Ich schiebe mich wie in Trance nach vorne. Trotz Tunnelblick ist da eine kleine Furcht, dass der Körper plötzlich nicht mehr mitmacht und kurz vor dem Ziel alle Anstrengung umsonst war. - Unbegründet ist die Furcht nicht. Später erfahre ich, dass ein Läufer nach 96 km ausgestiegen ist, aussteigen musste, weil es einfach nicht mehr ging. – Weg damit! Aufs Ziel zu, den Körper weiter nach vorne treiben, 9-mal bin ich hier heute schon vorbei gelaufen, ich kenne die Bilder, die Kurven, selbst die Geräusche, die noch vor mir liegen…
[INDENT]Einschub:Dieser Bericht ist lang geworden, deutlich länger als gedacht. Es fällt mir allerdings schwer, Passagen herauszustreichen, weil für mich auch das Drumherum zu diesem Ereignis gehört. So möge denn jeder selbst entscheiden, ob er sich mit mir durchkämpfen mag oder nicht.
[/INDENT] Blick zurück: die Phase der Unsicherheit
Der Tag heute ist der Endpunkt einer 12-wöchigen intensiven Vorbereitung. Lange Zeit habe ich noch geschwankt, ob ich mitlaufen sollte, mitlaufen könnte. Sobald ich wusste, dass diesmal 100 km-World Cup und 100 km-WMA-Championship (also Weltmeisterschaft der Altersklassen) gemeinsam stattfinden, hat mich die Teilnahme gereizt. Ich bin vorher bei Stadt-, Kreis-, Nordrhein-, Westdeutschen und Deutschen Meisterschaften mitgelaufen, aber eine Weltmeisterschaft, das wäre schon etwas Besonderes.
Wenn da nur nicht die Gelenkkapselentzündung im linken Fuß wäre, mit der ich mich seit Mai, seit dem Halbmarathon in Itzehoe herumschlagen habe. Und so bin ich in die Vorbereitung hinein gegangen mit der Ansage: Mal sehen, ob’s geht. Lange lag meine Einschätzung, die Trainingsbelastung aushalten und dann mitlaufen zu können, bei Fifty-Fifty, manchmal auch drunter. Die Beschwerden waren nie ganz weg, aber immer so, dass ich die zunehmenden Streckenlängen gut verkraften konnte. Da ich mir vorher bei einem befreundeten Arzt und Sportmediziner, selbst auch Langläufer, Rat und Einschätzung eingeholt hatte, dass ich mir keinen chronischen Schaden einhandeln würde, bin ich im Trial-and-Error-Verfahren heran gegangen, und es klappte immer besser.
Die Vorbereitung
1.460 km bin ich in der 12-wöchigen Vorbereitung gelaufen, habe die langen Läufe kontinuierlich ausgebaut und im Wechsel 40, 45, 40, 50,... bis auf 70 km gesteigert. Wenn’s ging, habe ich sie in Volksläufe integriert (z. B. Marathon Bad Pyrmont, Supermarathon im Harz). So manchen Abend wäre ich lieber mit Frau und/oder Freunden in den Biergarten gegangen, bin stattdessen mit preußischer Disziplin 1 ½ oder 2 Stunden gelaufen, und anschließend war’s zu spät.
2, 3 Wochen vor Winschoten habe ich die Belastung gespürt, zweifelte, ob ich mich noch rechtzeitig erholen würde, habe dann einen 10 km-Wettkampf eine Woche vorher eingeschoben, um zu sehen, wo ich stehe. Es lief gut, ich fühlte mich kraftvoll und habe mich hinreißen lassen, ihn eigentlich zu schnell zu laufen (38:18 min). Aber das ist alles Vergangenheit, heute wird sich zeigen, ob ich es richtig gemacht habe oder nicht.
Das Team
Mit 6 Leuten sind wir am Freitag angereist: Stefan, der den Lauf ohne Druck angehen will, da er in der stark besetzten M45 keine Chance auf eine Medaillenplatzierung sieht, Thomas M., ein Laufkollege aus einem anderen Verein, der als Einzelläufer startet und sich uns angeschlossen hat, dann unsere Betreuer Adi, Thomas L. und Birgit, die am Samstag nachgekommen ist, und schließlich ich selbst.
