Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel! (Philipper 3, 13+14)
2007 und 2008 sind meine beiden Jahreshöhepunkte ausgefallen. 2007 bin ich 4 Tage vorher krank geworden, 2008 2 Wochen vor dem Marathon aufs Knie geknallt – das war es dann! Und ich merke, dass sich diese Angst ganz tief in mich eingefressen hat. Zwar habe ich schon im Mai 2008 beschlossen, den SM laufen zu wollen, wirklich überzeugt, dass ich ihn laufen werde, war ich allerdings erst ein Jahr später! Die ganze Vorbereitung über habe ich immer wieder in mich reingehorcht: Zwickt es hier? Tut es da weh? Ist das das Aus für den diesjährigen Traum?
Aber es ist vollbracht: Ich stehe am Start in Eisenach. Habe in den letzten Tagen alle hypochondrischen Register gezogen: Von Knie- und Hüftschmerzen, über Wadenzerrung, Halsschmerzen und Fieber, ich habe mir alles eingebildet. Aber auch das ist vorüber. Es ist geschafft. Ich starte.
Und wenn ich starte, das war mir klar, und kein Unglück geschieht, werde ich auch ankommen. Denn ich bin so gut vorbereitet wie noch nie. Im August letzten Jahres habe ich mit der Vorbereitung begonnen. Langsam Kilometerumfänge gesteigert, fleißig gedehnt und gekräftigt. Regenerationsphasen eingeplant und gezielt Schwerpunkte gesetzt. Ich bin drei Vorbereitungsultras gelaufen, alle mit für mich ganz tollen Ergebnissen, und, noch viel wichtiger, ganz tollen Erlebnissen. Ich habe wöchentlich Hügelfahrtspiele über 20-27 Kilometer mit jeweils 400 Hm geschrubbt, ich bin 2009 bis zum SM über 1400 km gelaufen, fühle mich wirklich bestens vorbereitet. Sadomaso-Marathon, du kannst kommen!
So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen (Prediger 7,9)
Um kurz vor 10 lag ich in meinem Bett und schlief erstaunlich gut. Er konnte kommen, der Lauf, dem ich jetzt ein Jahr entgegen gefiebert habe!
Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes. (1. Könige 19, 7+8)
Gut, 40 Tage und Nächte werden es hoffentlich nicht werden, aber gut gestärkt sollte ich wohl sein. Also habe ich gleich zwei Mal gefrühstückt: Einmal im Zimmer, die „Eigenverpflegung“, und dann noch mal in der Pension. Hier habe ich auch noch den obligatorischen Morgenkaffee zu mir genommen - eine Entscheidung, die sich rächen sollte, wie sich später noch zeigen sollte.
Gut gestärkt stehe ich also am Start. Der Schuss ertönt, ich trabe los. Wahnsinn, da stehen schon um diese unmenschliche Zeit Zuschauer da und feuern an! Wahnsinn! Wie genial ist das denn?
Nach einigen kurzen Kurven (und dem total genialen Schild „Nur noch 72 km bis Schmiedefeld...“) geht es auch direkt steil bergauf. Huch, so früh hatte ich die erste Steigung nicht erwartet. Ich habe mich recht weit vorne einsortiert, das Feld ordnet sich gerade noch. Ich werde überholt, überhole selber. Argwöhnisch beobachte ich die Läufer um mich herum. Gehen da schob die ersten? Tatsächlich. Wahrscheinlich ist es weise, es ihnen nach zu tun. Aber ich will nicht! Ich will laufen. Und außerdem geht es doch so gut. Das ist doch kein Berg, das ist nur ein Hügel. Also laufe ich weiter und genieße meinen funktionierenden Körper. Ob sich das rächen wird?
Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist. (Hebräer 12, 1)
Das trifft meinen Plan sehr genau. Der große Inselberg, KM 25, ist mein erstes Etappenziel. Ich habe mir die Strecke in 4 Abschnitte eingeteilt, die jeweils mit haarigen Anstiegen enden: Km 25 – Km 45 – Km 61 – Ziel. Und ich werde immer nur von Etappe zu Etappe denken, mich so durch den Lauf hangeln. Bis zum Großen Inselberg habe ich mir Geduld verordnet. Langsam laufen, wenn nötig gehen, Kräfte sparen. Schließlich werden bis dahin mehr als die Hälfte der Hm zurückgelegt. Es läuft hervorragend, ich tratsche mit den Läufern um mich herum, weiche den Pfützen aus... und schlage mich zum ersten Mal in die Büsche! Was ist denn das? Bei meinen letzten Wettkämpfen war ich jeweils ein Mal pinkeln, und das nicht nach 4 Kilometern! Ich habe nicht mehr getrunken als sonst, auch nicht mehr Kaffee... naja, dann isses weg, kann ja eh nix dagegen machen... wenn ich wüsste...
