Eines vorweg:
Herzlichen Glückwunsch zu diesem Extremlauf, zur Deutschen Meisterschaft und natürlich
vor Deiner körperlichen und mentalen Leistung!
zudem für die Mühe und Energie, uns in Form dieses brilliant geschriebenen und detailreichen Laufberichts an allen Etappen Deines Laufs jenseits der Grenzen teilhaben zu lassen. Ein Lesegenuss!
Ein anderes aber dazu: Die Sinnfrage darf man ob solchen Tuns aber wohl nicht stellen. Ich vermag nicht recht einzustimmen in die Jubelorgien, die Beifallsstürme, die dem Besitzer jenes geschundenen Körpers gelten, dem Kilometer um Kilometer, Runde um Runde abgerungen wurde, der nur
eine Vorgabe zu erfüllen hatte: 24 Stunden ohne Pause zu laufen.
Was hat Dich getrieben? Was ist daran "Erfolg"? Wo läge die Grenze zum "Misserfolg"? Solche und andere Fragen haben mich bewegt, als ich heute Morgen meine Runde gedreht und dabei die Sonnenstrahlen des Augenblicks, die aktuellen Steigungen und das Schattenspiel der Bäume auf dem Weg genossen habe. Ohne dabei an die nächste Runde zu denken, die noch zu erwartenden Schrecknisse...
Ja, es ist wohl die menschliche Suche nach Grenzerfahrungen - danach, Grenzen jeder Art zu überwinden, um ... ja, um was danach zu erleben? Ein existentielles Phänomen, ich weiß. Ich weiß natürlich auch, dass speziell im Sport jede einmal erbrachte Leistung mit dem Anreiz verknüpft ist, diese Leistung noch einmal erbringen oder gar übertreffen zu wollen. Weiter zu kommen als beim letzten Mal oder aber über die gleiche Distanz schneller zu sein. Man möchte besser sein - besser als der Konkurrent oder aber besser als man selbst bei anderer Gelegenheit. Das ist dem sportlichen Tun sozusagen wesensimmanent.
Und doch bohren zwei Fragen weiter in mir, als ich längst die Schuhe abgestreift und den Laufschweiß unter der Dusche abgespült habe.
(1)
Was kommt jenseits der Grenze? Wem oder was suchen wir zu begegnen, wenn wir den Raum gesprengt haben, der unsere bisherigen Möglichkeiten begrenzte?Oder geht es um das Tun an sich, die nie endende Tätigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, ein wie auch immer geartetes "MEHR" erbringen zu wollen? Und damit vom ersten Anlauf an bereits den Makel des endgültigen Scheiterns in sich zu tragen... Geht es um Anerkennung, um Bestätigung? Durch andere oder nur durch mich selbst? Wofür oder wozu das alles?
(2)
Wo ist die Grenze? Bei 219 km? Oder erst bei jenen 246 km, die der Spartathlon vorgibt? Gar erst bei den 5000 km des Trans-Amerika-Laufs? Sicherlich ist die Grenze eine sehr individuelle, denn was dem einen ein triumphales Glückserlebnis bedeutet (z.B. seinen ersten Marathon beendet zu haben), ist für den anderen bestenfalls ein Auftakt zu Größerem ("Ein Marathönchen geht immer"). Aber es geht natürlich nicht nur um Entfernungen. Es geht schon längst um Normatives: Was ist erstrebenswert, was erreichbar? Wieles Ziel lohnt, sich dafür zu mühen, welches ist schlichtweg "gesponnen", einfach nur "verrückt"?
Ich weiß auch, dass Grenzen dieser Art fließend sind und sich im Laufe der Zeit (sic!) verändern. Das macht die Suche nach einer Antwort noch schwieriger. Das einst unerreichbar Scheinende ist mitunter zur Routine geworden, zum lieb gewordenen Ritual, das nur noch selten zu euphorischen Ausfällen Anlass gibt. Mir dämmert, das die Rekordsucht ein janusköpfiges Wesen ist: Der Erweiterung meines Handlungsraumes steht eine gewisse Verarmung gegenüber, wenn mir die Freude darüber abhanden kommt, mich mit weniger zufrieden geben zu müssen. Warum bedeutet mir ein gelungener 10er heute weniger als vor 10 oder 20 Jahren?
Lieber Udo, ich weiß, dass die meisten dieser Gedanken (die ich beim Frühstück fortgesetzt habe und mit denen ich noch lange nicht fertig bin) nicht grundsätzlich neu sind. Sie sind für einen Sportwissenschaftler sozusagen immer mal wieder "dran", sei es in Bezug auf den "großen" Sport z.B. der Tour der France oder der kommenden Olympischen Spiele, oder für unseren "hausgemachten" Sport im Lauftreff oder Verein, in der Familie oder der Schule.
Immer wieder begegnen uns solche Erfahrungen und Grundsatzfragen. Sie sind zu wichtig, als dass wir uns mit einem flotten Laufschritt darüber hinwegsetzen könnten. Dein Bericht hat wieder mal einen Anstoß gegeben, sich dem zu stellen. Du hast sicherlich nicht geahnt, dass Dein Lauf solche Folgen zeitigt, nehme ich an. Aber auch das bringt uns weiter.
Nicht die Erkenntnis gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrtum. (F. Nietzsche)