Vor dem Start
Um 10 Uhr wird der Lauf beginnen. Da wir in einem kleinen Gasthaus auf deutscher Seite untergebracht sind, fahren wir morgens ca. 25 km nach Winschoten in Holland. Als wir ankommen, sehen wir rege Aufbautätigkeit der mitgereisten Betreuer. Es gibt zwar genügend Verpflegungsstände des Veranstalters. Dennoch ist es üblich, dass die Nationalteams, und nicht nur diese, ihre Betreuerstäbe mitbringen. Diese versorgen die Athleten während des Laufes mit Spezialmischungen bei den Getränken, Kohlenhydraten in welcher Form auch immer, sorgen für Abhilfe bei kleineren oder größeren Wehwehchen und motivieren ihre Leute natürlich auch.
Ich finde einen Parkplatz in der Nähe des Starts, direkt hinter der abgesperrten Laufstrecke. Das ist praktisch, weil wir nicht so weit durch die Gegend rennen müssen, und ist gleichzeitig unpraktisch, weil wir nach dem Lauf warten müssen, bis die letzten Läufer im Ziel sind.
Wir gehen erstmal zum Start, um unsere Betreuer zu finden. An 2 Stellen wollen sie einen Stand aufbauen: einen, wo wir jetzt sind, im Startbereich hinter den Nationalteams, und einen weiteren kurz vor Kilometer 5. Mittlerweile wird es zeitlich etwas eng, denn bald wird Birgit mit ihrem Auto nicht mehr durchkommen. Wir packen einen Teil der Verpflegung in ihr Fahrzeug um, während Adi einen Motorradfahrer organisiert, der sie auf der Laufstrecke bis Kilometer 5 bringt. Das ist Service pur.
Wir Läufer helfen Thomas noch, den Stand aufzubauen. Schließlich spielt er für unsere Logistik eine entscheidende Rolle. Ich lasse sogar meine gesamte Verpflegung bei ihm.
Dann eilen wir zum Auto, um uns vorzubereiten: Brustwarzen abkleben, Vaseline auftragen, Startnummern anbringen: eine auf der Brust, eine auf dem Rücken, dadurch kann man Wettbewerber und Rennverlauf besser einschätzen: ein faires und transparentes Verfahren. Im Startpaket sind sogar 2 weitere Startnummern für ein Wechselshirt.
Startaufstellung
Gestartet wird direkt in der Mehrzweckhalle „De Klinker“. Der vordere Startbereich ist durch ein Band abgetrennt. Hier hinein dürfen nur die Mitglieder der Nationalteams. 27 Länder haben Teilnehmer gemeldet, Bei den Männern werden 24 vollzählige Teams mitlaufen, bestehend aus mindestens 3 Läufern, bei den Frauen 13 Teams. Darüber hinaus gibt es Einzelläufer, dazu gehört auch ein Läufer aus Andorra.
Ich stehe kurz hinter der Teamabsperrung. Durch die rückwärtigen Startnummern ist gut zu erkennen, wer welchen Wettbewerb läuft. Es finden nämlich zusätzlich zum offenen Lauf folgende Meisterschaften statt:
- 100 km World Cup,
- 100 km European Championship,
- 100 km WMA (World Masters Athletics) = Senioren-WM
- 100 km Niederländische Meisterschaften.
Später werden noch die 50 km-Läufer und die 10 x 10 km-Staffeln dazu kommen, so dass immer ordentlich was los ist auf der Laufstrecke.
Die erste Runde: Atmosphäre schnuppern
Der Startschuss fällt. Ich brauche 13 Sekunden, bis ich die Matte überquere. Noch herrscht dichtes Gedrängel. Alle versuchen, erstmal ihre Position zu finden und in ihren Laufrhythmus hinein zu kommen. Hier kurz nach dem Start ist der Kurs recht eckig. Später verläuft er gerader, sind die Kurven runder. Durch das eng beieinander liegende Feld übersehe ich das erste Kilometerschild, erst beim zweiten kann ich das Tempo kontrollieren: 9:05 min. Das ist etwas zu schnell, also ein wenig Geschwindigkeit herausnehmen. Ich versuche bewusst, Bilder der Strecke in mich aufzunehmen, jetzt geht das sehr gut, später werde ich dafür keinen Blick mehr haben.
