Von hinter Sonnenbrillen verborgenen Tränen, einer atemberaubenden Kulisse und der Gewissheit, dass alle Ultraläufer nette Typen sind: Mein K78 (Die Überschrift war für die Titelzeile dann doch zu lang...daher steht sie hier.)
Wie schnell es doch immer wieder vorbei geht, ist unglaublich. Da bereitet man sich mehrere Wochen akribisch vor, plant die Einheiten, überlegt, wie es sichergestellt ist, auf den langen Distanzen auch ausreichend Wasser zur Verfügung zu haben und flupp…schon hat man wieder eine neue Medaille an der Wand hängen. Schon etwas komisch.
Aber wenigstens hatte ich fast zehn Stunden Zeit den schönsten, den mächtigsten und den anspruchsvollsten Lauf zu genießen, den ich je gelaufen bin. All diejenigen, die eine solche Erfahrung noch nicht machen durften, verbinden mit Genuss etwas anderes, aber es war wirklich einer!
Leider stand wenige Stunden vor dem Lauf fest, dass es kein Lauf wie jeder andere werden wird, da Walter, ein nahestehendes Familienmitglied am Abend vor dem Start entschlossen hat, das nächste Kapitel aufzuschlagen und verstorben ist. So war aber auch sofort klar, für wen ich diese Herausforderung schultern werde.
Als ich am Samstagmorgen aus dem Fenster sah, war der Himmel noch wolkenverhangen. Die Prognose passte also, da es im Verlauf des Vormittages noch immer leichtere Schauer geben sollte. Ich erledigte dann alles, was vorher erledigt werden sollte und schon standen meine Tochter und meine Frau und gaben zu verstehen, dass es nun an den Start geht.
Im Startbereich ging es, wie für solche Veranstaltungen üblich, sehr ruhig zu. Der Stadionsprecher versuche in verschiedenen Sprachen uns Läufer auf das kalte Wetter auf dem Scalettapass einzustimmen. Dort oben sei in den letzten Tagen noch etwas Neuschnee gefallen und die derzeitige Temperatur läge etwa bei 3°C. In Gedanken versetzte ich mich mit meinem kurzen Leibchen schon einmal dort hin und musste innerlich doch etwas schmunzeln, da ich uns dick bepackte, in den neuesten Higtech-Jacken vom Mammut gekleidete Touris entgegen kommen sah, wo wir in kurzen Hosen und kurzem Shirt den Berg hochrennen und über die Schneefelder flitzen. So unterschiedlich kann man sich also auf quasi das Gleiche einlassen. Im Startbereich war allerdings von diesen winterlichen Temperaturen mitten im Sommer noch nichts zu spüren. Mit 14 °C war es zwar auch kein lauer Sommermorgen, aber zum Laufen eigentlich ideal.
Etwa um 07:50 Uhr, also zehn Minuten vor dem Start fiel mir noch auf, dass ich meinen Brustgurt für den Herzfrequenzmesser im Bad unseres Ferienhauses habe hängen lassen. Der erste Gedanke: Scheiße – im hochalpinen Bereich rumrennen und nicht wissen, was das Herz macht, ist –sagen wir einmal relativ neutral- eher suboptimal. Und was nun? Naja, es blieb ja nicht viel – meine Frau wollte zu Kilometer 30 mit dem Zug fahren und mir den Gurt nachliefern.
Da war er nun: Der Start zur nächsten richtigen Herausforderung meiner „Laufkarriere". Anfangs schlängelte sich der Lauf durch die netten Gassen von Davos, umsäumt von vielen hunderten Zuschauern. Die ersten Schritte fühlten sich bereits gut an und es ging hinaus aufs weite Land. Immer wieder wies die Strecke bergauf, vorbei an Almen und Wäldern, tiefen Schluchten und auch immer wieder an der Bahnstrecke, auf welcher sich irgendwann auch meine beiden Begleiterinnen befanden. Gesehen habe ich sie allerdings nicht. Nach ziemlich genau drei Stunden erreichte ich Filisur – den vereinbarten Treffpunkt.
