Als einst ich ein Knabe noch war, da war Eschweiler ein Fußballschiedsrichter. Und zwar nicht irgendein Fußballschiedsrichter, sondern ebenjener, der nicht nur in bis heute unvergessener Manier einem der essentiellen Grundnahrungsmittel jener seligen Kindertage mit Gesicht und Stimme sich anverwandelte. Nein, mehr noch: Auch um unsere staatstragenden Werte hat er sich dazumalen verdient gemacht, indem er mustergültig ein Bild gelebter Demokratie im Stadion verkörperte.
Mit den Jahren lernte ich, daß dieser Schiedsrichter derart prominent ist, daß eine ganze Stadt nach ihm benannt wurde. Diese wiederum beherbergt einen Stadtteil namens Dürwiß. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine verkürzte Form von "dürre Wüste". Eine solche vorzufinden läuft man nämlich Gefahr, wenn man sich zu den alljährlich am ersten Samstag im August ausgetragenen 10 km von Dürwiß einfindet. Zumindest in früheren Zeiten muß man dergleichen wohl häufig gewärtigt haben. Heute findet die durchziehende Läuferkarawane dort eher eine Oase in der hochsommerlichen Wüste am Übergang zwischen Eifel und niederrheinischer Tiefebene vor. Für die erquickende Unverwechselbarkeit dieses Oasencharakters sorgen mit viel Herzblut und vor allem Wasser die ortsansässigen Fellachen und Beduinen (letztere Form des Nomadendaseins wird ja heute meist als Pendlertum bezeichnet; im übrigen bin ich wiederholt kritisch darauf angesprochen worden, daß ich in meinen Laufberichten die Bewohner vor Ort immerzu als "Eingeborene" bezeichne. Daher heute etwas Abwechslung. Beim nächsten Mal dann vielleicht "edle Wilde" oder etwas in der Art, mal sehen). Aber davon später.
Eigentlich wollte ich dort gar nicht hin. Schuld ist der Sommer. Alles nahm seinen Anfang mit dem während der schlaflosen Nacht vom Donnerstag auf den Freitag gefaßten Entschluß, das für den Freitag geplante Intervalltraining (2x4 km 10k-Tempo) um einen Tag zu verschieben. Das verhieß für den frühen Samstagvormittag nur 23°C statt 31°C. Doch sogleich entschied ich, bei der Abweichung vom Trainingsplan mit äußerster Konsequenz vorzugehen: noch ein fünftes Intervall und dafür eine drastische Verkürzung der Trabpause auf null Sekunden. Dazu eine Verschiebung der Tageszeit auf 19.30 Uhr sowie eine Verlegung der Strecke in die Oase Dürwiß.
Still brütet die Oase in der gleißenden Sonne des nicht enden wollenden Sommerabends, als ich mit meiner wunderbaren Karawanenführerin und einem Freund von ihr auf einem viergeräderten Wüstenschiff dortselbst eintreffe. Erst in einigen Stunden wird der Muezzin zum Maghrib rufen. Der Ramadan geht seinem Ende entgegen, und Laila al-Qadr wirft ihre Schatten voraus, die Nacht der göttlichen Geschichtsmächtigkeit, in welcher der Koran einen Ehrenplatz zwischen Himmel und Erde erhielt, um dann nach und nach offenbart zu werden. Kein Mensch kennt das genaue Datum, aber wer weiß, vielleicht fällt sie ja genau in diese Nacht des 25. Ramadan. Wenn man den erhabenen Worten der Sure Marjam glauben darf, galten die ersten Worte des neugeborenen Jesus seiner Mutter, die ihn einsam in der glühenden Wüste zur Welt gebracht hatte und der er nun Trost und Erfrischung zusprach, in Form einer Dattelpalme und eines Bächleins, das Gott eigens für sie hatte entspringen lassen. Einer Oase mithin, die sich ebenso unverhofft vor der blutjungen Mutter auftat wie die kühlen Wasser der Oase Dürwiß vor den erschöpften Läufern. Aber davon später.
Zuerst einmal ruft der Muezzin. Allein, er ist doch noch gar nicht an der Reihe! Weiterhin werfe ich einen Schatten, und der ist noch gar nicht einmal besonders lang! Aber - wie ich beim näheren Hinhören merke, ist das ja auch gar nicht der Muezzin, sondern bloß ein Ausrufer, der irgendwelche wichtigen Dinge zum soeben gestarteten Wagenrennen verkündet. Bemerkenswert hierbei ist, daß jeder Wagenlenker mit zwei Wagen unterwegs ist, die nicht von Pferden gezogen werden. Diese Wagen sind äußerst klein und werden unter die Füße geschnallt. Ihre Räder sind allesamt hintereinander in einer Reihe angeordnet. Erstaunlich.