Die Strecke verläuft vollständig innerhalb des Ortes, alle Straßen sind komplett für die Läufer gesperrt. Die Anwohner sitzen draußen in Cafés, viele haben Tische und Stühle aufgebaut, in den Wohnstraßen sitzt man im Garten. Zusätzlich zu den offiziellen Verpflegungsstellen gibt es unzählige kleinere, die die Einwohner aufgebaut haben und an denen sie Wasser, Schwämme, aber auch Apfelsinenscheiben und anderes Essbares anbieten. Gerade den Kindern macht es Spaß, immer und immer wieder ihre Angebote feilzuhalten, und sie freuen sich, wenn darauf zugegriffen wird.
Es herrscht Volksfeststimmung. Alles ist bunt, Straßen und Häuser sind mit Luftballons, Fahnen und Wimpeln geschmückt. An einer Stelle haben Kinder mit Kreide Füße und Worte auf das Straßenpflaster gemalt, woanders säumen farbenprächtige Elche auf Pappschildern den Straßenrand. Ich fühle mich an Kirmes oder Schützenfeste im Rheinland erinnert. Und alle feuern die Läufer an. Da sie durch die Laufzeitung Startnummern und Namen der Läufer verbinden können, feuern sie uns Läufer direkt namentlich an. „Bernd, du machst eine’ gute’ Lauf..., weiter so…“, und der nächste erhält seine Prise Spezialmotivation.
Kurz nach dem Start spricht mich jemand an. Es ist Elgar, wir kennen uns von Bad Pyrmont. Wir haben in etwa die gleiche Geschwindigkeit drauf, und ohne dass wir uns absprechen, laufen wir ab nun einige Runden zusammen.
Wie der Wetterbericht es vorher gesagt hat, kommt der Wind aus Nordwest. Das bedeutet, dass wir in der ersten Hälfte viel gegen den Wind laufen, am heftigsten ist es auf der langen Geraden zwischen km 4 bis vielleicht km 5,2. Auf der Hälfte dieser Geraden beginnen die Verpflegungsstände der Nationalteams, es beginnt mit AND für Andorra. GER ist Nummer 13, aber der steht da nur für das deutsche Nationalteam. Nach der Kurve ist es wieder leichter zu laufen. Überhaupt ist die zweite Hälfte der 10 km-Runde leichter, das liegt am fehlenden Wind, aber auch vom Kopf her ist es einfacher, wenn man weiß, bald ist eine Runde geschafft, ein Zwischenziel erreicht.
Am Ende der Runde laufen wir durch einen Park, kurz hinter km 9 biegen wir rechts ab, und die lange Gerade mit den Verpflegungsständen Nummer 2 beginnt. Hinter den Nationalteams ist unser Stand, der Stand der Neukirchner, und Thomas versorgt mich mit einer Flasche Isogetränk. Nun geht es wieder etwas scharfkurvig weiter, über eine Matte (ich vermute, eine Kontrollmatte), hinein in die Halle und über die zweite, die Zeiterfassungsmatte. Die erste Runde ist geschafft. Ein Blick auf die Uhr: 46:52, das ist okay.
Bis zur ersten Marathondistanz: das Feld sortiert sich
Nun gilt es, sich jeweils auf die aktuelle Runde zu konzentrieren. Bloß nicht sich die Gesamtstrecke vor Augen halten, oder wie lange man noch auf den Beinen sein wird! Die zweite Runde verläuft unspektakulär, wir laufen immer noch gemeinsam. Ich merke allerdings, dass ich gestern und heute zu wenig Flüssigkeit zu mir genommen habe, und greife gerne auf die zahlreichen Wasserangebote zurück.
