Berlin liegt mir nicht! [Marathon 2016]
Verfasst: 27.09.2016, 14:30
[font=&]Das Tier hatte ich schon ausgesucht: Der Tradition gemäß sollte es eine Gans sein. Schlachten war auch nicht das Problem. Aber den kompetenten Fachmann, den aufzutreiben, das stellte sich als unüberwindliches Hindernis dar. In den Gelben Seiten tauchte der Begriff gar nicht erst auf. Die hohe Kunst, fachgerecht die Haruspizien durchzuführen, ist mit dem Untergang des Römischen Reiches verloren gegangen. Qualifizierte Auguren sucht man seitdem vergebens. [/font]
[font=&]Auch die Araber, die viele der zivilisatorischen Errungenschaften der Römer bewahrt haben, führten die Fähigkeit, die Meinung der Götter aus den Eingeweiden von Opfertieren abzulesen, nicht fort. Also blieb ich bei der Einschätzung der Vorzeichen auf mich allein gestellt. So rosig waren letztere nicht. [/font]
[font=&]Vorzeichen[/font]
[font=&]Beide Achillessehnen waren gereizt, die rechte besonders, und bei den letzten Läufen spürte ich sie nach wenigen Metern bereits. Ich machte mir Sorgen, wenn ich sie nun über mehr als 3 Stunden stark belasten würde, und fürchtete langfristige Folgen. Die Oberschenkelmuskulatur hinten war auch nicht in Ordnung, und vor allem links strahlte das bis ins Gesäß aus. [/font]
[font=&]Von der Vorbereitung her hatte ich zwar ordentlich Umfang trainiert, aber die Tempoarbeit mehr auf Wettkämpfe beschränkt, und deren Ergebnisse waren nicht berauschend: ein HM in 1:32:40 h vor 3 Wochen und ein Zehner in 42:46 min vor einer Woche. Das wäre bei Testwettkämpfen von den Zeiten her okay gewesen, wenn ich nicht jeweils das Gefühl gehabt hätte, so viel mehr wäre da gar nicht gegangen, wenn ich es denn vorgehabt hätte.[/font]
[font=&]Tja, und dann war da noch dieses nagende Geräusch gewesen, das mich nachts öfter mal aufgeweckt hatte. Es hörte sich an, als sei da irgendein Tier am Knabbern. Ich war sogar aufgestanden und hatte mit einer Taschenlampe nachgeschaut, aber nichts entdecken können. [/font]
[font=&]Aus all diesen Gegebenheiten heraus hätte ich gerne ein Zeichen erbeten, ob die Götter einem Start beim Berlinmarathon wohlgesonnen wären, aber wie gesagt scheiterte diese Einschätzung am geschilderten Fachkräftemangel. Mehr der Gewohnheit folgend, lief ich dann doch wieder mit. Nach den Unterdistanzzeiten, die ich bisher in diesem Jahr gelaufen war, hätte eigentlich eine Zeit im Bereich 3:06, 3:07 h drin sein müssen, aber aufgrund der wenig erbaulichen Vorzeichen wollte ich auf Nummer sicher gehen und stellte mich auf 3:10 h ein. Das sollte ja wohl machbar sein.[/font]
[font=&]Nr. 89 läuft nicht rund[/font]
[font=&]Diesmal klappte es mit dem Startblock besser als im letzten Jahr. 2015 hatten sich da so viele hineingemogelt, dass ich mit mehreren anderen nicht mehr hinein kam. Diesmal hingegen klappte das problemfrei. Es war sogar genug Platz, dass ich weiter in den Block hineingehen konnte. Wie ich mich so umschaute, trugen auch alle korrekt das „C“ auf ihrer Startnummer. Und doch fragte ich mich angesichts der Statur einiger Mitläufer, ob da jeder seine Marathonzeiten korrekt angegeben hatte. Davon aber gegen Ende des Berichts noch mehr![/font]
[font=&]Nach weniger als 1 ½ min überquerte ich die Messmatten und rollte mich in ein flottes, aber angenehmes Tempo ein. Für den ersten km brauchte ich 4:36 min. Mal sehen! Als dann der zweite km erst nach 4:33 min hinter mir lag, wusste ich, dass mein Tempo angenehm, aber zu langsam war. Da musste ich einen Tacken zulegen und pendelte mich anschließend bei km-Zeiten leicht unter 4:30 ein. Das war schnell genug, aber nicht mehr richtig angenehm. Half aber nichts, denn mir war klar, dass ich wie im letzten Jahr in der zweiten Hälfte noch Zeit verlieren würde, also musste ich ein klein wenig Vorsprung auf den ersten, noch frischen Kilometern herauslaufen, nicht viel, aber 1 oder 2 Minuten wären schon gut.[/font]