Interessanterweise gibt es bei einem „normalen“ Marathon immer markante Kilometerbereiche. So ist z.B. das Erreichen der Halbmarathonmarke ein solcher, da es ja ab diesem Zeitpunkt mit der Anzahl der Kilometer bergab geht. Aber noch viel mehr ist die 30er-Marke in einem Marathon wichtig. Ab dieser warten nämlich viele (aber eher die untrainierten Starter) auf den Hammermann. Dieser ist bedingt durch Stoffwechselprozesse und der einsetzenden Erschöpfung der Kohlenhydratvorräte eigentlich nichts Ungewöhnliches. Ziel ist es jedoch immer diesen Zeitpunkt soweit es geht hinauszuschieben. Am besten auf Kilometer 43, dann ist man nämlich bereits im Ziel.
Aber was macht man nun bei einem Ultramarathon mit diesen Grenzen? Und noch viel interessanter ist doch die Frage: Verlagern sie sich vielleicht aufgrund des deutlich nach oben weisenden Profils nach vorne?
Dies ging mir so durch den Kopf, als ich auf Filisur zulief. Nachdem ich zwar keine Herzfrequenz hatte, oder besser mir diese nicht anzeigen lassen konnte, hörte ich einfach noch deutlicher in mich rein. Und was hörte ich da? Eigentlich nichts. Es tat nichts weh, die Wetterprognose hatte recht, denn es regnete tatsächlich über größere Teilstrecken nach Filisur, aber ich fühlte mich gut. Also entschied ich mich, auf die ach so relevanten Grenzen einfach zu verzichten. Zumal es mir ja eh nichts gebracht hätte, mich bei Kilometer 30 schlecht zu fühlen, da ich ja noch „zarte“ 48,5 Kilometer vor mir hatte.
Meine Tochter freute sich riesig mich zu sehen und tänzelte in einer Art Laufschritt vor mir her. Ich genoss diese wenigen Minuten sehr und war mir ab diesem Zeitpunkt sicher, dass ich das Ziel in Davos erreichen werde. Zumal Walter einen Abbruch nicht akzeptiert hätte.
Schnell den Brustgurt umgeschnallt, noch etwas getrunken und dann wieder auf die Strecke – es galt ja keine Zeit zu verlieren, da man beim SwissAlpine gewisse Zeitvorgaben erfüllen musste, sonst wäre man aus dem Rennen genommen worden. Allerdings machte ich mir darum keine Gedanken, da es alles sehr gut lief.
Meine „Kriegsbemalung“, die sich im Übrigen auch morgens nach dem Aufwachen auf meiner Matratze wiederfand, sorgte für den ein oder anderen netten Kontakt auf der Strecke. Witzig, dass auf diese Art und Weise andere, völlig Fremde Personen, an Walters letzter Reise teilnehmen durften. Allerdings musste ich mich in diesen Momenten auch immer ganz schön zusammenreißen. Aber ich hatte ja eine schwarze Brille auf.
Nachdem ich Filisur durchlaufen hatte, was nicht lange dauerte, ging es schier endlos hinauf nach Bergün. Ich hatte mein Handy dabei und wollte so meiner Frau immer über meinen aktuellen Standort oder meine Verfassung informieren. Um 12:08 Uhr schrieb ich folgende SMS:
„Bergün – was für ein Aufstieg bis hier her, aber mir geht es gut!“
Das Panorama und die ganze Atmosphäre beim Lauf zogen mich förmlich nach oben, sodass ich die bisherigen Strapazen der letzten vier Stunden überhaupt nicht wahrnahm.
Je höher es ging, desto unwegsamer wurde auch das Gelände. Nachdem dann auch irgendwann die Bäume verschwunden waren und die Landschaft einer Steinwüste glich, bemerkte ich tatsächlich die ersten Bergwanderer in Mammut-Jacken. Einer rief noch etwas von mindestens anderthalb Stunden noch bis zur Keschhütte. Im Nachhinein lächerlich, denn ich war in gut 45 Minuten dort.
14:00 Uhr: „Ich habe gerade die 50er Marke überschritten. Die Strapazen sind riesig, aber es ist wunderschön!“
Auf die Frage „Warum?“, die ich im Beitrag vor der Abreise in meinem Blog stellte, „warum und wofür nimmt man das alles auf sich?“, habe ich wieder einmal die Antwort erhalten, die ich eigentlich schon vorher kannte: Es sind die Menschen, mit denen man unterwegs ist!