Wir sind viel am Überholen, weil einige bereits jetzt ihr Tempo verlangsamen. In der dritten Runde schließen wir auf einen Läufer auf, der nach der aufgedruckten Landessilhouette auf seinem Laufshirt unschwer als Franzose zu identifizieren ist. Er erinnert mich an Jurassic Park, die Oberschenkel sind so breit und kräftig wie beim Tyrannosaurus Rex, die nach vorn geneigte Körperhaltung unterstreicht das noch. Ich wundere mich, wieso er nicht nach vorne kippt, ich könnte so nicht laufen. Als wir zu zweit an ihm vorbeilaufen, beschleunigt er und versucht dranzubleiben. Damit habe ich normalerweise kein Problem, als ich dann aber mitbekomme, dass er in kurzen Abständen Urschreie ausstößt wie weiland Monica Seles in ihren Matches, lege ich einen Zwischenspurt ein, um mich zu lösen.
Das gelingt auch, aber unglücklicherweise signalisiert mir meine Blase mit gesteigerter Heftigkeit, dass ich leichter und damit schneller wäre, wenn ich hülfe, ihre Oberfläche zu verkleinern, und so mache ich einen kleinen Pinkelstopp. Das ist die erste nicht-gelaufene Minute seit mehr als 2 Stunden. Da ich jetzt noch viel Kraft habe, laufe ich erstmal etwas schneller, um zu meinem Laufbegleiter aufzuschließen. Meine männliche Monica Seles habe ich bald wieder eingeholt, und um nichts anbrennen zu lassen, ziehe ich diesmal gleich flott vorbei. Danach nehme ich wieder Geschwindigkeit heraus und brauche noch einige Kilometer, bis ich an meinem Begleiter „dran“ bin.
In die fünfte Runde gehen wir gemeinsam. Ich lasse mir Vaseline geben, um unter den Achseln nachzuschmieren, denn links hat es angefangen zu scheuern. Als ich das bereit gehaltene und schon geöffnete Gel in die Hose klemme, schließlich habe ich nur 2 Hände, wird die Hälfte schubweise herausgedrückt. Wenn das jemand von der Seite gefilmt haben sollte, wird das sicher sehr anzüglich aussehen. Nach weiteren 2 Kilometern zeigt meine Uhr 3:12 h an. Das heißt, die Durchgangszeit für den 1. Marathon liegt bei ca. 3:13 h, fast etwas zu schnell.
Bis zur zweiten Marathondistanz: der Kampf beginnt
Bis zur Hälfte der fünften Runde laufen wir noch zusammen, dann verabschiedet sich mein Begleiter und lässt sich zurückfallen. Auch mir fällt das Laufen mittlerweile schwerer. Ich brauche etwas zu essen. Zum Glück habe ich ein Gel und Wasser bestellt, und kurz darauf fühle ich mich wieder kräftiger. Für die Psyche ist gut, dass jetzt die Hälfte geschafft ist.
Ebenfalls gut ist, dass ich neue Begleiter gefunden habe. Schon vorher hat es ein kleines Ziehharmonikarennen mit den beiden schnellsten Frauen des deutschen Nationalteams gegeben, zunächst waren die beiden um einiges weiter vorne gewesen, dann drehte sich das, und nun haben sie wieder aufgeschlossen in Begleitung eines weiteren Läufers. Wie er mir später erzählt, ist er Franzose, der seit Jahren in Holland lebt und heute seinen ersten Hunderter läuft.
Bis kurz vor Ende der siebten Runde bleibt diese „Viererbande“ zusammen. Zuerst ist dann irgendwann der holländische Franzose nicht mehr zu sehen, und zwischen Kilometer 9 und 10 ist Martina Groß verschwunden. Nun gehen Birgit Schönherr-Hölscher und ich als Duo in die achte Runde. Wir unterhalten uns darüber, dass dies die vorentscheidende Runde ist, denn in der nächsten können wir anfangen, die Kilometer rückwärts zu zählen. Wir wissen wohl beide, dass dies zum Ritual gehört, uns für diese und zunächst auch nur für diese Runde zu motivieren.
Der Wind ist jetzt stärker geworden.Nach 75 Kilometern und über 5 ¾ Stunden Laufzeit sind die Muskeln müde, die Beine schmerzen, und gegen den starken Wind zu laufen, kostet Kraft und Willensstärke. Endlich biegen wir ab, und das Laufen fällt wieder etwas leichter. Doch da: plötzlich ein stechender Schmerz im mittleren linken Zeh. Ich laufe weiter, der Schmerz bleibt. Der Nagel, schießt es mir durch den Kopf, der Nagel ist umgeknickt, und der Schuh drückt ihn bei jedem Auftreten nach hinten.