Inmitten der Medina sind etliche Beduinenzelte aufgerichtet. Eines davon paßt ganz und gar nicht in diese orientalische Szenerie, gibt mir aber die willkommene Gelegenheit zu einem meiner geliebten Rekurse auf die alten Griechen: Hinter langen Tischen, die sich unter lukullisch anmutenden Kuchen und Torten biegen, stehen reizende Damen, die mir betörend zulächeln und in säuselndem Singsang diese ergötzlichen Früchte der Backkunst der Seniorinnen des SV Germania Dürwiß feilbieten. Ich bin unter die Sirenen gefallen! Zu Hilfe! Aber anders als weiland Odysseus und seinen Gefährten stehen mir weder Wachs, um mir die Ohren zu verschließen, noch Tauwerk und ein Mast zu Gebote, um mich dort in sicherer Entfernung anzubinden. Unrettbar bin ich dem Gesang verfallen! Gerate ich in ihre Hände, werden sie mich in Stücke reißen oder, schlimmer noch, mit der zauberischen Kraft ihres Backwerks in irgendein Tier verwandeln. Wahrscheinlich in ein plumpes Mastschwein, das nie und nimmer in der Lage sein wird, die 10 km zu bewältigen. Doch halt! Das war ja Kirkes Domäne und nicht die der Sirenen! Da habe ich anscheinend etwas durcheinandergebracht. Kaum habe ich das gemerkt, zerplatzt der ganze Spuk wie eine Seifenblase, und es gelingt mir, ohne Kuchen, dafür aber mit neu gestählten Widerstandskräften die Umkleide zu erreichen.
Inzwischen bin ich auch Stormbringer und Caramba über den Weg gelaufen, die ebenfalls mit einer der vielen Karawanen angespült wurden, die heute mit ihren Wüstenschiffen Dürwiß angesteuert haben. Auch VFLBorusse zieht hier irgendwo durch die staubigen Gassen, aber begegnet sind wir einander nicht. Dafür wimmelt es von zahlreichen Bekannten, denen ich auf meinen Hausstrecken regelmäßig über den Weg laufe. Alle haben wir uns zu einem wenngleich nicht hitzigen, so doch heißen Dschihad hier eingefunden. Leider gehört es zu den unausrottbaren Auswüchsen einheimischer Halbbildung, der Dschihad sei eine Art heiliger Krieg, ausgetragen vorzugsweise mit Feuer und Schwert. In erster Linie aber ist der Dschihad der Kampf gegen den inneren Schweinehund für ein gefälligeres Leben im Dienst an Gott und den Menschen, also ein Kampf gegen alles, was schwer und träge macht. Dieser Kampf ist durchaus kein Krampf. Im Gegenteil: Er verfehlt seinen Sinn, wenn er keine Freude macht. In diesem Sinn schrieb schon der Apostel Paulus, seines Zeichens nicht nur ein frommer, sondern auch ein sportbegeisterter Mensch, der schon mal zwischen zwei Missionsreisen den Olympischen Spielen als Zuschauer beiwohnte: „Ihr seid Mudschahidin im selben Dschihad, in dem ihr mich als Mudschahid gesehen habt, und von dem ihr nun hören sollt, dass ich nicht davon ablassen werde, diesen Dschihad zu kämpfen.“ So steht es in meiner arabischen Bibel in Philipper 1,30.
Da! Die erste Fata Morgana! Oder ist es wirklich ein kühler Teich, in dem sich vor meinen Füßen der Himmel spiegelt? Immerhin befinde ich mich ja in einer Oase. Und wirklich! Erfrischendes Naß netzt die heiße Straße! So darf ich also wirklich hoffen, während des harten Laufes nicht elendiglich verdursten zu müssen? Aber davon später.
Näher rückt der Maghrib, die Schatten werden länger. Die Zeit des Warmlaufens ist hereingebrochen. Dann findet sich alles Volk an der Startlinie ein und es passiert - gar nichts! Nach geraumer Zeit erfahren wir, daß irgendwo eines jener motorisierten Wüstenschiffe auf der Strecke steht, das nicht entfernt werden konnte, weil die Besitzerin im Urlaub ist. Wir werden um besondere Obacht gebeten.