[font=&]Hinter km 8 sollte ich das erste Mal moralische Unterstützung erhalten, denn dort wartete meine Frau auf mich. Den Platz an der Torstraße konnte sie bequem zu Fuß vom Hotel aus erreichen. Die Begegnung klappte einwandfrei, denn wir hatten vereinbart, dass sie grundsätzlich immer links stehen sollte. Bald lagen die ersten 10 km hinter mir, die mit 44:38 min weggingen. Das waren gerade mal 22 Sekunden unter Planzeit, es würde eng werden.[/font]
[font=&]Ich lief weiterhin leicht unter dem 4:30er Tempo, aber immer wieder gab es einzelne km, ob nun durch unterschiedliche Abstände zwischen den Schildern bedingt oder durch wechselnde Topographie verursacht, die mir den Schnitt wieder „versauten“, indem sie 4:30+ betrugen. Bei km 15 lag ich somit just ½ Minute unter Zieltempo. [/font]
[font=&]Bereits vorher im Rennen, aber nun zunehmend erfuhr ich das, was ich als MRZ-Phänomen oder „Phänomen des mnemo-realen Zeitsprungs“ bezeichnen möchte. Das hört sich kompliziert an, ist aber eigentlich ganz einfach. Der heurige Berlinmarathon war mein 89. Marathon insgesamt. Das wäre für einen Sammler nicht viel, aber ich habe das auf bisher 21 Jahre verteilt. [/font]
[font=&]Aus den 88 vorherigen Läufen hat sich – bei aller Unterschiedlichkeit jedes einzelnen Rennens – doch so etwas wie eine Sammelerfahrung ergeben, und jede einzelne Zelle des Körpers weiß, wie sich so ein Marathon nach 10 oder 20 km und erst recht nach 28, 35 oder 39 km anfühlt, also nicht metergenau, aber doch für größere km-Abstände. Dieses Wissen kulminiert in den Beinen, den Lungen, den Adern etc. und erst recht in dem Teil des Kopfes, der als Rennleiter fungiert. Diese Komponenten schickten mir erinnerte Entfernungssignale, die nicht zu den realen km-Schildern passten. [/font]
[font=&]Platt ausgedrückt, fühlte ich mich immer wie 10 km weiter, also nach 15 km kam es mir vor, als hätte ich bereits 25 km hinter mir, nach 25 km fühlte ich mich wie bei km 35 usw. Das Fatale daran war die Erkenntnis, dass, wenn ich km 32 erreicht hätte, gefühlt also bereits im Ziel wäre, noch einmal 10 lange km auf mich warten würden. Das war nicht sehr motivierend.[/font]
[font=&]Das eigentliche Problem war wohl: Die Beine waren schlapp. Ich konnte (oder wollte?) nicht schneller laufen. Im Kopf war dadurch viel Platz zum Grübeln, und das Grübeln bekam mir nicht. Dabei waren die äußeren Bedingungen in Ordnung: Es war meistens leicht bewölkt, Häuser spendeten Schatten, und es ging ein leichter Wind. Ich musste mich irgendwie wieder lösen und versuchte, mich auf den nächsten 5-er Abschnitt zu konzentrieren. Gut wäre es ja auch, wenn ich bei der HM-Marke klarer unter Zielzeit liegen würde: 1:34 wäre erstrebenswert, mit einem 2 min-Abfall auf der zweiten Hälfte wäre die 3:10 noch machbar.[/font]
[font=&]Als ich die HM-Marke endlich passierte, zeigte mir die Uhr 1:34:19 an. Das würde eng werden, vermutlich zu eng. Nach 25 km war endgültig klar, dass ich länger brauchen würde. Von km zu km fraß sich der Zweifel stärker in meinen Kopf, warum ich das eigentlich machte. Ich lief nicht locker, im Gegenteil: immer in der Gewissheit, die Beine auf Trab halten zu müssen, weil sie sonst unweigerlich nachlassen würden. Meine eh schon gedämpfte Zielzeit war außer Reichweite. Ich war in meinem Läuferleben schon genügend schnelle Marathons gelaufen. Warum also sollte ich mich heute noch anstrengen? Es wäre doch wunderbar entspannend, einfach Tempo herauszunehmen und ohne Quälerei die restlichen Kilometer abzuspulen. [/font]
[font=&]Ich glaube, ich war selten so weit davor, mich fallen zu lassen und dem „schnellen“ Lauf ein Ende zu setzen. Dann wiederum fiel mir ein, dass ich bisher gerade mental immer stark gewesen war und Hänger überstanden hatte. Ich rief mir in Erinnerung, dass die Platzierungen in der M65 oft weit über 3:10 h gelegen hatten, und ich stellte mir vor, ich würde entspannt die letzten km zum Ziel joggen, in der Ergebnisliste aber sehen, dass ich ohne Hängenlassen locker im Medaillenbereich gelandet wäre. Wochenlang ärgern für 1 Stunde Entspannung? Nein, das nun doch nicht, und so lief ich weiter gegen die Unlust an.[/font]
