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Hannover-Marathon 2003

Hannover-Marathon 2003

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Geschafft!!!! Es ist geschafft. Seit heute Mittag muss ich nicht mehr sagen „Ich trainiere für den Marathon“ sondern ich kann sagen „Ich bin den Marathon gelaufen“ – und, es war die Hölle...

Aber der Reihe nach...

05.00 Uhr
Einen Wecker brauche ich heute weiß Gott nicht. Eine sehr unruhige Nacht war es – und eine sehr kurze dazu. Aber egal, ab unter die Dusche und ab zum Frühstück. Hunger? Fehlanzeige, muss aber trotz alledem es sein, schließlich braucht der Motor nachher seinen Sprit. Was gibt es heute Morgen? Haferflocken mit Milch, Banane und ein wenig Zucker. Dazu einen großen Pott Kaffee (muss sein) und viel Wasser. Danach geht es noch einmal an die Tasche. Ist alles dabei? Vaseline? Pflaster? Sicherheitsnadeln? Die Anmeldeunterlagen? Schuhe? Hose? Socken? Die Kamera? Wie oft habe ich jetzt schon alles durchgesehen – vier Mal, fünf Mal? Egal – besser einmal zu viel als nachher dort ohne Schuhe zu stehen...

5:45 Uhr
Langsam wird es Zeit zu fahren. Um 6.00 Uhr warten Petra, Ronnie und Jörg auf ihr Taxi nach Hannover, Ellen war ja schon an Bord. Es scheint, dass nicht nur bei Ellen und mir die Erwartzungen groß waren, auch die drei anderen standen schon freudestrahlend und erwartungsfroh auf dem Parkplatz. Ein großes Hallo am frühen Morgen, also eine Menge gute Laune in meinem Volvo.

6:15 Uhr
Irgendwie mag ich es gern, am frühen Sonntag Morgen über die Autobahn zu fahren. Kaum ein Auto traut sich über die A 30, Bad Oeynhausen ist ausgestorben und erst kurz hinter Bad Nenndorf sieht man das eine oder andere Auto. Über den Westschnellweg geht es bis nach Herrenhausen. Zum Glück hatte ich bei dem Veranstalter noch nachgefragt, wie es mit den Parkmöglichkeiten auf dem Schützenplatz aussieht und bekam die Mitteilung, dass dort das Frühlingsfest stattfindet und es so mit dem Parken nicht so gut aussieht. Also ging es nur bis Herrenhausen und von da aus mit der Straßenbahn bis zum Aegi und zu Fuß die letzten paar Meter bis zum Rathaus

8:00 Uhr
Dort ging es schon zu wie in einem Ameisenhaufen, überall wuselten die Läufer herum und holten ihre Unterlagen und ihren Chip. So auch wir. Da wir noch eine Menge Zeit hatten, ging es einmal kurz durch die Messe, ein wenig hier schauen, ein wenig da schauen. Aber irgendwie hatte man doch nicht die Ruhe, da richtig zu wühlen...

Also ging es bald hinter das Rathaus zu den Zelten mit den Duschen zum Umziehen. Ach ja, ein Wort noch zu dem unvermeidlichen Thema Wetter. Es ist wunderbar, blauer Himmel, Sonne, nur der Wind war noch sehr, sehr frisch. Warm sollte es nachher werden, aber für mich war das nicht schlimm. Ich mag es gern wenn der Wind, der einem um die Nase bläst, nicht eiskalt ist. Um 8.30 Uhr war dann alles „gerichtet“, Alles abgeklebt, alles eingecremt, alles in den Taschen verstaut und die Mütze saß auch gerade. Um 8.45 Uhr standen wir dann am Start der 10-Kilometer-Läufer und schickten sie mit viel Hallo auf die Strecke und danach wurde es dann Ernst.

8:45 Uhr
Ich habe Ronnie und Jörg viel Glück für ihren Halbmarathon gewünscht, habe mich von Ellen und Petra verabschiedet und bin mit weichen Knien in den letzten Block geschlichen, da, wo die „Fußkranken“, die Debütanten und die Spaßläufer stehen. Zeitvorgabe? Jenseits des Messbaren – und dann passierte das Seltsame. Um mich herum wurde es immer stiller, die Stimmen, das Lachen und die Scherze kamen zu mir wie durch einen dicken Nebel, nur gedämpfte Worte waren zu hören. War es die Konzentration? War es die Anspannung? War es die Angst? War es die Vorfreude? Ich weiß es nicht, aber seltsam war es schon. Mir gingen die ganze Zeit die guten Wünsche von Sascha durch den Kopf – aber, das ist eine andere Geschichte und si gehört nicht hierher...