Positiv überrascht bin ich über dieses Teilstück der Strecke. Was habe ich da eine Angst gehabt. Wie oft habe ich gelesen „Die ersten 25 k geht es nur bergauf“. Und ich wollte das simulieren. Ich wollte das trainieren. Aber ich habe einfach keine Strecke gefunden, die 25 k nur bergauf geht. die gibt es hier einfach nicht. Und so beschlichen mich im Training nach Läufen mit welligen 20 k schon Zweifel: Und jetzt noch 5 k mehr? Und das ohne die Bergabpassagen zum ausruhen? Oh weia, wie soll denn das gehen?
Aber glücklicherweise ging es. Denn: Das mit den 25 k nur bergauf ist ein Gerücht. Es gibt immer wieder sanfte Passagen nach unten oder zumindest ebene Strecken. Gut zu laufen, und ach die Steigungen waren bei weitem nicht so hart wie befürchtet.
Als ich bei km 10 wieder aus den Büschen komme (was ist denn heute los???) höre ich ein lautes „Hallo, Chris!" Das gibt’s doch nicht! Da läuft tatsächlich Jörg vorbei. Ich freue mich wie verrückt und lerne an dieser Stelle auch Wolfgang kennen, mit dem ich die nächsten Kilometer vertratsche. Das war echt klasse, ein wirklich toller Zufall, in der Masse der Läufer genau euch zu entdecken!
Nach einiger Zeit trennen wir uns wieder, da mein Tempo etwas höher ist und ich ziehe weiter. Jetzt wird es langsam echt steil. Wow, das sind mal knackige Steigungen, darauf habe ich gewartet. Hier ist an Laufen nicht zu denken, und auch meine errechnete Zeit von 2:35 bis zum Inselberg ist nicht zu halten. Aber es geht noch recht gut... wirklich? Nach weiteren 2 Stops in den Büschen (HALLO??? ) merke ich, dass die Oberschenkel schwer werden. Oh weh! Jetzt schon? Ich bekomme Panik. Habe ich überzogen? Bin ich zu schnell los gelaufen? das ist mir noch nie passiert, aber wennh ich bedenke, dass jetzt noch mal gute 50 Kilometer kommen... Außerdem ist mir kalt. Ich bin mit Achselshirt losgelaufen, auf dem Berg hat es aber nur 5 Grad und es ist nebelig und windig. Zweifel kommen in mir auf. Angst. Habe ich mich abgeschossen? An der letzten Steigung vor KM 25 ist meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. In 2:43 habe ich den Inselberg erklommen. Das passt schon – wenn ich nicht überzogen habe. Ich schwanke zwischen Hoffen und Bangen. Und auch die folgende Bergabstecke ist alles andere als eine Wohltat – man ist das Steil und glitschig. Da kommt echte Freude auf, als endlich die Verpflegungsstation an der Grenzwiese auftaucht. Ich greife ordentlich zu und laufe weiter – auf zum schnellsten Abschnitt der Strecke!
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, spricht der HERR, dein Erbarmer. (Jesaja 54, 10)
Es ist doch erstaunlich, wie schnell man sich erholen kann, wie schnell sich die Stimmung ändert. Nach der kurzen Pause an der Verpflegungsstelle laufe ich die nächsten 4 Kilometer jeweils mit einer 4 vorne – wahnsinnig schnell. Aber die Strecke lässt es auch zu, es geht eben bis sanft berab dahin, ich fühle mich klasse und alles Sorgen sind wie weggeblasen. Naja, fast alle, denn bei km 30 schlage ich mich zum 7. Mal (!!! ) in die Büsche. Es nervt. Gewaltig sogar. Aber ich weiß einfach nicht, woran es liegt. Ich trinke nicht mehr als gewöhnlich, und es muss halt raus. Ich versuche das beste daraus zu machen und diese Stopps als Erholungspunkte zu nutzen. Um es vorweg zu nehmen: Fortan muss ich im Schnitt alle 5 Kilometer pinkeln. Das kostet mich, ich schätze mal vorsichtig, gute 15 Minuten. Unfassbar!
