Sie verließen die Autobahn, gurkten auf kleinen Landstraßen herum, geführt durch die quäkende Frauenstimme im Navi, die sie irgendwann herunter von der Straße auf einen Feldweg dirigierte. Links und rechts des Weges eine Mondlandschaft aus Heidekraut, vertrocknetem Gras und Baumstümpfen. Tschernobyl? Nein, wusste Köbbele, die Mönche im Kloster "Zu den 5.000 Birken" hatten schlicht auf Massenproduktion statt auf Nachhaltigkeit gesetzt – nun hatten sie den Salat!
Schon aus drei Kilometern Entfernung sahen sie, notdürftig verdeckt durch die wenigen übrig gebliebenen Bäume, die verschachtelten Gemäuer der Klosteranlage. Auch diese Bäume wären wohl den Kruzifixschnitzern zum Opfer gefallen, wenn nicht Genosse Wladimir in einer der esoterischen Schriften, die irgendwie in die Klosterbibliothek geraten waren, etwas über die „magische Kraft der Bäume“ gelesen und daraufhin täglich über Stunden hinweg die Arme um einen stattlichen Birkenstamm geschlungen, schamanische Gesänge von sich gegeben und die Energien von Mutter Erde erfleht hätte. Die ehemaligen IMs hatten dem Treiben stillschweigend zugesehen - solange der Genosse auf diese Weise beschäftigt war, quakte er ihnen wenigstens nicht die Ohren voll und sie konnten den Tag gemütlich mit Kartenspielen oder dem Schwadronieren über die guten alten Zeiten verbringen („Also, der absolute Hammer war ja, als der Ferkel, dieser IM Nutella, die Angie – ihr wisst schon, die Tussi aus dem Mecklenburgischen mit dem tollen Vorbau, die hinterher richtig politische Karriere gemacht hat, damals in seinem Maserati …!“).
Im Innenhof der Klosteranlage, direkt vor dem Portal der Kirche, brachte Köbbele den A8 zum Stehen und half zusammen mit Kevin Frau Elfriede galant in ihren Rollstuhl. Auch Erich K. entdeckte seine ritterliche Ader und unterstützte Schackie dabei, sich aus dem Rücksitz zu schälen und ihre langen Beine sicher auf die schicken pinkfarbigen Stilettos zu stellen. Sechs Männer standen im Torbogen, schweigend und mit verschränkten Armen. Misstrauisch, fast feindselig musterten sie die Ankömmlinge. Außer IM Nutella und dem verschwiegenen LKW-Fahrer, der alle drei Monate ein paar Kübel Schokopampe anlieferte, hatte seit Jahren kein Fremder mehr die Anlage betreten (obwohl das bitter nötig gewesen wäre, denn es regnete an zahlreichen Stellen durch das Dach, die Heizung funktionierte nicht mehr so richtig und die Toilette war auch dauernd verstopft, sodass es bei niedrigem Luftdruck grässlich nach Fäkalien stank – die Herren IMs hatten in ihrem Schulungslager in Moskau zwar alles Mögliche gelernt, waren aber zu dusselig oder zu fein, um simple handwerkliche Arbeiten auszuführen). War ihre Tarnung jetzt aufgeflogen? Wer sollte die unwillkommenen Gäste beseitigen, und wie sollte das geschehen? Wortlos blickten sich die IMs an, und sie waren sich bewusst, dass sie doch alle ziemlich außer Übung waren, was die Entsorgung unliebsamer Zeugen anging. Bedauerlicherweise ließ außerdem ihre technische Ausstattung auch sehr zu wünschen übrig. IM Nutella war knauserig gewesen, was das anging, obwohl sie mehrfach den Wunsch an ihn herangetragen hatten, doch auch ein wenig von den neuesten Entwicklungen der Nanotechnologie und „AI“ profitieren zu dürfen – „Genosse Ferkel, wir sind jederzeit bereit für weitere Aufträge!“ (Hans Ferkel dachte natürlich nicht im Traum daran, diese Vollpfosten, die sogar für die Vermarktung von Birkenholzprodukten zu blöd waren, jemals für einen ernsthaften Job einzusetzen. Hier im polnischen Busch konnten sie wenigstens keinen Mist bauen!). Langsam wandelte sich die Feindseligkeit der IMs in eine gewisse Verlegenheit und Peinlichkeit. Niemand bewegte sich, auch die Ankömmlinge warfen unsichere Blicke um sich und schwiegen eingeschüchtert. Die Stille war unerträglich.
