Manche Menschen können den Hals nie voll genug bekommen. Manche Politiker zum Beispiel, auch bei den Gagen einiger Profilfußballer frage ich mich schon, ob es im Alltag wirklich einen Unterschied macht, ob ich jetzt 523.000 Euro oder 4:27.00 Euro pro Woche verdiene – aber wahrscheinlich fehlt mir da einfach der realistische Bezug zum Geld...
Und auch unter Läufern soll es, Gerüchte besagen es zumindest, einige geben, die kilometertechnisch einfach den Hals nicht voll genug bekommen können. Laut meiner Frau steckt auch eine gute Portion Geltungssucht dahinter – was ich nach eingehender Klausur mit mir selbst nicht abstreiten kann. Ein solches Exemplar, dass nie genug bekommen kann, bin, man ahnt es, ich.
Vor einigen Monaten fragte mich Maria (aka princesse_enchantee), ob ich sie beim 1. Nachtlauf in Dresden begleiten würde. 13 Kilometer, Start bei Sonnenuntergang, wunderschöne Strecke die Elbe entlang mit voller Panoramabreitseite von Dresden bei Nacht. Und das für kleines Geld, je nach Meldezeitpunkt wurden 9-13 Euro fällig. Klar, ist doch Ehrensache, dass ich da dabei bin. Mache ich den Wasserträger.
Je näher die Torheit Bernau rückt, desto wichtiger wird mir das Kilometersammeln im Training. Und, mal ehrlich – 13 Kilometer? Lohnt sich da An- und Abreise überhaupt? Brauche doch eh 2 lange Läufe in der Woche... da könnte ich doch das Einlaufen ein wenig verlängern, sagen wir, um ca. 40 km, nach Dresden laufen, den Wettkampf mitmachen und mit Maria wieder mit dem Zug heim fahren. Coole Sache. Mache ich so.
Zwischenzeitlich haben wir Lukas, meinen Laufkumpel und Marias Freund, belabert, dass er doch mitkommen solle. Aber er ziert sich. Ihm ist es auch zu blöd, für 13 langsame Kilometer nach Dresden zu fahren. Mit hin laufen, das ist ihm zu weit. Aber er könnte ja mit dem Fahrrad hin- und zurück fahren. Das würde sich lohnen.
Moment. Hin- UND zurück fahren. Das eröffnet ja ganz neue Perspektiven. Ein Gedanke gärte in mir. Ich klemmte mich hinter den PC und tüftelte eine Strecke aus. Hin- und Rückweg, mit Nachtlauf in Dresden, das ergäbe in etwa 100 km. Es juckt. Und zwar gewaltig - bin ja noch nie 3stellig gelaufen. Wäre für Bernau bestimmt mal nicht schlecht. Gut, sind einige Berge drin, Dresden liegt etwa 350 Meter tiefer als Freiberg, und die Strecke ist gut wellig. Aber mit Fahrradbegleitung? Offiziell habe ich an diesem Punkt noch gesagt „ich spiele mit dem Gedanken“. Innerlich war klar: Das mach ich so! Lukas gefragt, für schwachsinnig genug befunden, beschlossen! Endlich mal ein Wettkampf mit ausreichend Ein- und Auslaufen!
Der Lauf rückte immer näher, meine Planungen wurden immer intensiver – und dann sagte Maria ab. Gesundheitliche Probleme machten die Teilnahme unmöglich. Aber Lukas wollte trotzdem mitmachen und so konnte es losgehen. Aber irgendwie war es schon blöd, dass der eigentliche Grund des Laufs sich in Luft auflöste. Maria, gute Besserung!