[font=&]Wenn diese Unlust mich erneut packte, kramte ich in den Erinnerungen und fand eine weitere Motivation: Bei den 100 km-Läufen war bei mir nach 80 km immer das Gefühl aufgekommen „Jetzt ist es bald geschafft. Der größte Teil liegt hinter dir. Nur noch 2 Runden!“ Mir das vor Augen führend, reduzierten sich die noch vor mir liegenden 20, 15 oder 10 km. Die Strecke schien gewissermaßen zu schrumpfen.[/font]
[font=&]Als der dritte Zehner hinter mir lag, war ich durch das Motivationsthema mehr oder weniger durch. Nun war der Rest überschaubar. Ich konzentrierte mich nur noch auf das Rennen selbst, die Gedanken wie „anstrengend“, „noch so weit“ „will nicht mehr“ verschwanden im Hintergrund. Der „mnemo-reale Zeitsprung“ schrumpfte, war bald wie beim Vorspulen einer unterbrochenen TV-Sendung bei 0 gelandet, und das Rennempfinden begann, sich mit gespeicherter Erfahrung zu decken. [/font]
[font=&]Die verbleibenden Kilometer konnte ich gut unterteilen, denn am Potsdamer Platz würde erneut meine Frau auf mich warten. Der zu früh stehende km 31 hieß folglich: noch 7 km (und ein paar zerquetschte), bis ich meine Frau treffe, dann bis km 39, und dann die letzten 3 km; 3 km, das ist kein Riesending mehr![/font]
[font=&]Das Tempo war wie erwartet kontinuierlich gesunken. Ich überschlug von Zeit zu Zeit, wo ich landen würde. Dabei kalkulierte ich grob, dass ich für den letzten Zehner etwa 47 min brauchen würde und wohl so 10 ½ für den Schlussteil. Das ergab eine Zeit um die 3:12, selbst mit leichtem Einbruch sollte daher eine 3:15 deutlich zu unterbieten sein. Komischerweise dachte ich daran, dass mir das Block D bis zum Marathon 2019 sichern würde. Dabei war der heurige noch lange nicht vorbei.[/font]
[font=&]Nach 35 km rutschten die Zeiten über 4:40 min/km, das hatte ich auch so erwartet. Dabei war ich mittlerweile voll im Kampfmodus und holte aus den Beinen heraus, was sie noch zu leisten imstande waren. Als ich endlich km 38 erreicht hatte, fühlte ich mich fast schon etwas wie im Ziel. Der nächste Zwischenabschnitt – Treffen mit meiner Frau – sollte gleich erreicht sein, und dann ginge es in die Schlussrunde! Ich lief am linken Rand und suchte die Zuschauerreihen ab. Da, da stand sie! Ich winkte ihr zu, hörte meinen Namen und war auch schon wieder vorbei! Nicht lange, dann kündigte mir das nächste km-Schild an: Nur noch 3 km! 7 ½ Runden auf der Bahn, naja, genau genommen 8 Runden, denn 195 m musste ich ja hinzuaddieren.[/font]
[font=&]Meine Beine liefen mechanisch, in den Oberschenkeln spürte ich die Belastung, hinten zog es bis ins Gesäß, dafür nahm ich die Achillessehnen gar nicht wahr, Folge des ausgeschütteten Adrenalins. Meine Füße, genauer meine Zehen sendeten dagegen deutliche Signale ans Gehirn. An den meisten hatte ich Blasen, besonders beide Großzehen mussten mit Wasser und Blut gefüllt sein, das spürte ich bei jedem Schritt. Aber das Wichtigste war: der Kopf spielte jetzt mit, kein Gedanke ans Hängenlassen, und wenn ich mir das Ziel ausmalte, dann in der Entfernung, die real und angemessen war. Das würde ich jetzt durchziehen, ja, ich dachte daran, noch einmal das Tempo etwas anzuziehen, sobald ich km 40 hinter mir hatte. [/font]
[font=&]So machte ich es dann auch, und es klappte noch. Die letzten 2,195 km steigerte ich mich nochmal auf ein Tempo knapp über 4:30. Als ich am 41-er Schild vorbei war, huschte eine Erinnerung ans letzte Jahr durch den Kopf, denn da hatte ich kurz vorm Ziel Herzrhythmusstörungen bekommen und gehen müssen, bis die wieder verschwunden waren. Die Erinnerung verblasste, heute liefen die letzten Meter rund. Au! Verflucht! Jetzt war ich beim Brandenburger Tor fast hingefallen, war beim Absatz verrutscht und knallte mit meinem eh schon schmerzenden Großzeh links innen nochmal voll an die Schuhkante! Egal, durch! Dahinten war das Ziel zu sehen, dort wollte ich hin![/font]