9.00 Uhr
Um kurz vor 9.00 Uhr war es dann so weit. Zusammen mit vielleicht 5.000 Läufern wurde von 10 auf 0 gezählt und so langsam setzt sich der Lindwurm in Bewegung. Gut fünf Minuten nach dem ersten Starter ging in dann auch über die Startlinie. Jetzt nur vorsichtig und sich nicht von dem Adrenalin und den anderen Läufern ziehen lassen. Immer an den Satz denken „Die Sekunden, die Du vorne sparst wirst Du hinten in Minuten bezahlen...“ Also, langsam, die Beine zwingen, sich langsam zu bewegen. Ein Blick auf die Uhr. Der erste Kilometer in 7 Minuten mit einem Halbmarathon-Debütanten neben mir – das ist OK, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Noch sieht es gut aus um mich herum, viele Läufer, für die frühe Stunde viele Zuschauer an der Straße – das wird sich bald ändern. Nach gut drei Kilometern geht es dann auf die Hildesheimer Straße, schnurgerade geht es auf vier Fahrspuren im geradeaus. So langsam treffen wir auf die ersten 10-Kilometer-Läufer, die schon ein paar Meter mehr in den Beinen haben. Einige sehen doch schon recht erschöpft aus, andere müssen sich quälen. Meine Hochachtung haben sie alle...

Nach guten 5 Kilometern trennen sich dann die Wege, die 10-Kilometer-Läufer schwenken in Richtung Ziel ab und wir laufen in die City, vorbei am Bahnhofsvorplatz. Einsam wird es jetzt. Das Feld hat sich auseinandergezogen und an der Strecke findet sich nur vereinzelt noch ein Zuschauer. Die Beine, ja, sie fühlen sich gut an, es läuft rund, keine Schmerzen sind zu spüren. Jeder Versorgungsstation wird angelaufen, ein paar Schritte gehen, ein wenig schauen, ein wenig in sich hineinhorchen – und alles ist im grünen Bereich.

In der Nordstadt, rund um die Lutherkirche ist dann etwas mehr Stimmung, viele jüngere Leute feuern die Läufer an. Trillerpfeifen, Rasseln vereinzelt auch Transparente – einfach eine gute Stimmung. So ging es dann weiter und weiter und weiter, vorbei an den Herrenhäuser Gärten, am Georgengarten, am Schneiderberg (einmal zu den Sozialwissenschaftlern winken – schließlich habe ich da viele Jahre verbracht), zurück in Richtung Wilhelm-Busch-Museum und dann über den KöWo zum Leineufer. Alles war gut bis dahin, alles war optimal, meine Zeit stimmte, die Halbmarathon würde ich etwas langsamer laufen als im letzten Jahr, so um die 2 Stunden 15 Minuten, aber schließlich hatte ich da ja noch 21.195 Meter vor mir...

Hier möchte ich einen kurzen Break machen. Warum? Was macht den Marathon aus? Für viele ist es sicher die Zeit des Siegers, die unglaubliche Leistung der Läuferinnen und Läufer, die da ganz vorn den Sieg unter sich ausmachen. Das ist auch gut so und hat sicher seine Berechtigung. Für mich gibt es noch andere Dinge, vor allem, für mich als Läufer. Es sind die kleinen Dinge am Rande der Strecke, die so ein Erlebnis zu einem Erlebnis machen. Einige dieser kleinen Begegnungen am Rande möchte ich nicht verschweigen.

Also, die erste schöne Begegnung, die ich hatte, war mit einem kleinen Jungen, irgendwo auf der Hildesheimer Straße. Er stand auf so einer Kiste, in der das Streugut für den Winter gelagert wurde und hatte eine Trompete in der Hand, die größer war, als er selbst. Als ich auf ihn zukam schaute er mich an, lächelte und rief so laut er konnte „sneller, sneller, sneller...“ Ich konnte nicht anders, ich musste auch laut lachen und so sind wir beide für ein paar Sekunden gaaaanz große Freunde geworden.