Einlaufen (42,8 km in 3:58:47; entspricht 5:35/km)
Am Freitag, den 20. August um 15 Uhr lief ich in Freiberg los. Lukas musste noch arbeiten, er wollte gegen 16 Uhr losfahren und mich einholen. Die Strecke war besprochen, wir wählten eine etwas längere Route, um auf die 100 km zu kommen und nicht im Dunkeln durch den Tharandter Wald zu müssen (ja, ich gebe es zu, ich bin ein alter Angsthase. Aber ich stehe dazu. Jawohl!). Für die Ortskundigen: Ich lief von Freiberg aus über Hilbersdorf, Niederbobritzsch, Colmnitz, Klingenberg, Obercunnersdorf, Ruppendorf, Höckersdorf, Tharandt, Freital nach Dresden.
Mein ganzes Material, also Wechselklamotten, Verpflegung, Warnweste, Stirnlampe und das ganze Gedöhns stand in einem Wäschekorb vor der Wohnung, ich konnte also frei von Ballast loslaufen, Lukas lud das alles in seine Fahrradtaschen, bevor er losfuhr!
Maria wollte, statt den Lauf mit zu machen, für 2 Tage nach Hause nach Tharandt – Überraschung, das liegt ja auf der Strecke. Also begleitete sie mich mit dem Fahrrad auf dem ersten Teilstück. Und darüber bin ich im Nachhinein so froh. Denn es war warm. Sehr warm. Ca. 25 Grad im Schatten – nur da war kein Schatten. Die ersten 25 Kilometer verliefen ausschließlich in der prallen Sonne – und ich wollte ohne Getränke laufen, die würde Lukas ja mitbringen. Aber der verspätete sich so, dass er uns erst genau vor Marias Haustür einholte. Nach knapp 27 Kilometern und 2,5 Stunden. Ich wäre eingegangen wie eine Primel, wenn Maria nicht eine Flasche mitgenommen hätte. So konnte ich dann nahtlos weiterlaufen und mein erstes Zwischenziel problemlos erreichen. Denn die Startunterlagen mussten bis 19:30 abgeholt werden, bis dahin musste ich also in Dresden sein.
Und das klappte. Locker. Nach knapp unter 4 Stunden und etwas mehr als einem Marathon kamen wir in Dresden an. Mir ging es gut. das war alles sehr locker bisher. Wer sich jetzt denkt: „Wie kann der Kerl so schnell angehen? Ist der bekloppt?“ Dem muss ich sagen: JA! Aber: Die Strecke hat, hin und zurück, knappe 900 Höhenmeter hoch und runter – und der Hinweg ging fast nur bergab. Ich kann euch sagen, bei manchen Gefällen wurde mir im Hinblick auf den Rückweg ganz schlecht. Allein auf den letzten 10 km vor Freiberg sind 3 Berge mit mehr als 10% Steigung und 500 Metern Länge zu bewältigen. Nach 77 km würde eine Steigung von 12% auf mich warten, ca. 2,1 km lang – nachdem es vorher schon gute 4 km nur bergauf ging. Jeder Meter nach unten auf dem Hinweg ließ mich ein kleines bisschen schrumpfen – ich befürchtete das Schlimmste.
So ließ ich es auf dem Hinweg rollen, lief nach Gefühl, immer so locker, dass ich gut tratschen und albern konnte. Hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, mich zu überfordern – aber immer die Angst, dass sich das Tempo rächen würde.
Wer rechnen kann, der weiß: 42,8 km (Hinweg) + 13 km (Lauf) + 42,8 km (identischer Rückweg) sind weniger als 100 km. Etwas enttäuscht verabschiedete ich mich von diesem Traum, denn auf eine Extraschleife hatte ich (jetzt) keinen Bock und werde ich später keine Kraft mehr für haben. Hebe ich mir das eben für Bernau auf!
Die 1,5 Stunden zwischen Ankunft in Dresden und dem Start des Laufs überbrückten Lukas und ich mit Eisessen, Biertrinken (ich hatte so eine Lust auf was Bitteres, dass ich unbedingt ein Alkfreies trinken musste) und tratschen. Und dann ging es, endlich einmal ausreichend warmgelaufen, los
Der Lauf (13,3 km in 1:17:13; entspricht 5:48/km)
Schon im Vorfeld habe ich ganz viele nette Foris getroffen, denen ich immer wieder gerne begegne. Matti, Tati, Ebs und Co, ihr seid Klasse, es war wie immer toll mit euch!