Aber dann werden wir endlich auf die Strecke entlassen. Erst einmal geht es vorbei am Dorfplatz mit seinen Beduinenzelten, wo das vieltausendköpfige Kampfgeheul der Zuschauermassen uns durch die Straßen treibt. Dies ist keine Medina, wie sie uns zwischen Marrakesch und Maschhad so oft begegnet, kein betörendes Gewirr aus schmalen Gassen. Breit und gut zu überschauen sind hier die Straßen. Deshalb kommt es auch nicht, wie ich zuvor insgeheim befürchtetet hatte, zu Chaos und Wirrnis. Denn zu laufen sind ja nicht weniger als fünf Runden zu je zwei Kilometern. Schon auf der zweiten Runde erreicht man somit bereits wieder das Ende des langen Zuges der Läuferkarawane, um dann bis zum Ende fortwährend weitere Laufende zu überrunden. Aber all das geht völlig reibungslos vonstatten.
Tief steht mittlerweile die Sonne. Kurz vor dem Rundenende laufen wir ihr direkt entgegen. Wer die Augen ein wenig abwendet und beispielsweise direkt nach unten auf die Straße schaut, gewahrt dort, sofern der Blick nicht allzu sehr geblendet ist, so manche Bremsschwelle, die dort zum Zwecke der Verkehrsberuhigung über dem ebenen Asphalt türmt. Welch abgefeimte Stolperfallen! Doch in kühnem Flirt setze ich über die leichten Hümpel hinweg. Äh... nein, da habe ich etwas verwechselt. Ghazal ist bei den Wüstensöhnen der Flirt, ghazâl die Gazelle. Letztere war natürlich gemeint. Also: Wie eine Gazelle setze ich usw. Klingt ja auch viel gazil..., äh graziler. Und trifft zu diesem frühen Zeitpunkt des Rennens sogar noch einigermaßen den Kern der Wahrheit.
Vor mir habe ich einen Arnab, einen Hasen. Zu der Frage, ob man Hasen essen darf, gibt es im modernen Internet-Islam widersprüchliche Rechtsgutachten. Aber ich will ihn ja auch gar nicht grillen, sondern mir nur einen Teil der Denkarbeit bezüglich des richtigen Tempos abnehmen lassen. Ob auch dazu schon irgendeiner dieser selbsternannten Online-Muftis, die überall ins Kraut schießen, eine Fatwa verfaßt hat? Gegenfrage: Gibt es etwas Egaleres? Kaum vermag ich dem Hasen zu folgen. Zwischen 3:35 und 3:39 Minuten gehen die Kilometer dahin. Also macht er seine Sache gut. Leider fängt er irgendwann an zu schwächeln. Vielleicht hätte ich ihn nicht überholen sollen, denn das scheint seinen Durchhaltewillen nachhaltig gebrochen zu haben, und es kommt, wie es immer kommt: Von allen allein gelassen kämpfe ich meinen einsamen Dschihad gegen die innere Stimme, die immer wieder fragt, wozu ich mir diese Tortur eigentlich antue. Weit vor mir sind zwei Läufer zu sehen, die mir aber zu entfernt scheinen, um zu ihnen aufzuschließen. Hätte mir irgendein Dschinn verraten, daß einer der beiden der spätere Sieger in meiner Altersklasse sein würde und ich meinerseits dem Dritten um beinahe eine Minute voraus war, hätte ich es vielleicht riskiert, aber so richtig klug und allwissend ist man ja immer erst hinterher.
Bekanntlich hat Oberinspektor Derrick den Satz "Harry, hol schon mal den Wagen" in Wirklichkeit nie gesagt. Ebenso wenig kommen in den Märchen aus tausendundeiner Nacht fliegende Teppiche vor. So ein Mist aber auch! Da benötigt man einmal im Leben ein wenig Hilfe, und läßt sich nicht einmal ein ordinärer Flaschengeist (von solchen wußte Scheherazade hingegen sehr wohl zu berichten!) dazu herbei, mir ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Und dabei hat mich der letzte Kilometer geschlagene 3:48 Minuten gekostet!
Aber was ist das? Vor mir entsteigt ein feiner Nebel dem sonnengeschundenen Asphalt. Oder nein - er senkt sich von oben hernieder. Woher mag er kommen, noch dazu bei diesem Wetter? Ehe ich Zeit finde, mir über dieses Wunder weitere Gedanken zu machen, fühle ich schon, wie frischer Tau meine Haut netzt. Die Fellachen und Beduinen! Mit Gartenschläuchen und Rasensprengern bieten sie der Sommerhitze Trotz und uns ermattenden Läufern wohlige Erquickung! Die herrlichen Wasserspiele des prächtigen Isfahan, der Perle Persiens - hier umspielen sie an etlichen Stellen entlang der Strecke die müden Sinne mit köstlicher Kühlung! Gepriesen sei die jahrtausendealte, bis heute zu recht gerühmte orientalische Gastfreundschaft! Kinder stehen an der Straße und recken die Arme vor, um sich abklatschen zu lassen, und es ist einem zumute, als würden sie dem ermatteten Reisenden Kölnisch Wasser und Rosenessenz über die Hände gießen!
