3.023 Likes!!!!!voxel hat geschrieben:Marathon des Alpes Maritimes Nice Cannes 2015 - Bericht
Die Vorgeschichte
Einen Herbstmarathon will ich noch laufen, aber Berlin und München sind zu früh, da reicht das Training nach dem Sommerurlaub nicht mehr… Frankfurt und ebenso Amsterdam klappen terminlich nicht. Die Optionen werden knapp. Es bleiben einige hügelige Wald- und Wiesenmarathons. Doch dann entdecke ich den Marathon des Alpes Maritimes mit Start in Nizza am 8. November - das passt perfekt.
Der Gedanke setzt sich bei mir fest. Nizza, Cannes, Coté d‘ Azur – diese Namen haben eine mondäne Strahlkraft. Mildes Klima, schöne Landschaft, Wahlheimat derer, die e sich leisten können. Matisse, Renoir, Monet. Picasso. Große Künstler, alle waren sie hier… Kein schlechter Ort einen Marathon zu laufen.
Jetzt muss ich nur noch meine Frau überzeugen – noch ein Marathon in diesem Jahr und das nicht gerade um die Ecke.
Und es klappt, mein Schatz schenkt mir diese Reise zu unserem Hochzeitstag.
Die Vorbereitung
Rund 80 Kilometer die Woche für 6 Wochen, plus 2 Wochen Tapering absolviere ich. Der Greif Countdown dient wieder als Grundlage. Außerdem habe ich zum Vergleich die Trainingsaufzeichnungen der vorherigen Marathons und laufe im Wesentlichen die gleichen oder ähnliche Einheiten nur jeweils einen Tick schneller. Und es läuft gut. Aber immer wieder mache ich mir Sorgen wegen der Temperatur. Die Wettervorhersage ist immer gleich Sonnenschein um die 20 Grad. Gleichzeitig wird es hier im Oktober immer kälter. Meine Breakthrough Trainingseinheiten absolviere ich allesamt bei sehr kühlem Wetter.
Schließlich ist das Training abgeschlossen und es kann losgehen. Der Lufthansa Streik macht mir beinahe einen Strich durch die Rechnung. Bedeutet die Streichung des Fluges die Streichung des Marathons für mich? Das kann und darf nicht sein. Aber es klappt noch alles und mit einem über 1000 km langen Umweg über Wien komme ich schlussendlich nach Nizza.
Es ist Samstag der 7. November. Der Tag ist geprägt durch „gehen“. Am Flughafen in Frankfurt durch den Terminal gehen, durch die Gänge zum Gate, in Wien wieder durch diverse Gebäude wieder zum richtigen Gate, in Nizza durch den Flughafen zum Busbahnhof, dann vom Hauptbahnhof zum Hotel gehen, vom Hotel zu Fuß ca. 1,5km zur Marathonmesse gehen, Startnummer abholen, dann nochmal spazieren gehen am Strand entlang, durch die Stadt dann zurück zum Hotel gehen.... Auf der Suche nach einem Abendessen kommt noch ein langer Fußweg durch die Stadt hinzu. Ich bin was das Essen angeht, doch sehr wählerisch. Ich will unbedingt wieder das gleiche Essen wie vor Mainz: Spaghetti aglio olio. Damit hatte ich beste Erfahrungen gemacht und dass sollte es wieder sein. In der Innenstadt in den Touristenlokalen stehen überall die gleichen Gerichte auf der Karte, aber nicht das was ich suche. Ich laufe immer weiter auf der Suche nach einem netten Restaurant, aber entweder ist es zu fein oder zu schäbig oder die Küche öffnet erst abends. Nach langer Suche finde ich dann etwa 20m von meinem Hotel entfernt ein gemütliches kleines Restaurant. Das hätte ich einfacher haben können. Nun tun mir aber die Hüften weh, vom vielen Gehen. Ich habe schwere Beine, jetzt wies mir bewusst, dass ich heute ständig unterwegs war und viel zu viel gegangen bin.