Der Lauf an sich war klasse organisiert. Kleiderabgabe und Startnummernausgabe funktionierte reibungslos, alles war übersichtlich und klar erkennbar. Perfekt organisiert dachte ich – bis es losging.
Als sich der Läuferlindwurm in Bewegung setzte, entdeckte ich auch noch Cabo – und wir beschlossen, den Lauf zu dritt zu gestalten. Das war echt klasse, hat tierisch Spaß gemacht und war ein Highlight des Abends.
Was wir allerdings merken mussten war, dass der Elbradweg keine 1500 Läufer verträgt. Es war definitiv zu voll. Erst nach 8 (von 13 !) km konnte ich das erste mal frei laufen. Wer hier Bestzeiten laufen wollte, wird enttäuscht worden sein. Aber für mein Vorhaben war es echt ok, die Strecke schön wie erwartet (und wie kurz 13 km sein können...), die Begleitung sehr unterhaltsam. So lief ich gemütlich und entspannt, vom Einlaufen habe ich so gut wie nichts gemerkt. Ohne jede Zeitambition, ohne Schlussspurt lief ich gemütlich nach 1:17 ins Ziel ein. Dort war wieder alles perfekt organisiert: Eine Verpflegung, die sich vor keinem Stadtmarathon verstecken muss. Klasse – direkt noch mal 1 Liter Bier rein, das tat gut.
Auslaufen (44,35 km in 4:47:35; entspricht 6:29/km)
Jetzt stand die Zeit der Wahrheit bevor. Und mir graute ein wenig. Denn es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis wir wieder loskamen. Mir wurde ein wenig kalt, und die Müdigkeit griff um sich. Jetzt noch mal 4,5, vielleicht sogar 5 oder noch mehr Stunden laufen? Mit all den Bergen. Noch mal 43 km? Nach bereits gelaufenen 56? O weh, das wird hart.
Beim Lauf hatte ich Cathy natürlich von meinen fehlenden 2 Kilometern erzählt. Sie ganz pragmatisch: komm, dann laufe ich mit euch bis zu mir nach Hause, zeige euch einen kleinen Umweg, dann kommst du auf die 100 – ok? Und, ganz ehrlich – wer könnte da nein sagen???
So machten wir uns auf den Weg: ich und Cathy laufend, Lukas hinterher rollend. Und jetzt begann das große Leiden. Die erste große Krise schlug zu. Meine Kilometerzeiten wurden schlagartig langsamer, ich kam einfach nicht mehr unter 6:20/km. Und das im flachen Dresden. Wie soll das erst nachher werden? Werde ich überhaupt ankommen? Lust- und kraftlos schlurfte ich dahin. Liebe Cathy, es tut mir leid, dass ich ausgerechnet auf dem Stück, wo du dabei warst, so schlecht drauf war. Hätte gerne noch mehr mit dir geredet – aber das ging nicht mehr.
In Dresden-Plauen verließ Cathy uns und wir machten uns auf den einsamen Weg durch die Nacht. Und ich litt. Wie ein Hund. Mir tat nichts weh. Aber die Kraft war alle. Ich wollte nicht mehr. Ich hatte Angst vor der Strecke. Das Wissen, dass ich nicht vor 3, wenn es dumm geht vor 4Uhr daheim sein würde und am Samstag spätestens um 06:30 Uhr werde aufstehen müssen, zehrte an mir. Und dieses blöde Freital wollte nicht zu Ende gehen. Mir war zum Heulen.