Dann war da am Rand der Nordstadt, in diesem vollkommen öden Industriegebiet, in das sich weiß Gott kein Zuschauer verirrt, ein Mann. Das Alter war schwer zu schätzen, er sah ungepflegt aus, schwarze Lederjacke und schwarze Jeans, Er sah aus, als hätte er schon um 10.30 Uhr drei bis vier Bier zum Frühstück weg. Aber stand da und spielte auf seiner Mondharmonika „Junge komm bald wieder...“ War das peinlich? Nein, überhaupt nicht, man sah ihm an, dass er es gerne tat, dass er es tat um den Läufern eine Freude zu machen. Und, was soll ich sagen? Auch auf der zweiten Runde saß er dort, sicher um einige Promille reicher aber unbeirrt spielte er für uns...

Eine kleine Geschichte gab es noch. Und zwar waren es zwei alte Leute, beide vielleicht irgendwo zwischen 70 und 80. Sie saßen auf zwei Campingstühlen vor ihrem kleine Haus irgendwo zwischen Ost- und Nordstadt, ein kleiner Tisch dazwischen, eine Kaffeekanne, zwei Tassen und sie haben wirklich jeden Läufer angefeuert, der da kam, jeden, auch bei der zweiten Runde. Jeder bekam sein Lob, seine Aufmunterung, seine Worte mit auf den Weg. Was meine Worte waren „He, junger Mann, lächeln sie mal, dann geht es besser...“ und wer das Gesicht des alten Mannes gesehen hat, der wusste, dass es Ernst gemeint war...

Damit haben sich dann aber auch die schönen Geschichten um den Hannover-Marathon auch schön erschöpft, denn in Hannover geht es auf einen 21-Kilomter-Rundkurs, der zwei Mal durchlaufen werden muss.

11.15 Uhr (ca.)
Kurz vor dem Ziel stand Ellen mit dem Fotoapparat und ich habe kurz angehalten. Alles war im grünen Bereich, die Beine waren geschmeidig, die Zeit OK, Irgendwie so, dass die 4 Stunden und 30 Minuten im Bereich des Möglichen waren. Nur, kurz nach dem Start in die zweite Runde ging es los. Der Hannover-Marathon wurde zur Zuschauerfreien Zone erklärt. Es war, als würde ich plötzlich in einem anderen Lauf laufen. Rechts und links neben der Strecke am Maschsee war plötzlich kein Mensch mehr, nur ab und zu nutze ein Scater die Absperrung um mal richtig Gas zu geben. Vor mir in 100 Metern Entfernung war ein Läufer und hinter mir auch, vielleicht in 200 Metern Entfernung. An der ersten Erfrischungsstation war das Leben scheinbar gefroren, kein Mensch stand mehr da, man durfte seine Becher selber nehmen. OK, dachte ich, nachher auf der Hildesheimer ist ein wenig mehr los. Nein, nichts, niemand, nur ab und zu ein Scater, ein Fahrrad, ein gelangweilter Polizist oder Ordner.

Ungläubiges Staunen war da, auch bei den wenigen Läufern, die ich noch überholen konnte und durfte. Je weiter es nach hinten ging umso schlimmer wurde es. Alle 10 Kilometer bekam man den Kommentar „Weiter so, sieht doch gut aus....“ und das war es. Und dann kam dazu das erste Mal in meinem Läuferleben der Schmerz im Knie. Im linken Knie. Es ging ganz harmlos los und ich habe es einfach ignoriert, nur irgendwann war es nicht mehr zu ignorieren und ich musste mir ernsthaft Gedanken machen. Und, da ein Unglück selten allein kommt, hatte ich plötzlich ein wirklich unangenehmes Ziehen im Bauch, dazu Übelkeit und das Gefühl, jeden Moment die Banane vom letzten Tisch wieder abladen zu müssen. Was kann man tun? Ab auf das Dixie? Klar, nur wurde für uns Fußkranken und Idioten doch kein Papier mehr aufgefüllt. Irgendwie war das symptomatisch für die zweite Hälfte des Laufes, man hatte das Gefühl, mitleidig geduldet zu werden oder zu stören. Man lief mal quer über die Straße um ein wenig abzuküren und wurde von Scatern angemacht, die die freie Strecke nutzen wollten um ihrem privaten 100-Meter-Lauf mit Sonnenbrille und gestylt zu machen. Auch der Straßenreinigung war man „im Weg“ und die Polizei machte nach und nach die Kreuzungen wieder auf und die 3-er BMW konnten einem über die Füße fahren – nur, weil man sich dreister weiße entschlossen hatte doch wieder zu laufen und nicht zu gehen...