Alle haben das gleiche Ziel, den gleichen Weg. Alle nehmen das gleiche wahr, wenn auch manchmal aus unterschiedlichen Perspektiven. Das ist es – der Zusammenhalt. Diese Ruhe, die schon am Start zugegen war, diese Ruhe ist auch auf der Strecke. Es gibt keinen der einen anrempelt, um schneller voranzukommen. Keinen der einen anpöbelt, er wolle nun vorbei und man solle doch Platz machen. Alle diese Typen gibt es bei „normalen“ Marathons. Dort drängeln sie sich im Starterfeld bereits an einem vorbei, schubsen dadurch einen anderen fort, um so in eine bessere Startposition zu kommen. Dann rennen sie los, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken, um nach wenigen Kilometern einzubrechen und behäbig am Streckenrand zu gehen. Genau diese Spezies sucht man auf Ultras vergeblich. Zusammengehörigkeit, Respekt voreinander – das ist Ultra. Ihr seht, dass Laufen und Philosophieren gerade auf langen Strecken zusammengehören zu scheinen.
14:42 Uhr: „Keschhütte – vergiss Bergün, es ist der blanke Wahnsinn! Aber mir geht es noch immer gut, ich bin auf dem Weg zu euch!“
Was der Kilometer 30 auf vielen Marathons ist, ist die Keschhütte beim K78. Und das Zeitfenster? Kein Problem – weit über eine Stunde schneller als gefordert. Der endlos lange Pfad, den wir teils sehr langsam nur voranschritten lag nun hinter uns. Ich gönnte mir noch eine leckere warme Bouillon und machte mich auf den Weg abwärts. Für etwa zwei Kilometer ging es auf sehr lauffeindlichem Gelände hinab. Wir verloren einige Höhenmeter, bis es wieder anfing anzusteigen: Willkommen auf dem Panoramatrail.
Um uns waren nur Berge, ein stark abfallendes Gelände auf der rechten Seite und ganz unten ein reißender Fluss, der sich seinen Weg ins Tal suchte. Wir unterwegs auf einen sehr schmalen Weg, ich schätzte ihn auf manchmal starke 40 Zentimeter breit und bei uns dieses einmalige Gefühl der Freiheit in Mitten einer atemberaubenden Kulisse.
Ans Laufen war nicht mehr zu denken. Der Untergrund ließ es nicht zu. Aber warum auch über dieses Erlebnis drüberhetzen? Genuss sollte es sein, Genuss war es!
16:00 Uhr: „Kilometer 60“
Ich kam erst wieder so richtig zu mir, als ich mich in Dürrboden befand. Das liegt quasi am Ende des Scalettapasses und führt direkt hinab nach Davos. Kurz konnte ich noch mit meiner Frau telefonieren, die jedoch nur die Hälfte verstehen konnte, da das Netz sehr schlecht war.
Vor mir lagen die letzten etwa 15 Kilometer. Noch einmal versuchte ich so viel mitzunehmen, was ging. Verabschiedete mich schon langsam von dem K78 und näherte mich dem Ziel. Ich befand mich auf den Strecken, die ich in der Woche zuvor schon zweimal gelaufen war, es ging also wirklich nach Hause.
Nach einigen kleineren Anstiegen und Kurven nahm ich den Stadionsprecher wahr. Und tatsächlich, als ich nach rechts sah, konnte ich das Davoser Eisstadion erkennen. Dort musste ich nun nur noch hin.
Umsäumt von zahlreichen Zuschauern lief ich in das Davoser Sportzentrum ein und musste nun nur noch eine halbe Stadionrunde drehen. Ich schätze mal, dass sich die Organisatoren das vom Heilbronner Trollinger-Marathon abgeschaut haben.
Da war sie – die Ziellinie. Es hatte 9 Stunden, 56 Minuten und 30 Sekunden gedauert, bis ich diesem Moment als Krönung des Ganzen erleben durfte. Die Krönung eines Laufes, der geprägt war von Emotionen, sagenhafter Natur, mächtigen Bergen und dem Gefühl wieder einmal mit den richtigen Menschen unterwegs gewesen zu sein.
Noch in Emotionen schwelgend…
Ein Emotionsreicher Lauf in fantastischer Kulisse: Mein K78
1Viele Grüße
Jirka
Wir leben nicht, um besser zu laufen, sondern wir laufen, um besser zu leben!
Jirka
Wir leben nicht, um besser zu laufen, sondern wir laufen, um besser zu leben!