[font=&]Meine Frau, die hier ein drittes Mal auf mich wartete, nahm ich nicht mehr wahr, nein, ich dachte nicht einmal mehr daran, dass sie hier stehen würde. Ich wollte jetzt nur so schnell wie möglich ins Ziel kommen. Im letzten Jahr musste ich auf der Schlussgeraden – zum Gehen gezwungen – etliche Teilnehmer an mir vorbeilaufen sehen. Diesmal war’s umgekehrt. Ich lief noch an zahlreichen Läufern vorbei, die nicht mehr so viel Kraft hatten, und dann war ich endlich im Ziel! [/font]
[font=&]Wie lädiert meine Zehen waren, merkte ich erst jetzt so richtig. Im Schleichschritt bewegte ich mich voran, stets bemüht, nicht vorne anzustoßen. Trinken konnte ich nur in kleinen Schlucken, und Hunger hatte ich überhaupt keinen. Dafür fiel mir wieder ein, dass ich endlich mal pinkeln sollte. Noch im Startblock stehend, hatte ich einen Druck auf der Blase verspürt, diesen erst unterdrückt, dann ausgeblendet, und irgendwann hatte es mich nicht mehr beschäftigt.[/font]
[font=&]Versöhnung[/font]
[font=&]Meine Uhr zeigte eine Bruttozeit von 3:13:06 h. Ich brauchte eine Weile, um ohne technische Hilfsmittel herauszufinden, dass es wenigstens zu einer Nettozeit unter 3:12 gereicht hatte. Das war dann wohl dem schnelleren Schlussteil zu verdanken. Die Zeit ist objektiv betrachtet schwach. Vor einem halben Jahr bin ich in Berlin 50 km gelaufen. Die Durchgangszeit bei Marathon lag unter 3:08 h, und das Tempo über die gesamten 50 km war fast 5 Sekunden pro km schneller. [/font]
[font=&]Dennoch war und bin ich zufrieden. Viel mehr war an diesem Tag eben nicht drin. Angesichts meiner Zweifel im Vorfeld und der erneuten Überwindung meiner Unlust während des Rennens war ich ganz happy, auch natürlich, dass ich mich von zwischenzeitlichen Verlockungen, nur durchzujoggen, nicht habe verführen lassen. [/font]
[font=&]Meine Frau stand noch am Brandenburger Tor. Nach endlos langer Nachbereitung – Kleiderbeutel holen, langsam und schluckweise 2 Erdinger trinken, duschen, dabei konnte ich noch Eckhard, den Rumläufer begrüßen - bewegte ich mich Richtung Treffpunkt. [/font][font=&]Da mir das beim Laufen gar nicht aufgefallen war, will ich hier noch kurz schildern, wie ich auf die andere Seite der Laufstrecke kam, um meine Frau zu treffen: Mitten in der Laufstrecke befand sich ein halbhoher Gitterkäfig. Während die Läufer links an diesem vorbei liefen, wurden wohl an die 100 Fußgänger in den Käfig eingelassen. Dann sperrten die Helfer per Flatterband die links vorbei führende Laufseite, lenkten den Läuferstrom rechts vorbei, und wir Fußgänger konnten die andere Straßenseite erreichen. Eine geniale Methode, die Laufstrecke bei kontinuierlichem Läuferstrom zu queren![/font]
[font=&]Ärgernis[/font]
[font=&]Nun war noch die Frage offen, wo ich denn platzmäßig gelandet war. Dass ich den AK-Sieg vom letzten Jahr nicht würde wiederholen können, war schon vor dem Lauf klar gewesen. Meine Analyse, welche schnellen Läufer aus den letzten Jahren wieder dabei waren, hatte ergeben, dass ein Brite mit 2:54 h beim diesjährigen Londonmarathon gemeldet war, und das war außerhalb meiner Reichweite. Aber es gibt ja auch Platz 2, 3 usw. Bei solchen Wettbewerben kommt es halt immer darauf an, wer antritt. Da kann natürlich ein ganz Schneller aus Japan, Australien oder Ekuador dabei sein, den kein Mensch auf der Rechnung haben kann. Also sollte alles von Platz 2 bis vielleicht 10 drin sein. [/font]
[font=&]Es dauerte nicht lange, bis ich die Liste der M65 aufrufen konnte. Da fand ich mich dann: Nettozeit 3:11:39 h und Platz 4! Blöd, Platz 4 ist ein undankbarer Platz, der erste außerhalb der Medaillenränge. Was mich jedoch wunderte, war, dass der schnelle Brite nur auf Platz 2 lag. Er war heuer zwar auch nicht gar so schnell gewesen mit 3:06:21 h, für mich aber am heutigen Tag nicht erreichbar. Der Läufer auf Platz 3 hingegen lag mit 3:11:14 h gerade mal 25 Sekunden vor mir. Das wäre machbar gewesen. Leider kennt man seine Konkurrenten bei so einem Massenereignis ja nicht, so dass man auch kein Rennen „Mann gegen Mann“ austragen kann.[/font]