Jetzt beginnt die Pahse des Rennens, in der siuch meine Erinnerungen vermischen. Ich bekomme einfach nicht mehr zusammen, wann sich was ereignet hat.
Es läuft. Es läuft richtig gut. Sowohl der Lauf als auch beim Pinkeln...
Ich bin sehr gespannt, wie sich mein Tempo entwickelt. Hatte ich vor Km 25 mein Ziel auf die sub 8 festgelegt, träume ich mit zunehmender Streckenlänge wieder von der 7:30. Obwohl ich mich nicht traue, es laut zu denken. Aber träumen tue ich es. Denn es geht mir gut. klar, die Muskeln merke ich, aber das darf ja auch sein nach knapp 40 Kilometern. Aber ich habe keine orthopädischen Probleme, der Kopf ist frei, ich habe noch Lust und Freude zum Laufen. Alles im grünen Bereich! Dazu kommt, dass der Lauf auf meinem FR kürzer zu sein scheint als in Wirklichkeit. Denn mein kleiner Freund piept immer 500-250 Meter nach dem Schildern, die im 5-Kilometer-Abstand stehen. Das heißt, meine Durchschnittspace wäre schneller als angegeben, was wiederum heißt, dass ich schon jetzt einen kleinen Puffer habe. Das beflügelt natürlich. Erst jetzt beim Schreiben fällt mir voller Verwunderung auf, dass ich mir während des Laufes solche Gedanken machen konnte – und sie auch noch Sinn machen. Denn normalerweise verfalle ich während des Laufes in die saloppe Katatonie und bin nicht in der Lage, auch nur ansatzweise logische Gedanken zu fassen!
So trabe ich dahin, schwätze mit den anderen Läufern und finde es extrem witzig, dass immer dieselben um mich herum laufen: Ich überhole sie, sie überholen mich, ich gehe mal wieder pinkeln, dann überhole ich wieder... und so geht es munter weiter. Es sind immer so 8-15 Leute, mit denen ich gemeinsam laufe. Ich gebe ihnen heimlich Namen, amüsiere mich über meinen eigenen Witz und Geistreichheit (mit der es nicht so weit her gewesen sein kann, ich kann mich an keinen der von mir vergebenen Namen mehr erinnern...) und tratsche mal mit diesem und mit jenen.
An den Verpflegungsstationen greife ich immer kräftig zu, immer zwei Becher (warum, um alles in der Welt, kommt man auf die Idee, Mineralwasser mit Kohlensäure auszuschenken? Widerlich!!!) und vor allem schnappe ich mir immer wenn möglich etwas vom Schleim. Zugegeben, er sieht widerlich aus. Hat einen abstoßenden Namen. aber: Noch nie habe ich auf einer Laufveranstaltung was Besseres zu mir genommen. Er ist lecker, wirklich lecker, er ist warm, er ist leicht zu schlucken, und ich habe das Gefühl, dass er mir echt alles gibt, was mein Körper braucht. Liebe Veranstalter in ganz Deutschland, bitte macht das nach!!!
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat! (Psalm 121, 1+2)
Und schon bin ich bei der Marathondistanz vorbeigeflogen, und jetzt beginnt die für mich deftigste Steigung: Auf 2 Km geht es ordentlich bergauf, ich nehme sie im strammen Laufschritt, kann dabei sogar noch einige Läufe überholen (einige sogar 2 Mal, weil ich, richtig, wieder in die Büsche muss). Oben nehme ich mir einen Moment Zeit um durchzuschnaufen. Der zweite Abschnitt ist geschafft, die schlimmsten Berge sind vorbei!
Zeit die Strecke mal unter die Lupe zu nehmen. Keine Frage, die Strecke ist schön. Aber mehr nicht! Breite, gut laufbare Wege, viele Pfützen und Schlamm, ab und zu eine nette Aussicht (die dann aber wirklich SEHR nett ist). Aber wenn man vorher die Harzquerung gelaufen ist, verblasst der Rennsteig ein wenig. Jemand sprach von „Waldautobahn“, und das trifft es schon in großen Teilen ganz gut!