Das Paradoxe an den Kilometern ist ja, daß sie um so langsamer dahinschmelzen, je heißer es ist. Eher fließt der Asphalt davon. Aber irgendwann ist es dann doch so weit: Unter dem frenetischen Jubel der Bevölkerung biege ich in die Zielgerade ein und überquere die schmale Linie, die Schweiß und Seligkeit voneinander scheidet.
Ausgekämpft ist der Dschihad! Fast siebenunddreißig Minuten hat er gedauert. Keine Ahnung, ob diese Zahl irgendeinen tieferen Symbolwert hat. Immerhin: Meine offizielle Bruttozeit beträgt 36:55 Minuten. Im Koran heißt es in Sure 36,55: "Siehe, die Bewohner des Paradieses erfreuen sich heute ihres Wohlergehens." Na also. Zwar kann ich solchen zahlenmystischen Spielchen ebenso wenig abgewinnen wie Horoskopen und derlei Spökenkiekerei, aber das hier ist - ich gebe es zu - schon irgendwie nach meinem Geschmack.
Und so befinde ich mich also nun in den Gärten, unter denen Wasser fließen (so malt der Koran das Paradies aus. Diese berühmt-berüchtigten 72 Jungfrauen sind dort nur eine höchst marginale Vorstellung, die erst in der europäischen Betrachtung das Bild beherrscht). Wahlweise auch Isogetränke. Mit der Zeit finden sich auch Caramba, Stormbringer und meine Begleiter ein. Nach einem gemütlichen Plausch suche ich mir eine Dusche und begebe mich dann wieder ins Beduinenzeltlager. Mit den Sirenen am Kuchenbuffet habe ich nämlich noch ein Hühnchen zu rupfen. Meine Wünsche werden mit der entgeisterten Frage kommentiert, ob ich das alles allein essen wolle. Ja, will ich. Denn mittlerweile senkt sich die Nacht auf die Oase herab. Über allem steht am Himmel einem Handschar gleich die Sichel des abnehmenden Mondes, der vom baldigen Ende des Fastenmonats kündet. Die fortschreitende Dämmerung zeigt an, daß für das gastfreundliche Wüstenvolk und seine so herzlich aufgenommenen Beisassen die Zeit zum Iftar gekommen ist. Nun werden Speise und Trank, die man sich den Tag über versagen mußte, bis zum Fadschr doppelt und dreifach eingefahren. In Strömen fließt das Wasser (vor allem das Gerstenwasser, wie man das im Iran nennt). Dazu wird Musik gespielt, die zwar wenig orientalisch anmutet, aber gewaltig dröhnt und rumst.
Mit der Siegerehrung dauert es länger als geplant. Iblis, der Diábolos, der Teufel, also er, der, wie sein Name sagt, alles durcheinanderwirft, hat der Technik einen Streich gespielt, so daß die Ergebnisse erst feststehen, als bereits tiefe Dunkelheit sich über die Oase gelegt hat. Meine beiden Begleiter legen eine Engelsgeduld an den Tag. Eigentlich hätte man ja längst wieder zuhause sein können, aber da es auch eine Siegerehrung nach Altersklassen gibt, hege die leise Hoffnung, daß es für mich heute noch zu tun gibt. Bis es so weit ist, genießen wir ausführlich die hoch zu lobende Gastlichkeit der vielen Helferinnen und Helfer des SV Germania Dürwiß, von der Sirene bis zum Köbes, uns meine treffliche Karawanenführerin gen Heimat chauffiert.
Wie gesagt: Niemand weiß, in welche Nacht Laila al-Qadr fällt, die Nacht der Geschichtsmächtigkeit Gottes. Aber vielleicht ist sind es diese Stunden im Beduinenlager von Dürwiß, Abschluß und Krönung eines lohnenden Abends. Diese Nacht ist - wie die 97. Sure sagt - besser als tausend Monate.
Nachwort: Diese wahrhaft erschöpfende Erzählung zu lesen hat zwar nicht tausendundeine Nacht gedauert, wohl aber ähnlich lang, wie ich für den Lauf gebraucht habe. Da könnt Ihr mal sehen, was dabei herauskommt, wenn man sich wegen der Hitze fast den ganzen Tag nicht vor die Tür traut.
Dschihad in der Oase - Die 10 km von Dürwiß am 3.8.2013
1Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!