[font=&]Ich haderte dennoch nicht mit diesem Rückstand, denn letztes Jahr lag ich gerade einmal 30 Sekunden vor dem Zweiten und 34 Sekunden vor dem Dritten. Diesmal war’s eben umgekehrt, ich war einige Sekunden dahinter, und das war okay so. [/font]
[font=&]Der erste M65 jedoch, ein deutscher Teilnehmer, hatte eine ganz phantastische Zeit: 2:57:11 h netto. Das war fast wie von einem anderen Stern. Merkwürdig nur, dass er mit 3:11:36 h brutto weit hinten gestartet war. Ich klickte auf den Namen, um die Zwischenzeiten zu sehen. Tja, und das war’s: keine einzige Zwischenzeit! Ganz offensichtlich ein Betrüger also, der noch aus der Liste fliegen wird – mit dem Nebeneffekt, dass ich auf den 3. Platz vorrücken werde, also doch nicht undankbar.[/font]
[font=&]Aus altem Interesse heraus schaute ich mir noch die Liste der M60 an, so lange bin ich dieser AK ja nicht entflohen. Um’s kurz zu machen: Hier wiederholte sich das Spielchen: erneut ein Betrüger am Werk! Zwischenzeiten bis zum Halbmarathon verzeichnet, HM-Durchgang nach 1:55:03 h, dann ohne weitere Zwischenzeiten Endzeit von 2:57:08 h, hieße also 2. Hälfte in 1:02:05 h, für einen M60-er verdammt schnell![/font]
[font=&]Nun war ich neugierig geworden. Im Hotel angekommen, ging ich systematisch heran und rief nach und nach die AK-Listen auf, schaute nach den Zwischenzeiten der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Sieger und achtete bei den vorderen Plätzen auf große Abstände zwischen Brutto- und Nettozeit. Auch wenn, wie in so manchem Thread geschehen, einige sagen werden „Juckt mich nicht“, „Die betrügen sich nur selbst“ oder gar das als „Internet vollheulen“ klassifizieren, ich halte das Resultat für geradezu niederschmetternd. [/font]
[font=&]Bei den Männern sind die Sieger der M60, M65 und M70 allesamt Blender und Betrüger. Das ergibt sich eindeutig aus fehlenden oder nicht passenden Zwischenzeiten. Der 2. der M50 gehört ebenso in diese Kategorie. Bei den Frauen haben betrogen die ersten in W50 und W60 sowie die 2. W55. Das sind jetzt wie gesagt nur die ganz offensichtlichen Fälle auf den vorderen AK-Plätzen. [/font]
[font=&]Ich frage mich, wieso jemand aus Costa Rica anreist, nur um einmal über die Startlinie zu laufen, sich zum Ziel zu begeben und früh im Rennen über die Ziellinie zu laufen. Ebenso will es mir nicht in den Kopf, wie zwei Damen jenseits der 50 gemeinsam in 1:46,5 Stunden bis km 15 traben, um dann wiederum gemeinsam eine Stunde und 10 Minuten später die Ziellinie zu überqueren – ob Händchen haltend oder nicht, könnte wohl nur das Zielvideo zeigen.[/font]
[font=&]Was sind das für armselige, aber auch dumme und einfältige Zeitgenossen? Armselig, weil sie mit Betrug eine Leistung vortäuschen, zu der sie nicht fähig sind, und dumm und einfältig, weil sie so offensichtlich betrügen, dass es garantiert auffällt und sie aus der Liste fliegen werden. [/font]
[font=&]Ich verstehe aber auch die Veranstalter nicht, die solche ganz dreisten Fälle nicht sofort aus der Liste herausschmeißen. Das Zeitnahmeprogramm weist für die beiden Damen sogar eine hochgerechnete Zeit von 4:44:05 bei km 40 aus, gibt aber brav eine Endzeit an von 2:56:03 h mit einer Geschwindigkeit von -1.22 km/h. Was soll so ein Quatsch? Nicht ganz klar ist mir auch, wie jemand, der für lediglich 7 km mehr als 48 min braucht, überhaupt aus Startblock C starten kann. [/font]
[font=&]Nun mag man einwenden, dass das ja alles noch korrigiert wird. Stimmt! Aber Zeitungen, Zeitschriften oder Online-Listen übernehmen die ersten, unkorrigierten Ergebnisse der Veranstalter. In der Spiridon z. B. tauchen also die auf, die beschissen haben, nicht die wahren Sieger. Das widerspricht meinem Gefühl von Sportlichkeit und meinem Gerechtigkeitsempfinden. Dass Leute bescheißen, wird es immer geben, und es werden auch immer welche dabei sein, die das intelligent genug machen, so dass es nicht auffällt. Das lässt sich gar nicht verhindern. Ich denke aber, dass man die offensichtlichen Fälle sofort herausfiltern kann und sollte, vor allem wenn es zu so häufigen und krassen Beispielen kommt wie gezeigt.[/font]