So habe ich mich Kilometer um Kilometer weitergeschleppt, müde, kaputt und immer wieder mit dem Wunsch, einfach stehen zu bleiben und zu sagen „Das war’s“. Ich habe es nicht getan, ich bin 100 Meter gegangen und 300 Meter gelaufen, ich habe meine Zeit versaut ohne Ende. Bei Kilometer 30 war ich noch so in der Zeit, dass ich die 4 Stunden und 30 hätte knacken können (3 Stunden und 8 Minuten), nur für die letzten 12 Kilometer habe ich fast zwei Stunden gebraucht. War es schlimm? Ja, es war die Hölle, ich habe meine Grenzen gespürt, ich habe sie berührt, alle drei Minuten und ich habe das Laufen verflucht.

14.00 Uhr (ca.)
Es ist Zeit ins Ziel zu kommen. Vor mir steht die große Tafel „42“. Ist es wirklich so weit? Habe ich es geschafft? Jetzt keine Blöße geben und nur Laufen, nicht gehen. Und? Es interessiert keine Sau weil gerade sie Speed-Skater starten. Nur ein paar Leute klatschen lustlos. Und, wer steht da an der letzten Kurve? Ronnie und ER macht Mut, weiter zu laufen.

Was sagte der Sprecher da oben auf dem Bus? JETZT kommen die wahren Sieger...“ – aber, OK, es interessiert mich nicht mehr. Ich bin da, im Ziel. Ellen fragt mich „Na, war es schlimm?“ Ja, es war schlimm aber, ich gehe weiter zu den Medaillen, zum Zielbereich und mir kommen die Tränen. Ja, ein Traum ist wahr geworden, nur es tat verdammt weh...

22.00 Uhr
War das der Mann mit dem Hammer? Ja, ich denke, er war es und ich habe mit ihm gekämpft – manchmal wie Gandalf mit dem Balrog. Aber ich habe den Kampf gewonnen und bin über die Ziellinie gelaufen – nicht gegangen, ich bin gelaufen. Ich war im Ziel und habe gesagt „Nie wieder...“ und wusste im nächsten Moment, dass diese zwei Worte eine Lüge waren. Ich werde es wieder tun, aber nicht mehr in Hannover, den Halbmarathon, OK, aber den Marathon nicht. Münster wäre schön oder im kommenden Frühjahr in Hamburg – aber, ich denke, das muss ich nicht heute entscheiden. Jetzt beginnt die Regeneration – ich habe mir die Erholung verdient...

Was, also, gibt es zum Ende zu sagen? Ich bin stolz und ich bin glücklich. Ich bin froh, ES geschafft zu haben, ein „Marathoni“ zu sein. Ich werde es wieder tun, ich werde wieder 42.195 Meter laufen, ich werde mir neue Ziele setzen, realere Ziele, ich werde hart trainieren, aber ich werde jetzt den Moment genießen...


Dieter

Hannover-Marathon
Startnummer 644

Hannover-Marathon 2003

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Wirklich gut und besonders sehr bildlich beschrieben :)
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Prost und alles Gute zu deinem grossen Erfolg gegen den "Hammermann"!!

Wusstet ihr eigentlich das der Marathon viel kürzer war (ich glaub um die 38km) bis er 1908 bei den Olympischen Spielen in London so weit verlängert wurde, damit alle Läufer am Ende vor der Loge der Königin vorbeiliefen??

Hannover-Marathon 2003

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Wenn man solche Berichte liest, weiß man, welche Kraft, vor allem mental , es kostet, solche Leistungen zu vollbringen.

Alle Achtung!

Gruß
Garfield :D :D

Hannover-Marathon 2003

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Hallo Dieter,

toller Bericht. Hat Spaß gemacht, ihn zu lesen. Und im letzten Drittel konnte ich sehr gut nachvollziehen, wie Du gelitten hast. Aber nun ist es geschafft. Die Zeit ist nebensächlich, denn Du bist ein Marathoni!

Auch hier noch einmal meinen Glückwunsch zu Deiner Leistung!
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Liebe Grüße, Bogi
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