Der italienische Koch macht außerhalb der Karte für mich eine große Portion selbstgemachte Tagliatelle mit Olivenöl, Knoblauch, Kräuter und ein paar frischen Tomaten. Dazu eine Flasche kostenloses Leitungswasser und frisches Brot. Perfekt. Wenigstens das Essen ist gut. Ich bin Pappsatt. Nur die Hüften spüre ich weiter. Ich erinnere mich an sämtliche Marathonratgeber, die von einer Sightseeing Tour am Vortag des Marathon abraten…Erinnerungen an meinen Vorgarten werden wach. Zu spät. Panik macht sich breit. Es ist kein Phantomschmerz, es tut wirklich weh. Aber dann kommt der rettende Gedanke. Beim Rennen werden andere Muskeln gebraucht, als beim Gehen. Ich bin ja kein Geher… Damit wische ich alle Bedenken beiseite.
Zurück im Hotel versuche ich mich zu entspannen. Auf meinem Tablet habe ich den Film „McFarland“ mit Kevin Costner, der ein Cross Country Laufteam trainiert. Den schaue ich mir an und massiere mir dabei die Hüfte. Der Film erzählt die wahre Geschichte von lateinamerikanischen Einwanderern die es zu Erfolgen beim Laufen bringen. Dieser Film war genau das Richtige. Sehr nett. Da gibt es eine Szene wo das übergewichtige Mitglied des Teams, dem Team unerwartet zum Gesamtsieg verhilft. Er hechtet und wuchtet sich einen langen Anstieg hoch und zieht an diversen Läufern vorbei. Genial…
Jetzt noch auf YouTube das Rocky Training mit der entsprechenden Musik sowie das Video von Frodeno „Vergiss nie, dass Du es tust, weil Du es liebst“ und ich lege mich früh schlafen. Ich kann nicht einschlafen und dann wache ich auch noch immer wieder auf. Eine sehr unruhige Nacht. Aber so ist das immer. Kein Grund zu Sorge. Endlich klingelt der Wecker kurz vor 5. Den Muskeln an der Hüfte geht es besser, aber ich spüre sie schon noch.
Das Hotel bietet heute ausnahmsweise für die Läufer Frühstück um 5:30 Uhr an. 2 ½ Stunden vor dem Start – das passt.
Nach zwei Kaffee, Orangensaft, Baguette mit Honig und Banane sowie Toast mit Marmelade bin ich voll getankt. Alle Glykogenspeicher sind bis auf Anschlag gefüllt. Nach Darmentleerung kann’s losgehen. Nochmal kurz kalt abgeduscht als Pre- Cooling Maßnahme. In meiner Hose habe ich 4 Isostargels eingepackt und 3 Highfive Flüssiggels die bei jedem Schritt hin und her baumeln.
Nach Abgabe des Beutels stehe ich kurz vor halb acht vor dem Startblock. Die Sonne geht gerade auf. Noch entfaltet sie ihre Kraft nicht. Es ist erstaunlich kalt im dünnen Singlet. Hätte ich doch einen alten Pullover oder eine Tüte mitgenommen. Es ist 7.30 Uhr, zum Glück macht der McDonalds direkt gegenüber vom Start gerade auf, dort kann ich mich aufwärmen und auch nochmal die Toilette benutzen.
Das Rennen
Mein zweiter Marathon in diesem Jahr. Der erste lief hervorragend, ich konnte in Mainz die 3 Stundenmarke knacken und einen negativen Split laufen. Dieses Gefühl auf der zweiten Hälfte immer schneller zu werden, einen nach dem anderen zu überholen und mich in einen Rausch zu laufen, werde ich nicht vergessen. Hinten raus war es natürlich hart, aber ich hatte keine Energiekrise, traf keinen Mann mit dem Hammer. Möglich war dies durch eine erste Hälfte, die bewusst langsamer als möglich war und der richtigen Energieversorgung durch entsprechende Vorbereitung und Gels.
Das soll auch meine Taktik für Nizza sein. Ziel ist die 2:55, aber ich denke eine 2:53 ist unter optimalen Bedingungen möglich. Nur die Temperaturen und die Höhenmeter könnten mir noch einen Strich durch die Rechnung machen. Da es warm werden soll und ich unbedingt wieder einen negativen Split laufen will beschließe ich die erste Hälfte in 1:27:30 (4:09) anzugehen. Bei gleichbleibendem Tempo läuft das auf eine 2:55 hinaus. Etwas über eine Minute schneller könnte ich auf der 2. Hälfte hinbekommen und dann wäre ich bei einer Endzeit von 2:53:xx., wenn es optimal läuft und die Anstiege nicht bremsen.