[font=&]Erkenntnis[/font]
[font=&]Meine Frau scheuchte mich dann aber doch vom Smartphone weg, wir genossen den sonnigen Nachmittag, und nach einem üppigen und wohlschmeckenden Abendmahl legten wir uns zur verdienten Nachtruhe nieder. Nachts wachte ich auf. Da war es wieder, dieses nagende Geräusch. Nanu, auch hier in Berlin? Im Hotel? Vorsichtig, und um meine Frau nicht zu wecken, machte ich ein kleines Licht an. Und dann konnte ich endlich erkennen, was es war. [/font]
[font=&]Groß war er, bewegte sich hin und her, grinste mich an. Mir war schlagartig klar, dass er mich nie wieder verlassen würde, ständig in meiner Begleitung dabei, immer weiter wachsend. Er schmatzte an mir herum, in einem fort grinsend, ließ sich aber nicht von seiner Arbeit abhalten. Der riesengroße Zahn kaute weiter an mir herum. Da wusste ich: Es ist der Zahn der Zeit, der da unerbittlich an mir herumnagt…[/font]
[font=&]Bernd[/font]
[font=&]Auch die Araber, die viele der zivilisatorischen Errungenschaften der Römer bewahrt haben, führten die Fähigkeit, die Meinung der Götter aus den Eingeweiden von Opfertieren abzulesen, nicht fort. Also blieb ich bei der Einschätzung der Vorzeichen auf mich allein gestellt. So rosig waren letztere nicht. [/font]
[font=&]Vorzeichen[/font]
[font=&]Beide Achillessehnen waren gereizt, die rechte besonders, und bei den letzten Läufen spürte ich sie nach wenigen Metern bereits. Ich machte mir Sorgen, wenn ich sie nun über mehr als 3 Stunden stark belasten würde, und fürchtete langfristige Folgen. Die Oberschenkelmuskulatur hinten war auch nicht in Ordnung, und vor allem links strahlte das bis ins Gesäß aus. [/font]
[font=&]Von der Vorbereitung her hatte ich zwar ordentlich Umfang trainiert, aber die Tempoarbeit mehr auf Wettkämpfe beschränkt, und deren Ergebnisse waren nicht berauschend: ein HM in 1:32:40 h vor 3 Wochen und ein Zehner in 42:46 min vor einer Woche. Das wäre bei Testwettkämpfen von den Zeiten her okay gewesen, wenn ich nicht jeweils das Gefühl gehabt hätte, so viel mehr wäre da gar nicht gegangen, wenn ich es denn vorgehabt hätte.[/font]
[font=&]Tja, und dann war da noch dieses nagende Geräusch gewesen, das mich nachts öfter mal aufgeweckt hatte. Es hörte sich an, als sei da irgendein Tier am Knabbern. Ich war sogar aufgestanden und hatte mit einer Taschenlampe nachgeschaut, aber nichts entdecken können. [/font]
[font=&]Aus all diesen Gegebenheiten heraus hätte ich gerne ein Zeichen erbeten, ob die Götter einem Start beim Berlinmarathon wohlgesonnen wären, aber wie gesagt scheiterte diese Einschätzung am geschilderten Fachkräftemangel. Mehr der Gewohnheit folgend, lief ich dann doch wieder mit. Nach den Unterdistanzzeiten, die ich bisher in diesem Jahr gelaufen war, hätte eigentlich eine Zeit im Bereich 3:06, 3:07 h drin sein müssen, aber aufgrund der wenig erbaulichen Vorzeichen wollte ich auf Nummer sicher gehen und stellte mich auf 3:10 h ein. Das sollte ja wohl machbar sein.[/font]
[font=&]Nr. 89 läuft nicht rund[/font]
[font=&]Diesmal klappte es mit dem Startblock besser als im letzten Jahr. 2015 hatten sich da so viele hineingemogelt, dass ich mit mehreren anderen nicht mehr hinein kam. Diesmal hingegen klappte das problemfrei. Es war sogar genug Platz, dass ich weiter in den Block hineingehen konnte. Wie ich mich so umschaute, trugen auch alle korrekt das „C“ auf ihrer Startnummer. Und doch fragte ich mich angesichts der Statur einiger Mitläufer, ob da jeder seine Marathonzeiten korrekt angegeben hatte. Davon aber gegen Ende des Berichts noch mehr![/font]
