseits: "Wir sollten vielleicht mal die Ideallinie freimachen." Ich wage gar nicht, mir auszumalen, was heute drin gewesen wäre, wenn man dem Zombie nicht die ihm zweifellos gebührende Ideallinie verwehrt hätte.
Aber wie heißt es so schön: "Vertan, vertan!" sprach der Hahn, als er von der Ente stieg ...
Aus den Augenwinkeln sehe ich die Uhr gnadenlos runterticken: 1:01:43, 1:01:44 ... Ich will gerade fragen, ob wir drei nicht mal 'nen Zahn zulegen können, merke aber noch rechtzeitig, dass es für 1:02 netto allemal reichen wird, für 59:59 aber schon lange nicht mehr. Also was soll's. Im Ziel nehmen mich zwei Sanitäterinnen in Empfang und eine rührende Biene77, die bereits ein alkfreies Finisherbier organisiert hat. Versprochen ist halt versprochen - schön wenn auf die Freunde Verlass ist!
Ich werde in einen Stuhl gedrückt und kalauere noch, ob die Damen sich das mit dem Stuhl nicht 2 km früher hätte einfallen lassen können, kassiere aber nur die freundliche Belehrung, dass sowas grundsätzlich nur auf Vorbestellung gemacht wird. Nicht schlecht gekontert, hehe.
Dann wollen sie mir immer an die Beine, um die schrecklichen Schürfwunden zu verarzten, die sie da vermuten. Aber da ist nichts - nicht der geringste Kratzer. (Zu Hause kommt auch eine eingehende Überprüfung meines Outfits zu dem Ergebnis, dass da alles völlig unversehrt ist. Was lernen wir daraus ? Fallende Helden sollten es wenigstens gelernt haben, gekonnt abzurollen. Zumal vor Publikum.
)
Von der vielen Fürsorge bin ich ganz schnell wieder fit, die Sauerstoffsättigung springt von 96 auf 98%, der Blutdruck von erst 140/80 bald auf 130/80. Ich bitte noch um schriftliche Bestätigung dieses Wertes, weil mein Hausarzt immer viel zu hoch misst.
Und dann ist der Spuk auch schon wieder vorbei, so schnell wie er gekommen ist. Ich kann vernünftig gehen und bin völlig klar.
Biene verabschiedet sich dann auch bald; ich bleibe noch auf eine zweite Gerstenkaltschale, um sicher zu gehen, dass ich fürs Autofahren wirklich fit genug bin. Ja, bin ich, keinerlei Probleme mehr. Der übliche Anruf zu Hause und schon geht's heimwärts.
Die anschließende Auswertung meines Laufs zu Hause stellt mich vor mehrfache Probleme. Welche Zeit nehme ich denn nun aus Rot mit? Ganz offiziell stehen 1:01:59 in der Ergebnisliste - incl. dem "betreuten Zielsprint" über 50 m in sagenhaften 41 Sekunden (Pace 13:26/km) in der letzten Kurve.
Wenn ich mal allein den Teil zähle, den ich selbstständig auf zwei Beinen zurückgelegt habe, dann waren das (nach Uhr) 10,05 km in 1:00:50, also 6:02/km nach GPS. Die 1:01:00 h hätte ich also auch dann knapp verpasst, wenn mich die Helfer nicht zu zweit und mit Gewalt vom Zielsprint zurückgehalten hätten.
Trotzdem
allen, die mir so schnell und fürsorglich geholfen haben, ein herzliches
Womit ich heute aber absolut nicht dienen kann, sind Pulswerte. Gut, für KM 1 habe ich 148 bpm zu bieten, und für KM 2 bereits 156. Danach ist die Pulskurve nur noch Schrott - von 129 / 180 = 71,7% auf KM 4 (
) bis zu einem Maximalwert von 218 / 180 = 121,1% ist alles dabei. Sucht euch was aus ! (Unterwegs habe ich alles Mögliche gespürt, aber nichts am Herzen.)
Und die unbrauchbare Pulsaufzeichnung ärgert mich ein bisschen, weil ich mir ausgemalt hatte, heute zu sehen, mit welchem Puls ich 10k Wettkämpfe bestreiten kann. Und da die genau 1 Stunde dauern, wäre das auch mein (echter) Schwellenpuls gewesen.
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KM [/td]
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Plan-Pace [/td]
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Ist-Pace [/td]
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HF/180 bpm [/td]
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Bemerkungen [/td]
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[td] 1 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 82,2 % [/td]
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[td] 2 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 6:01 [/td]
[td] 86,7 % [/td]
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[td] 3 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 5:58 [/td]
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[td] 4 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 5:59 [/td]
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[td] 5 [/td]
[td] 5:57 [/td]
[td] 6:08 [/td]
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[td] 6 [/td]
[td] 5:52 [/td]
[td] 6:04 [/td]
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[td] 7 [/td]
[td] 5:52 [/td]
[td] 6:10 [/td]
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[td] 8 [/td]
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[td] 6:02 [/td]
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[td] 9 [/td]
[td] 5:52 [/td]
[td] 6:05 [/td]
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[td] 10 [/td]
[td] 5:52 [/td]
[td] 6:03 [/td]
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[td] 10,00 - 10,05 [/td]
[td] 5:52 [/td]
[td] 5:48 (!) [/td]
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[td] aber dann ... [/td]
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