Plötzlich durchbrach eine Stimme das unheilvolle Schweigen: „Nu, Tella! Nu, Tella! Nu, Tella!“. Eine der sechs schweigenden Gestalten im Torbogen wurde kreidebleich. „Nu, Tella!, Nu, Tella!“. Die Stimme wurde lauter und fordernder. Erich? Sein Erich? Sein kleiner, sein einziger, sein knuddelsüßer Sohn Erich, den er als zweijährigen Stöpsel mit seiner Mutter hatte nach Osnabrück ausreisen lassen müssen, auf Befehl dieser Idioten, die ihn dann später hierher in das Kloster verfrachtet hatten. Ernst Otto K. war wie gelähmt, um im nächsten Moment aus der Reihe der IMs auszubrechen, auf die Ankömmlinge zuzustürzen und diesen blassen, verwirrt dreinblickenden und immer die gleichen Worte dahinbrabbelnden Mittvierziger in den abgetragenen Klamotten in den Arm zu schließen. „Nu, Tella, Nu, Tella!“, murmelte auch er tränenerstickt. Irgendwo in Erich K.s Gehirn lösten diese Worte eine Erinnerung aus. Die Stimme kannte er, das war, das war … „Papa!“.
Nach dieser herzzerreißenden Szene war den Bann gebrochen. Die fünf verbliebenen IMs gaben, immer noch schweigend zwar, aber nicht mehr so feindselig den Weg in die Kirche frei. Schackie fand das alles ziemlich schräg! „Und wat is nu mit Fotos machen?“, flüsterte sie Kevin fragend zu. Spatzerl peilte genau so wenig wie sie. „Ich glaub’, Erich will ersma mit seim Pappa bisken quatschen!“, zischelte er zurück und nahm sich vor, Tante Friedchen noch mal genau zu fragen, wie das denn mit seinem und Schackies Modeljob laufen sollte. Köbbele schob Frau Elfriede im Rollstuhl durch das Portal, gefolgt von Kevin, der seinen Arm schützend um Schackie gelegt hatte (schließlich waren sie ja verlobt, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wann das passiert war – aber das hieß ja bei ihm nicht so viel!). Schackie ließ ihn gewähren, denn sie spürte, dass ihm der Verlust von WinnifriedK. noch immer sehr nahe ging. Wenn sie ehrlich war, dann hatte auch sie dieses inkontinente Fellknäuel in ihr Herz geschlossen – „Ihre beiden Männer“ hatte sie Kevin und WinnifriedK. insgeheim genannt und hatte wie Kevin ein paar Tränen vergossen, als sich herausstellte, dass ihr süßer kleiner Yorkie (Kevin hatte ihr überzeugend versichert, dass er Heinz Hermann Lügen strafen und aus WinnifriedK. doch einen brauchbaren Hütehund machen würde, den besten in ganz MeckPomm, jawohl!) nicht weiter als ein FROG war!
Naja, jetzt waren WinnifriedK.s Überreste auf dem Weg in die Ukraine, Hans Ferkel und seine Mitarbeiter im Schlepptau, die nicht wissen konnten, dass ihre scheinbar so clevere Idee längst aufgeflogen war. Geiz war eben nicht immer geil, und wären IM Nutella und seine Genossen den Japsen gegenüber nur ein bisschen großzügiger gewesen, hätten sie ihnen vielleicht doch einen von diesen FROGs mit Kamera und Mikro aus den Rippen leiern können statt dieses uralten Senders mit Softwareproblemen! Dass Hans Ferkel (wieder mal) eine Operation so gründlich verbockt hatte, sollte im Übrigen nicht ohne Folgen bleiben. Seine Vorgesetzten in Moskau hatten sich schon den Arsch aufgerissen, um die Sache mit dem geschrotteten Maserati und deren Folgen auszubügeln (das war so weit gegangen, dass sie sogar Heinz Hermann K.s Tierarzt einen hochdotierten Posten auf einer neuseeländischen Schaf- und Rinderfarm hatten beschaffen müssen, um zu verhindern, dass er mit seinem Fachaufsatz über „Karies bei Heidschnucken“ zu viel Staub aufwirbelte – mit Sicherheit hätte es in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen über die Herkunft des Schaffutters gegeben). Aber die Sache jetzt war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und so kam es, dass Hans Ferkel auf dem Gelände der Fabrik für Generika, bis zu der er den Transporter mit den Überresten des FROGs verfolgt hatte, von drei dunkel gekleideten Herren empfangen wurde, die ihm freundlich, aber unmissverständlich klar machten, dass nun eine neue Mission auf IM Ferrero wartete (seine Sammlung von Dessous wurde im Übrigen einige Monate später bei Ebay versteigert; den Zuschlag erhielt schließlich ein Barbesitzer aus dem australischen Outback, der sein Lokal erweitert hatte und dringend einen Wandschmuck suchte).
Vor dem Altar der Klosterkirche stand der Weißhaarige. „Seid gegrüßt, Brüder und Schwestern!“, dröhnte er, um eine Sekunde später auf die Knie zu fallen, mit der Stirn den Boden zu berühren und „Oh, Heiliger Vater, welch’ unermessliche Ehre!“ zu murmeln. Verblüfft über die Reaktion drehten sich alle um und blickten zur Tür, in der eine kleine, fast kahlköpfige Männergestalt im weißen Gewand und mit weißer Haube stand und die Arme ausbreitete. Dr. Peterle! Frau Elfriede raste in ihrem Rollstuhl mit einer Geschwindigkeit los, die ihr locker den Sieg auf dem Danziger Krankenhausflur eingetragen hätte (sie war damals nur Dritte geworden, was sie bis an ihr Lebensende zutiefst wurmen sollte). Mitten zwischen den Bankreihen trafen sie sich. „Habe nicht ausgehalten ohne Frrau Elfrrrriede. Bin direkt von OP an dickes deutsches Mann los zu Klosterrr!“ Nur einen Augenblick zögerte Elfriede, dachte an ihren Ex-Mann und ihren Schwur, sich nach der Erfahrung mit diesem treulosen und feigen Idioten nie wieder auf einen Kerl einzulassen. Ein Blick in Dr. Peterles stahlblaue Augen ließ sie alle Bedenken vergessen.