Allerdings wird dieses mini Manko von der unglaublich liebevollen und guten Orga wett gemacht und auch die Zuschauer sind, wenn vorhanden, ganz große Klasse!
Gegen Ende des Laufes (auf meiner „zweiten Hälfte" von Km 45-72) verändert sich das Feld der um mich herum laufenden Mitläufer immer wieder – langsam aber sicher fange ich an zu überholen. Meine Renneinteilung scheint wieder aufgegangen zu sein. Innerlich jubiliere ich. Klar, ich bin platt, aber da geht noch was. Spätestens jetzt weiß ich, dass ich ankommen werde. Erhobenen Hauptes. Ob ich die 7:30 knacke weiß ich noch nicht. Aber ich werde ankommen. Das beflügelt, das gibt den Kick und ich ziehe weiter. Immer mehr überhole ich, werde selber kaum noch überholt (außer, ihr ahnt es, wenn ich mal wieder... genau!!!). Relativ entspannt laufe ich weiter – und stehe plötzlich auf dem großen Beerberg, dem höchsten Punkt der Strecke! YES!!!
Aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Jesaja 40, 31)
Jetzt geht es nur noch bergab – aber halt, den Fehler der Harzquerung werde ich nicht wiederholen! Da kommen noch 2 Steigungen, also nicht zu früh gefreut! (DANKE, Tess!!!), ich gehe meinen letzten Streckenabschnitt sehr konzentriert an. Immer wieder feure ich mich selber an („Noch weniger als 20 k – das machst du im Training vor dem Frühstück!), und auch das Straßenschild „Schmiedefeld 8 km) an der Schmücke gibt noch mal richtig Zündstoff.
So laufe ich neben einem Kollegen her und als ich schon wieder pinkeln muss schaut er mich entsetzt an und meint nur. Schon wieder? Wenn du dir das sparen könntest, wärest du schon lange im Ziel!“ Naja, nicht ganz, aber recht hat er schon... Insgesamt habe ich bei 10 Mal aufgehört zu zählen, um mich nicht weiter zu deprimieren. Ich weiß nicht woran das am Samstag lag...
So ließ ich es rollen bis Schmiedefeld, hätte mich bei km 71 fast noch auf die Schnauze gelegt, weil ich schon mal einigen Zuschauern zujubeln musste und mich nicht konzentriert habe (boah, hätte mich das gewurmt...)
Dummerweise dreht sich jetzt was mit den Schildern. Nach dem fehlenden 70 k Schild (was soll denn das???) piepst mein FR schon gute 700 Meter (!!!) VOR dem 71 k Schild, im Ziel habe ich gar 73,9 km auf der Uhr. Das finde ich sehr komisch, vor allem, da sich das erst gegen Ende des Laufes so gedreht hat!
Aber egal, ich laufe dem Ziel entgegen (hier muss ich tatsächlich auch nicht mehr pinkeln), die Gärten in Schmiedefeld ziehen sich etwas, wo bleibt denn dieser blöde Zielkanal... endlich da ist er! Und es sind echt ordentlich Zuschauer da. Toll. Die klatschen alle. Toll. Für mich. Noch toller. Und dann nennt die Moderatorin auch noch meinen Namen. Danke! Sehr toll. Ich fliege über die Ziellinie und stoppe meine Uhr. Geschafft. Tatsächlich geschafft. Ich bin den SM gelaufen. Ich habe ihn gefinisht. In einer unglaublichen Zeit: 07:25:43. Das übertrifft meine kühnsten Träume. Aber: Trotz des schönsten Zieles der Welt: Der Start war noch emotionaler für mich!
Am ende des laufes konnte ich mir zum ersten Mal vorstellen, dass die 100k für mich laufbar sein könnten. Denn auch hier hätte ich noch ein wenig weiter gekonnt und mit weniger Hm und anderer Renneinteilung geht das bestimmt! Das stimmt mich zuversichtlich für die Zukunft!
Dann duschen, und ab ins Festzelt. Viele nette Leute getroffen (es war klasse mit euch!), lecker Bier getrunken und dann, mit leichten Problemen zurück nach Eisenach.
Jetzt, einige Tage später, lassen die Schmerzen langsam nach, ich kann langsam begreifen, was ich da geleistet habe: Ich bin ein Supermarathoni! Halleluja! Amen!