Ich halte an, will den Schuh öffnen, doch ich bekomme die Doppelschleife nicht auf. Der Kopf ist voll auf „Bewegung, Durchlaufen, Nach vorne, zum Ziel hin“ eingestellt. Ich gebe den Versuch auf, weiter! Wieder der Schmerz beim Auftreten. Ich fluche, schreie meinen Frust heraus. Ich versuche, die Zehen nach vorne einzurollen, das geht besser. Aber der Verstand funktioniert noch gut genug, um zu erkennen, dass ich so nicht weitere 2 Stunden vorwärts humpeln kann.
Ich bin immer noch am Fluchen.Das erleichtert mich zwar, aber es verschafft keine Abhilfe. Es hilft nichts. Ich muss anhalten. Diesmal gelingt es mir, den Schuh zu öffnen und auszuziehen. Ich habe mich links von der Straße hingesetzt, der Hausherr kommt auf mich zu, fragt, wie er helfen kann. „Ein Pflaster könnte ich gebrauchen.“ So hoffe ich, das Umknicken des Nagels unterbinden zu können. Er läuft los. Ich ziehe den Strumpf aus, und in dem Moment platzt die Blase, die sich unter dem Nagel und drumherum gebildet hat. Eine weißlich-rosane Flüssigkeit spritzt heraus. „Es geht schon. Ist okay“, rufe ich dem freundlichen Helfer noch zu. Wer weiß, wie lange das Pflasterholen dauern würde. Und so muss es gehen. Ich will weiter.
Tatsächlich: Nur beeinträchtigt durch einen leichten Schmerz, den ich aber schon bald nicht mehr spüre, kann ich wieder richtig auftreten. Birgit, die einige Meter hinter mir geblieben war, auch sie ist durch eine aufgeplatzte Blutblase gehandicapt, ist nun etliche Meter vor mir. Durch die Aktion habe ich meine zweite kleine Pause, gedauert haben wird es wohl 1 bis 2 Minuten.
Mein Kopf sagt: aufholen, wieder in den Lauf hineinkommen. Und als ich das mache, nämlich beschleunigen, um wieder etwas Zeit gutzumachen, merke ich, das geht, da ist doch noch Kraft. Trotzdem achte ich darauf, nicht zu übertreiben. Schließlich warten am Ende der Runde immer noch weitere 20 Kilometer auf mich. Kontinuierlich komme ich nach vorne und habe vor dem Ende der Runde wieder Anschluss an meine Begleiterin gefunden.
Die schwächelt nun allerdings etwas.Wir gehen zusammen in die vorletzte Runde. Obwohl ich mich umdrehe und versuche, ihr das Dranbleiben zu ermöglichen, wächst der Abstand. Jetzt ist das Rennen purer Kampf, nicht durch die Kraft der Muskeln wird es gewonnen, sondern durch den Kopf, der nach vorne treibt, der die Gedanken an Stehen bleiben, Entspannung, Ruhe vertreibt.
Irgendwann bin ich nur noch Laufmaschine, nach vorne orientiert, drehe mich nicht mehr um, sondern fokussiere alles darauf, diese Runde zu Ende zu bringen. Und dann wartet nur noch eine letzte. Als ich Kilometer 4 passiert habe und wieder auf das Windstück komme, weiß ich, dass ich den zweiten Marathon für heute hinter mir habe. Der Kopf, aufs Weiterlaufen und Ankommen fixiert, schafft es nicht, die 2. Marathonzeit zu ermitteln. Das mache ich erst sehr viel später nach dem Lauf und komme auf eine Zeit von etwa 3:19:30 h, langsamer als der erste Marathon, aber das war einkalkuliert.