Um 7.45 gehe ich in den sub3 Block. Auf Einlaufen oder nervöses Herumhüpfen verzichte ich, denn ich will keine Energie verschwenden. Ich nehme ein erstes Isostar Gel und schütte mir noch etwas Wasser über den Kopf.
3min nach dem Elitestart geht es bei uns los und ich laufe über die Matte und drücke die Uhr ab. Alles relativ entspannt hier. Kein Gedränge oder Geschiebe und eine freundliche Grundstimmung. Die Sonne wärmt von hinten. Das merke ich nach wenigen Minuten. Es wird ein sonniger, warmer Tag. Ich beschließe es noch etwas langsamer angehen zu lassen. Der dunkle Asphalt ist weich und griffig. Sehr gut, ich habe das Gefühl, die Straße nimmt meine Aufprallenergie auf und gibt sie mir federnd zurück. Die Straße ist breit. Einige machen Überholmanöver im Zick-zack Kurs, aber ich laufe ökonomisch und gleichmäßig, auch wenn ich ein paar Sekunden hinter meiner Pace liege.
[ATTACH=CONFIG]39961[/ATTACH]
Mein Pulsuhr zeigt 180er Puls, aber das Problem kenne und ignoriere ich. Das passiert auch im Training öfters, dass beim Loslaufen rund 30 Schläge mehr angezeigt werden. Nach 1-2 Kilometern geht der Puls runter auf das erwartete Niveau, nein sogar noch tiefer auf 81-82% Hfmax. Das ist niedrig, aber ich achte nicht groß darauf. Ich laufe meine Taktik weiter. Und es läuft locker. Es reicht aus durch die Nase zu atmen. So soll es bis Kilometer 21 weitergehen. Die erste Hälfte physische und mentale Energie aufsparen und genießen.
Ich bin dankbar, dass ich laufen kann. Es hat alles geklappt, ich bin hier und darf laufen. Ich lächle und sauge die Meerluft in mich ein. „Make it look easy“ habe ich mir vorgenommen.
[ATTACH=CONFIG]39963[/ATTACH]
Und so laufe ich ohne groß darauf zu achten mit 4:08er Pace laut Uhr. Mit ausgeschaltetem Kopf cruise ich die schöne Strecke am Meer entlang. Der Puls blieb weiter relativ niedrig. Ich schalte auf Autopilot. Regelmäßiger Schritt. Die Sonne wird stärker, ich versuche immer etwas Schatten von den Palmen zu erhaschen. Die erste Getränkestation, ich greife mir 2-3 Becher schütte mir sie über den Kopf und laufe weiter. Es ist kaum Wind da. Lediglich eine angenehme Brise die meinen nassen Körper etwas kühlt.
Nach einigen Kilometer der erste leichte Anstieg, eine Brücke. Die hatte ich noch gar nicht erwartet aber sie bringt mich nicht aus dem Takt. Mein Fuß schmerzt, ich habe meine Schuhe zu fest zugebunden. Aber anhalten ist nicht. Never stop. Das muss ich aushalten. Meine Uhr zeigt nach jedem Kilometer die Autolap an. Die Uhr meldet sich aber immer ein paar Meter vor dem offiziellen Schild. Kein Grund zur Sorge. Beim Schild KM 10 ist meine Zeit 41:13. Passt.
Nach der Brücke kommt irgendwann eine erste Rechtskurve, wir nehmen ein paar Blöcke der Ortschaft mit und kehren zurück auf die Küstenstraße. Das Publikum ist nicht sehr zahlreich vertreten. Vielleicht schlafen die heute lieber aus. Aber es sind so viele Läufer um mich herum, das Peloton, wie die Franzosen sagen, dass mir das Publikum nicht fehlt.
Meine Uhr macht die erste Stunde voll: 1:00 und die Sekundenanzeige verschwindet. Mist, ich hatte mir doch schon mal vorgenommen die Anzeige umzustellen, aber ich weiß immer noch nicht wie das geht.