Und dann hat es klick gemacht. Ich weiß nicht warum, aber dann ging es wieder. Auf ein Mal. Als ich in Tharandt einlief war es, als hätte man einen Schalter umgelegt. Jetzt würde das langsame Sterben am Berg beginnen – und ich freute mich drauf. Ich wurde wieder gesprächiger, die Lust am Laufen kehrte zurück, ich blickte zuversichtlich in die Zukunft. Und – die Strecke flog nur so dahin. Ich habe alle 5 Kilometer eine Gehpause zum Trinken und Essen gemacht. Unglaublich, wie schnell 5 Kilometer vergehen können – und das immer wieder. Sehr dankbar war ich, dass es nach Tharandt, also wo die Berge begannen, keine Straßenlaternen mehr gab. Ich sah die Berge nicht. Und spürte sie auch nicht. Und auf einmal war ich in Höckendorf. Da kam ein Freudenschrei aus meiner Kehle. Denn ich hatte die eben schon erwähnte Steigung von 12%, ca. 2,1 km lang, mit vorher schon guten 4 km nur bergauf hinter mich gebracht. Ohne zu gehen. Komplett hoch gelaufen. Ich habe mich selber kaum verstanden. Und so ging, nein, lief es weiter. Bis auf 2 Gehpausen an den steilsten Stellen bin ich alle Berge hoch gelaufen. Klar, die Km-Zeiten des Hinwegs habe ich nicht halten können, aber ich war nur auf 4 Kilometern langsamer als 7 Minuten / km – ansonsten fast immer schneller als 6:40/km. Klar wurde es langsam hart, aber ich habe nie mehr Zweifel gehabt, dass ich das Ding gut nach Hause laufen könnte. So konnte ich diesen Teil des Laufes aus vollen Zügen genießen.
Um kurz nach 3 Uhr nachts bin ich dann zu Hause angekommen – nach genau 100,45 km. Der Umweg von Cathy hat also gereicht (DANKE!!!). Die Uhr bleib bei 10:03:35 stehen. Im Wettkampf hätte ich mich wahrscheinlich schwarz geärgert, bei diesem Lauf war mir das so schnuppe. Schließlich hatte ich mit 11-12 Stunden gerechnet und nie erwartet, so gut und flott durchzukommen – ohne mich dabei völlig zu verausgaben. Und auch den extremen „Leistungsabfall“ in Hälfte zwei, der Unterschied von fast 1 min / km ist für mich ok, weil es kein Einbruch war. Das lag am Höhenprofil. Ich bin sicher, dass ich an diesem Tag 2 fast identische Hälften hätte laufen können, wenn die Strecke flach gewesen wäre.
Am nächsten Morgen stehe ich auf – und staune. Mir geht es gut. Richtig gut. Klar, meine Muskeln fühlen sich leer an, da fehlt der Saft. Aber ich habe keinen Muskelkater. Keine orthopädischen Probleme. Sehr geil. Nur der Schlafmangel macht mir ein bisschen zu schaffen, die Sitzung am Samstag war vor allem vom Kampf wach zu bleiben geprägt. Niemand der anderen Sitzungsteilnehmer merkte, dass ich am Vortag den bisher längsten Lauf meines Lebens hinter mir hatte. Ein gutes Zeichen, wie ich finde!
Mein Fazit: Ich liebe ausgefallene Aktionen. Und diese war echt toll. Hat mir viel Spaß gemacht, wäre aber ohne Fahrradbegleitung nur schwer möglich gewesen. Darum an dieser Stelle noch ein fettes DANKE an Lukas für deine Zeit, deine Kraft und deine Nerven, dich auf so ein für Fahrradverhältnisse schleichendes Abendteuer einzulassen!
Für Bernau macht dieser Lauf mir immens Mut. Ich bin mit einer erheblichen Vorermüdung in diesen Lauf gegangen (von Montag bis Mittwoch 53 km, davon einmal 30) und konnte eine erheblich profiliertere Strecke gut durchlaufen. Klar war ich platt, aber wenn ich gemusst hätte, wäre es noch weitergegangen. Mal sehen, was die 24 Stunden so bringen!
Vielen Dank fürs lesen, liebe Grüße
nachtzeche
Wie aus 13 km über 100 wurden – 1. Nachtlauf in Dresden
1"Die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden!" (Die Bibel, Jesaja 40,31)