Noch eine halbe und eine ganze Runde: die letzten Reserven werden mobilisiert
Als ich die Gegenwindstrecke hinter mir habe, erlebe ich ein kleines Zwischenhoch. Ich weiß, die zweite Hälfte ist leichter. Aber gleich folgt ein Dämpfer, denn der Wind hat leicht gedreht, so dass ich ihn noch etwas länger als Gegner habe. Aber danach geht es einigermaßen, und ich nehme schließlich die letzte Runde in Angriff. Neunmal bin ich diese Strecke nun schon gelaufen. Bisher waren die Runden das Maß aller Dinge. Jetzt verschiebt es sich. Jetzt ist es jeder einzelne Kilometer, jeder dieser 10 Kilometer will gesondert genommen, bezwungen werden. Und war es bei den Runden zuvor so, dass das nächste km-Schild plötzlich wie von selbst auftauchte, so kommt es mir nun vor, als hätte sich alles in die Länge gezogen.
Nach km 6 oder 7 merke ich dann, dass die Kraft raus ist. Mit unerwarteter Heftigkeit empfinde ich ein Gefühl, im Ziel sein zu müssen. Ich habe das Gefühl, ich hätte es verdient, im Ziel zu sein, JETZT, und, verdammt noch mal, diesen geschundenen Körper nicht noch weiter zu quälen. Aber in mir sagt eine Stimme: „Du bist nicht im Ziel. Lauf weiter, du hast noch eine Viertelstunde vor dir, nur diese Viertelstunde ist entscheidend. Wenn du am nächsten Tag daran denkst, was du getan hast, und dir diese Viertelstunde fehlt, dann hast du nichts, gar nichts.“ Und so schiebe ich meinen Körper weiter.
Insgeheim denke ich,wenn ich erstmal km-Schild 9 erreicht habe, dann ist das Ziel nahe. Dann kann ich noch mal zulegen. Aber als ich km-Schild 9 passiere, im Park, passiert das Gegenteil. Jetzt ziehen sich die 100 m-Abschnitte dieses letzten Kilometers auseinander. Als ich in die Verpflegungszone einbiege, sehe ich weit hinten das Ende der Geraden. Ich weiß, danach geht es nach einer Kurve ein Stück in die Gegenrichtung, über die Kontrollmatte, dann noch mal nach links und erst dann die letzten Meter bis ins Ziel. Und das Ende der Geraden ist noch so weit.
Als ich auf Höhe der Verpflegungsstände bin, sehe ich einen Schatten rechts von mir auftauchen und höre ein „Los, komm mit.“ Es ist Birgit, die sich wieder herangekämpft hat und in einem furiosen Schlussspurt mit persönlicher Bestzeit ins Ziel läuft. Ich selbst bin damit beschäftigt, mich mit gleich bleibendem Tempo dem Ziel näher zu bringen.
Endlich habe ich das Ende der Geraden erreicht, biege ab, überlaufe die Kontrollmatte und habe, 30 Meter vor dem Ziel und die Zeituhr mit den umspringenden Sekunden vor Augen, endlich die Kraft für so etwas wie einen Endspurt light. Um später meine handgestoppte Zeit mit der offiziellen vergleichen zu können, nehme ich eine letzte Zwischenzeit vor der ersten Matte und will stoppen nach der zweiten. Die Koordination klappt aber nicht mehr, und erst mit 1-minütiger Verzögerung schaffe ich es, meine Uhr anzuhalten.
Im Ziel: Erschöpfung pur
Ich bin im Ziel, erschöpft, ausgelaugt, fertig. Ich gehe nach rechts aus der Laufstrecke heraus und lehne mich an eine Wand. Eine Helferin kommt und fragt, ob ich etwas trinken möchte. Ich winke ab, muss mich erst etwas erholen. 2, 3 Minuten später lasse ich mich zum Ausruhbereich führen, hülle mich in die Decke, die mir die Helferin gibt, und nehme mir 2 Trinkflaschen. Ich entdecke Birgit, der ich zum Lauf und zu dem tollen Endspurt gratuliere.