Schnell ist die 15 Kilometermarke erreicht. Mehr als ein Drittel geschafft, es wird schon schwerer. Die Uhr zeigt 1:02 an. Ein Mitläufer fragt mich nach der Laufzeit. Ich sage etwa 1:02:30 und frage ihn was er laufen will. Er sagt, sein Wunsch sei sub3 und ich weise ihn daraufhin, dass er dafür sehr schnell unterwegs ist, denn unser Tempo läuft derzeit auf 2:55 hinaus. Er zieht daraufhin trotzdem noch etwas an und wird schneller. Verwundert laufe ich weiter.
Jetzt kommt eine lange Gerade die bis Kilometer 22 geht.
[ATTACH=CONFIG]39965[/ATTACH]
Eine Gruppe findet sich und ich versuche entspannt im Windschatten weiter zu laufen. In der Gruppe im gleichmäßigen Trott fühlt es sich einfacher an und ich aber ich merke wie das Tempo ein paar Sekunden langsamer wird. Ich frage meine Mitläufer was sie laufen wollen und ihr großes Ziel ist ebenfalls sub3. Hmm wollen die alle 5min Vorsprung auf der ersten Hälfte rauslaufen oder was? Ich löse mich und ziehe wieder etwas an. Alleine ist es schwerer. „Close the gap“ denke ich mir immer wieder und ziehe von einer Gruppe in die nächste. Jetzt laufe ich neben einem fit aussehenden schwarzen Läufer und die nächste Gruppe ist ein paar Meter entfernt. Ich schaue ihn an fordere ihn auf mitzugehen: „Close the gap“ rufe ich laut und schließe wieder auf die nächste Gruppe auf. Der Mitläufer ist völlig unbeeindruckt und läuft sein Tempo weiter. Die HM Marke nähert sich. Jetzt wird es langsam Zeit Gas zu geben. Meine Uhr zeigt die Kilometerabschnitte immer früher an, mittlerweile ca. 200-300m vor der eigentlichen Markierung. Wir passieren die HM-Marke. Ziel war zwischen 1:27:12 und: 1:27:30 durchzulaufen. Das müsste grob geklappt haben. Die Uhr zeigt 1:27. (Die Auswertung der Ergebnisse zeigt allerdings 1:27:47, also rund 20-30 Sekunden hinter dem Zeitplan). Ich weiß die zweite Hälfte will und muss ich jetzt auch schneller laufen Ich weiß auch, die große Steigung kommt noch. Die 34m von Cap D’Antibes. Laut vorab gelesenen Laufberichten zieht sich die Steigung über 1,5km....
[ATTACH=CONFIG]39967[/ATTACH]
Aber ich weiß auch, wenn diese Steigung durch ist, ist das schlimmste geschafft. Also freue ich mich drauf, denn danach sind nur noch 15 schnelle Kilometer und dann ist es vorbei.
Doch die ersten kleineren Steigungen kommen jetzt schon. Nach dem Motto: “what goes up must come down” laufe ich gleichmäßig weiter. Auf einmal entdecke ich den schwarzem Läufer von vorhin wieder vor mir. Irgendwie zollt es mir Respekt ab, dass der sein eigenes Ding macht und doch schneller ist. Er geht die Steigungen schnell an und bleibt immer in Sichtweite vor mir, aber so weit weg, dass ich ihn nicht erreiche. Er wird mein neuer Ankerpunkt und ich nehme mir vor dranzubleiben.
Mit kleinen schnellen Schritten nehme ich jede Welle mit. „Change the gear“. Ich lege für jeden An- oder Abstieg einen anderen Gang ein. Dabei lächle ich weiter nach dem Motto. „Make it look easy“ und es scheint zu funktionieren, es kommt mir selbst einfacher vor, wenn ich so tue, also ob es einfach wäre. Hier und da werde ich auch mit einem kräftigen „Allez“ angefeuert.
Die Landschaft wird immer schöner, kleinere malerische Küstenorte, aber ich habe keine Blicke mehr für die traumhafte Kulisse. Das Rennen hat begonnen. Jetzt gilt es! Konzentration schärfen und dranbleiben. Hier darf ich nichts liegenlassen, aber gleichzeitig nicht verkrampfen und einen lockeren Stiefel laufen, wie Leviathan sagt. Ich versuche das Tempo anzuziehen, aber ich finde keinen gleichmäßigen Rhythmus wegen den Anstiegen.