Zwei Wochen später stand der schwarze A8 vollgepackt im Hof der Klosteranlage. Frau Elfriede und ihr Dr. Peterle hatten sich bereits am Morgen auf ihre Hochzeitsreise nach Usedom begeben (sie wussten natürlich, dass sie den Bund der Ehe noch auf dem polnischen Standesamt würden erneuern müssen, aber Genosse Wladimir hatte im festen Glauben, als Abt dafür zuständig zu sein, darauf bestanden, die Trauung persönlich vorzunehmen, und sie hatten ihn gewähren lassen).
Erich K. hatte sich entschieden, bei seinem Vater zu bleiben – nach Oer-Erkenschwick in Erichs düstere Dachwohnung zog sie beide nichts, und wenn Erich sein „Auslands-Hartz IV“ erst einmal durchgesetzt hätte (Köbbele hatte versprochen, mit Hilfe seiner Beziehungen den Gang der Dinge etwas zu beschleunigen), würden sie mit Hilfe seiner Kochkünste im Kloster wohl gut zurecht kommen, auch wenn die Nuss Nougat Creme-Lieferungen jetzt natürlich ausbleiben würden.
Köbbele musste zurück nach Pullach. Sicherlich würde er bei nächster Gelegenheit noch mal bei Romulus Anton Willi in Liechtenstein vorbeischauen, der ja durch die sichergestellte Daten-CD die Geschehnisse erst ins Rollen gebracht hatte. Und wer weiß, gute Männer konnte man bei seinem Verein immer gebrauchen! Einen so aufmerksamen Hilfswäscher mit drei Essensgutscheinen abzuspeisen, war wirklich eine Schande!
Schackie und Kevin hielten sich an den Händen. „Kuckma, Schackie, du willst doch ersma deine Ausbildung fertichmachen!“, versuchte Kevin zu trösten. „Und wenn ich zurück bin aus Schina, dann haste vielleicht schon deinen eigenen Salon!“ Ja, Kevin würde schon morgen mit einem Frachtschiff vom Danziger Hafen aus nach China abreisen. Auch das hatte Köbbele eingefädelt, tatkräftig unterstützt allerdings von Frau Elfriede („Scheint ja ganz nett zu sein, diese Schackie, aber Spatzerl ist doch noch viel zu jung für was Festes! Wollen doch mal sehen, ob die Geschichte hält, wenn die beiden mal eine Zeitlang nicht so aufeinander hängen!“). Um die Absatzprobleme der IMs im Kloster „Zu den 5.000 Birken“ zu lösen (sämtliche Scheunen und Keller waren noch voller Kisten mit Kruzifixen!), hatte Köbbele seine internationalen Verbindungen bemüht. Erst war ihm das Ganze ja etwas pietätlos vorgekommen. Aber als ihm ein offizielles Schreiben des Vatikan versichert hatte, dass ein Kruzifix erst dann ein heiliges Kruzifix war, wenn es geweiht worden war, hatte er sofort die Verträge unterzeichnet: 15 Seecontainer mit Birkenholzkruzifixen würden morgen verladen, um dann über Schanghai in eine zentralchinesische Recycling-Fabrik transportiert und zu Essstäbchen verarbeitet zu werden. Und Kevin durfte mit. Köbbele hatte sich anstrengen müssen, ihm die Reise schmackhaft zu machen. Erst als er angefangen hatte, von den Shaolin-Mönchen zu erzählen, die weltweit die besten Kickbox-Techniken drauf hätten und bei denen Kevin – das hätte er alles schon klar gemacht – bestimmt noch viel dazulernen könnte, hatte Kevin begeistert zugestimmt. Die Shaolin-Mönche hatte er nämlich schon im Fernsehen gesehen und richtig gut gefunden – zwar nicht ganz so gut wie Schackie, aber ein bisschen Abenteuer konnte ja trotzdem nicht schaden.
„Aba nicht vergessen, bei Lukas’ Omma und Oppa die Gurkengläser abzuholen!“, flüsterte Kevin Schackie noch ins Ohr, bevor er die Wagentür schloss und Köbbele den Motor startete. Nur wenige Minuten später war der A8 verschwunden. Kevin blieb noch eine Zeitlang im Tor stehen, bis auch die Staubwolke in der Ferne sich aufgelöst hatte. Langsam drehte er sich um und schritt der Klosterpforte entgegen.
ENDE