Ich setze mich auf einen Tisch und sehe andere Läufer, die vor mir ins Ziel gekommen sind, alle erschöpft, fast apathisch wirkend, gezeichnet von der Anstrengung. Nur ausruhen, nichts tun - aber bei dieser Haltung macht sich mein Rücken bemerkbar. Ich stehe langsam auf und lege mich auf ein Holzbrett. 2 Franzosen, die schon etwas erholt wirken, fragen besorgt, ob alles in Ordnung sei mit mir. „Reposer, un peu.“ bringe ich mit meinem Schulfranzösisch heraus. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich einigermaßen fit fühle, und daran denke, zu Thomas, meinem Betreuer, zu gehen. Er kommt mir bereits entgegen, gratuliert mir zum erfolgreichen Ende.
Es war mein fünfter Lauf über diese lange Distanz, und es war der härteste. 7 Stunden, 47 Minuten und 33 Sekunden war ich unterwegs, genau 1 Sekunde langsamer als vor einem halben Jahr in Kienbaum. Netto wären es 7:47:20 h gewesen, aber die Nettozeit wird nicht ausgewiesen.
Nach dem Lauf
Auf dem Weg zur Dusche sehe ich Stefan auf seinen letzten Metern. Mit 8:31:23 beendet er das Rennen. Thomas M. ist vor ihm mit 8:25:07 eingelaufen. In der Umkleidekabine angekommen, stelle ich fest, dass nicht nur der mittlere Zeh links, sondern alle 5 Zehen rechts dicke, fette Blasen haben. Da ich nichts zum Desinfizieren dabei habe, werde ich sie erst am Sonntag aufstechen. Die heiße Dusche tut gut, ich fühle mich deutlich besser.
Zurück in der Halle sehen wir, dass die Ergebnisse permanent aktualisiert und mittels eines Beamers auf eine Leinwand projiziert werden. So muss man nicht lange auf papierne Ergebnislisten warten. Ich entdecke, dass ich als 55. insgesamt eingelaufen bin. Noch sind Läuferinnen und Läufer auf der Strecke. Wenn alle drin sind, werde ich sehen, dass 328 gestartet sind, von denen 224 das Rennen beendet haben. Etwa jeder 3. ist heute nicht durchgelaufen, eine hohe Aussteigerquote. Mit meiner Platzierung im ersten Quartil bin ich hoch zufrieden. Immerhin ist hier die absolute Weltspitze am Start gewesen.
Die Leinwandergebnisse weisen allerdings nicht die Altersklassen der Läufer aus. So dauert es noch eine geraume Weile, bis ich auf der ersten gedruckten Liste sehe, dass der 2. Läufer in meiner Altersklasse M55, ein Pole, mit 8:17:20 h praktisch eine halbe Stunde nach mir ins Ziel gelaufen ist. Die Siegerehrung beginnt mit ½-stündiger Verspätung um 22.30 Uhr. Das Maß aller Dinge sind die Japaner, die den ersten Mann (6:23:21) und die erste Frau (7:00:27) stellen und beide Teamwertungen gewinnen. Ich nehme eine Medaille, einen Pokal (für die offene Wertung) und 2 Blumensträuße mit, über die sich meine Frau am nächsten Tag freut.
Noch später nach dem Lauf
Da wir das Ereignis vorhin schon ein kleines bisschen begossen haben, lassen wir eines der Autos in Winschoten und fahren alle im zweiten zur Unterkunft zurück. Es ist mittlerweile eine halbe Stunde nach Mitternacht. Wir haben nun ein kleines und ein großes Problem. Das kleine Problem: wir haben nichts gegessen und Hunger, das große: wir haben kein Bier. In Holland gibt’s das auch nicht an Tankstellen. Also lassen wir uns vom Navi Tankstellen in Deutschland zeigen. Nachdem auch die dritte, die wir anfahren, geschlossen ist, geben wir es auf. Klar, hier ist Pampa, hier müssen noch nicht einmal Bürgersteige hochgeklappt werden, da’s keine gibt.
Als wir durch eine Ortschaft fahren, erleben wir das Wunder: Wir sehen zwei geöffnete Gaststätten. Bereits in der ersten gibt’s Flaschenbier, und so erreichen wir unser Gasthaus um ½ 2 Uhr nachts doch noch mit einem Kasten Bier. Der Abend ist gerettet. Eine Stunde später treibt uns die Müdigkeit aber doch in die Betten.
Bernd