[ATTACH=CONFIG]39969[/ATTACH]
Bei km 28 geht es erneut länger richtig aufwärts. Ich lege noch einen Zahn zu aber mein Tempo verlangsamt sich trotzdem etwas, 4:20er Pace ist noch OK. Schließlich will ich nicht komplett aus der Puste kommen. Irgendwann ist der höchste Punkt erreicht und es folgen eine Reihe von kurzen downhill Passagen, die ich im 3:45er Tempo herunterrase. Ich versuche bergab die Schultern etwas aufzulockern und zu entspannen. Dabei komme ich dem schwarzen Mitläufer immer näher. Zurück auf der flachen Strecke ca. bei Km 30 fasse ich mir ein Herz und überhole ihn mutig, fast leichtsinnig mit etwas Schwung. (Später wundere ich mich sehr, als ich ihn in der Ergebnisliste mit einer Zeit von 3 Stunden 9 wiederfinde). Jetzt ist der härteste Teil der Strecke durch. 2:04 zeigt die Uhr an. Aber die härteste Zeit liegt noch vor mir.
[ATTACH=CONFIG]39971[/ATTACH]
[ATTACH=CONFIG]39973[/ATTACH]
Nur noch 12,2 km aber ich bin zeitlich etwas im Rückstand. Eine 2:53 wird sehr knapp und ich habe doch mehr Kraft gebraucht als gedacht, vor allem die Abstiege haben die Beine und Muskeln ermüdet.
Ich überhole immer wieder Mitläufer, nur ein Läufer im grünen Dress bleibt an mir dran. Er hat eine Staffelstartnummer. Ich ignoriere ihn und hänge ihn ab. Diese Staffelläufer sprinten immer wie die Feuerwehr und dann geht ihnen die Puste aus. Mein Blick verengt sich, ich versuche weiter zu lächeln und zu genießen. Beides fällt immer schwerer. Km32 ist da. Jetzt noch 10 Kilometer. Zeit um richtig Gas zu geben. Die sub2:54 ist sehr unrealistisch geworden. Wenn ich 41 Minuten laufe, dann habe ich die sub2:55 sicher. Das ist ja das eigentliche Ziel. Und das muss klappen! Dranbleiben. Ich gebe Gas, mein Puls ist jetzt deutlich höher und die Atmung wird schwer. Leichtes Seitenstechen macht sich breit. Ich denke an das Video von gestern Abend und nehme tiefe keuchende Atemzüge wie der dicke Junge und hechte nach vorne. Zufällig säumen gerade jetzt viele Zuschauer die Straßen, ich lächle Ihnen zu, sie jubeln zurück. Das macht Spaß! Euphorisiert ziehe ich davon. Meine Uhr zeigt kurzzeitig 3:39er Pace an. Für diese Geschwindigkeit ist es etwas früh, ich will mich bremsen, aber das ist nicht nötig, ich werde von alleine langsamer.
Der grüne Staffelläufer erscheint auf einmal wieder neben mir. Zusammen überholen wir immer wieder. Die Auswertung wird zeigen, dass ich auf der zweiten Hälfte 99 Läufer überholt habe. Kaum einer in der Ergebnisliste hat einen negativen Split. Ich konzentriere mich auf die verbleibenden Kilometer. Noch 9, noch 8. Kilometer 35 ist erreicht. Ist noch eine Tempoverschärfung drin? Ich denke an Personen, die mir lieb sind und versuche für sie zu rennen. So sehr ich mich auch anstrenge, das Tempo bleibt konstant. Das ist nicht das Schlechteste jenseits der 35, aber ich hatte gehofft noch was drauflegen zu können. Jetzt kommt wieder eine Steigung. Ich halte das Tempo, aber es kostet Kraft. Zwischenzeitlich wird es auch wärmer.
Die Umgebung nehme ich jetzt nur noch schemenhaft wahr. Ich befinde mich im „running delirium“. Wie in Trance laufe ich weiter. Kilometer 36, Kilometer 37. Jetzt noch 5km. Die sub2:55 müsste klappen, aber die Sekunden fehlen mir auf der Uhr.