[font=&]Nach weniger als 1 ½ min überquerte ich die Messmatten und rollte mich in ein flottes, aber angenehmes Tempo ein. Für den ersten km brauchte ich 4:36 min. Mal sehen! Als dann der zweite km erst nach 4:33 min hinter mir lag, wusste ich, dass mein Tempo angenehm, aber zu langsam war. Da musste ich einen Tacken zulegen und pendelte mich anschließend bei km-Zeiten leicht unter 4:30 ein. Das war schnell genug, aber nicht mehr richtig angenehm. Half aber nichts, denn mir war klar, dass ich wie im letzten Jahr in der zweiten Hälfte noch Zeit verlieren würde, also musste ich ein klein wenig Vorsprung auf den ersten, noch frischen Kilometern herauslaufen, nicht viel, aber 1 oder 2 Minuten wären schon gut.[/font]
[font=&]Hinter km 8 sollte ich das erste Mal moralische Unterstützung erhalten, denn dort wartete meine Frau auf mich. Den Platz an der Torstraße konnte sie bequem zu Fuß vom Hotel aus erreichen. Die Begegnung klappte einwandfrei, denn wir hatten vereinbart, dass sie grundsätzlich immer links stehen sollte. Bald lagen die ersten 10 km hinter mir, die mit 44:38 min weggingen. Das waren gerade mal 22 Sekunden unter Planzeit, es würde eng werden.[/font]
[font=&]Ich lief weiterhin leicht unter dem 4:30er Tempo, aber immer wieder gab es einzelne km, ob nun durch unterschiedliche Abstände zwischen den Schildern bedingt oder durch wechselnde Topographie verursacht, die mir den Schnitt wieder „versauten“, indem sie 4:30+ betrugen. Bei km 15 lag ich somit just ½ Minute unter Zieltempo. [/font]
[font=&]Bereits vorher im Rennen, aber nun zunehmend erfuhr ich das, was ich als MRZ-Phänomen oder „Phänomen des mnemo-realen Zeitsprungs“ bezeichnen möchte. Das hört sich kompliziert an, ist aber eigentlich ganz einfach. Der heurige Berlinmarathon war mein 89. Marathon insgesamt. Das wäre für einen Sammler nicht viel, aber ich habe das auf bisher 21 Jahre verteilt. [/font]
[font=&]Aus den 88 vorherigen Läufen hat sich – bei aller Unterschiedlichkeit jedes einzelnen Rennens – doch so etwas wie eine Sammelerfahrung ergeben, und jede einzelne Zelle des Körpers weiß, wie sich so ein Marathon nach 10 oder 20 km und erst recht nach 28, 35 oder 39 km anfühlt, also nicht metergenau, aber doch für größere km-Abstände. Dieses Wissen kulminiert in den Beinen, den Lungen, den Adern etc. und erst recht in dem Teil des Kopfes, der als Rennleiter fungiert. Diese Komponenten schickten mir erinnerte Entfernungssignale, die nicht zu den realen km-Schildern passten. [/font]
[font=&]Platt ausgedrückt, fühlte ich mich immer wie 10 km weiter, also nach 15 km kam es mir vor, als hätte ich bereits 25 km hinter mir, nach 25 km fühlte ich mich wie bei km 35 usw. Das Fatale daran war die Erkenntnis, dass, wenn ich km 32 erreicht hätte, gefühlt also bereits im Ziel wäre, noch einmal 10 lange km auf mich warten würden. Das war nicht sehr motivierend.[/font]
[font=&]Das eigentliche Problem war wohl: Die Beine waren schlapp. Ich konnte (oder wollte?) nicht schneller laufen. Im Kopf war dadurch viel Platz zum Grübeln, und das Grübeln bekam mir nicht. Dabei waren die äußeren Bedingungen in Ordnung: Es war meistens leicht bewölkt, Häuser spendeten Schatten, und es ging ein leichter Wind. Ich musste mich irgendwie wieder lösen und versuchte, mich auf den nächsten 5-er Abschnitt zu konzentrieren. Gut wäre es ja auch, wenn ich bei der HM-Marke klarer unter Zielzeit liegen würde: 1:34 wäre erstrebenswert, mit einem 2 min-Abfall auf der zweiten Hälfte wäre die 3:10 noch machbar.[/font]
[font=&]Als ich die HM-Marke endlich passierte, zeigte mir die Uhr 1:34:19 an. Das würde eng werden, vermutlich zu eng. Nach 25 km war endgültig klar, dass ich länger brauchen würde. Von km zu km fraß sich der Zweifel stärker in meinen Kopf, warum ich das eigentlich machte. Ich lief nicht locker, im Gegenteil: immer in der Gewissheit, die Beine auf Trab halten zu müssen, weil sie sonst unweigerlich nachlassen würden. Meine eh schon gedämpfte Zielzeit war außer Reichweite. Ich war in meinem Läuferleben schon genügend schnelle Marathons gelaufen. Warum also sollte ich mich heute noch anstrengen? Es wäre doch wunderbar entspannend, einfach Tempo herauszunehmen und ohne Quälerei die restlichen Kilometer abzuspulen. [/font]