Ein Krampf deutet sich an, aber nur ansatzweise. Ich habe alles im Griff. Weiter machen!
[ATTACH=CONFIG]39975[/ATTACH]
Meinen grünen Begleiter kann ich nicht mehr abschütteln. Immer wieder kommt er an mich dran und will vorbei ziehen. Plötzlich schalte ich im Kopf um, denn ich merke, was für ein Glück ich habe, dass er da ist. Mein persönlicher Pacemaker. Das ist ein Service wie bei den Profis. Ich muss nur an ihm dranbleiben. Das ist alles was ich will. Ich rechne die verbleibenden Kilometer in Runden auf der Laufbahn um. Ich denke daran, wie ich mich auf der Laufbahn gequält habe. Das war nur Training, jetzt gilt es. Ich bin im Wettkampf, jetzt ist die Zeit sich zu quälen. Nur noch eine Viertelstunde. Ich gebe alles, aber mehr als das Tempo im 4:07er Bereich zu halten kann ich nicht.
An der Energie liegt es nicht, ich habe in der ersten Hälfte 2-3 normale Isostargels genommen und ab der HM-Marke 3 flüssige Gels im 5km Abstand. Mein Magen verhält sich ruhig. Der Puls hätte noch Spielraum nach oben, aber die Kraft fehlt.
Jetzt setzt sich der grüne Läufer etwas von mir ab. Ein paar Meter Abstand liegen zwischen uns, aber ich bleibe dran. Ich verkleinere den Abstand wieder. Ich bekomme nicht mehr viel mit. Mein Blick ist auf meinen Pacemaker gerichtet. Das Ortsschild von Cannes ist erreicht. Km 39. Noch 7 ½ Runden auf der Bahn. Nur ein Intervall noch. Das ist doch kein Problem. Ich stoße einen lauten Schrei aus und gebe alles
An Kilometer 39-42 erinnere ich mich kaum. Irgendwann setzt mein Pacemaker zum Endspurt an, ich versuche hinterher zu kommen. Ich komme nicht ganz mit, aber ich bleibe bis auf wenige Meter dran.
Die Ziellinie ist in Sicht, gleich ist es geschafft, ich reiße meine Arme hoch und laufe über die erste Matte und drücke die Uhr ab.
Ich bin im Ziel. Geschafft. Meine Uhr zeigt 2:54. Unter 2:55 geschafft. Genial, was für ein Tag!
Ich bekomme eine wunderschöne Medaille und ein wirklich sehr schönes Adidas Finisher T-Shirt, dass ich mit Stolz herumtrage. Weiterhin jede Menge Obst, Schokocroissants und belegte Brötchen.
Gleich rufe ich die Detailauswertung der Uhr auf - dort steht 2:54:59. Schock! Hoffentlich bin ich im offiziellen Ergebnis nicht doch auf 2:55 gelandet. Aber glücklicherweise zeigt die offizielle Messung eine 2:54:57. Ende gut, alles gut!
Landschaftlich ohne Gleichen, super Stimmung unter den Läufern, Top Organisation, alles hat funktioniert wie am Schnürchen, freundliche entspannte Menschen. Ein anderes Lebensgefühl.
Bei einer durchweg flachen Strecke und bei einer leicht schnelleren ersten Hälfte wäre vielleicht noch eine Minute schneller drin gewesen, aber die und noch mehr will ich mir beim nächsten Marathon holen
Ich lasse die malerische Cote d’Azur mit einem guten aber auch wehmütigen Gefühl zurück. Hier habe ich keinen Herbst gesehen, kein Grau, nur die immergrünen Palmen und ein mich umgebendes warmes Blau bis zum Horizont wo das funkelnde Meer in den Himmel übergeht… Ich denke an Matisse. Hingerissen vom Zauber des mediterranen Lichts schrieb er über Nizza: „Als ich mir bewusst wurde, dass ich jeden Morgen aufs Neue dieses Licht wieder sehen werde, konnte ich mein Glück kaum fassen.“
Recht hat er gehabt.
Vielen Dank für das Mitfiebern, Daumen drücken und Gratulieren!
10151
Auch auf die Gefahr, dass der Herr A. dkf jetzt als "Vollquottel" betitelt, ich kann jetzt nicht anders;