[font=&]Ich glaube, ich war selten so weit davor, mich fallen zu lassen und dem „schnellen“ Lauf ein Ende zu setzen. Dann wiederum fiel mir ein, dass ich bisher gerade mental immer stark gewesen war und Hänger überstanden hatte. Ich rief mir in Erinnerung, dass die Platzierungen in der M65 oft weit über 3:10 h gelegen hatten, und ich stellte mir vor, ich würde entspannt die letzten km zum Ziel joggen, in der Ergebnisliste aber sehen, dass ich ohne Hängenlassen locker im Medaillenbereich gelandet wäre. Wochenlang ärgern für 1 Stunde Entspannung? Nein, das nun doch nicht, und so lief ich weiter gegen die Unlust an.[/font]
[font=&]Wenn diese Unlust mich erneut packte, kramte ich in den Erinnerungen und fand eine weitere Motivation: Bei den 100 km-Läufen war bei mir nach 80 km immer das Gefühl aufgekommen „Jetzt ist es bald geschafft. Der größte Teil liegt hinter dir. Nur noch 2 Runden!“ Mir das vor Augen führend, reduzierten sich die noch vor mir liegenden 20, 15 oder 10 km. Die Strecke schien gewissermaßen zu schrumpfen.[/font]
[font=&]Als der dritte Zehner hinter mir lag, war ich durch das Motivationsthema mehr oder weniger durch. Nun war der Rest überschaubar. Ich konzentrierte mich nur noch auf das Rennen selbst, die Gedanken wie „anstrengend“, „noch so weit“ „will nicht mehr“ verschwanden im Hintergrund. Der „mnemo-reale Zeitsprung“ schrumpfte, war bald wie beim Vorspulen einer unterbrochenen TV-Sendung bei 0 gelandet, und das Rennempfinden begann, sich mit gespeicherter Erfahrung zu decken. [/font]
[font=&]Die verbleibenden Kilometer konnte ich gut unterteilen, denn am Potsdamer Platz würde erneut meine Frau auf mich warten. Der zu früh stehende km 31 hieß folglich: noch 7 km (und ein paar zerquetschte), bis ich meine Frau treffe, dann bis km 39, und dann die letzten 3 km; 3 km, das ist kein Riesending mehr![/font]
[font=&]Das Tempo war wie erwartet kontinuierlich gesunken. Ich überschlug von Zeit zu Zeit, wo ich landen würde. Dabei kalkulierte ich grob, dass ich für den letzten Zehner etwa 47 min brauchen würde und wohl so 10 ½ für den Schlussteil. Das ergab eine Zeit um die 3:12, selbst mit leichtem Einbruch sollte daher eine 3:15 deutlich zu unterbieten sein. Komischerweise dachte ich daran, dass mir das Block D bis zum Marathon 2019 sichern würde. Dabei war der heurige noch lange nicht vorbei.[/font]
[font=&]Nach 35 km rutschten die Zeiten über 4:40 min/km, das hatte ich auch so erwartet. Dabei war ich mittlerweile voll im Kampfmodus und holte aus den Beinen heraus, was sie noch zu leisten imstande waren. Als ich endlich km 38 erreicht hatte, fühlte ich mich fast schon etwas wie im Ziel. Der nächste Zwischenabschnitt – Treffen mit meiner Frau – sollte gleich erreicht sein, und dann ginge es in die Schlussrunde! Ich lief am linken Rand und suchte die Zuschauerreihen ab. Da, da stand sie! Ich winkte ihr zu, hörte meinen Namen und war auch schon wieder vorbei! Nicht lange, dann kündigte mir das nächste km-Schild an: Nur noch 3 km! 7 ½ Runden auf der Bahn, naja, genau genommen 8 Runden, denn 195 m musste ich ja hinzuaddieren.[/font]
[font=&]Meine Beine liefen mechanisch, in den Oberschenkeln spürte ich die Belastung, hinten zog es bis ins Gesäß, dafür nahm ich die Achillessehnen gar nicht wahr, Folge des ausgeschütteten Adrenalins. Meine Füße, genauer meine Zehen sendeten dagegen deutliche Signale ans Gehirn. An den meisten hatte ich Blasen, besonders beide Großzehen mussten mit Wasser und Blut gefüllt sein, das spürte ich bei jedem Schritt. Aber das Wichtigste war: der Kopf spielte jetzt mit, kein Gedanke ans Hängenlassen, und wenn ich mir das Ziel ausmalte, dann in der Entfernung, die real und angemessen war. Das würde ich jetzt durchziehen, ja, ich dachte daran, noch einmal das Tempo etwas anzuziehen, sobald ich km 40 hinter mir hatte. [/font]
[font=&]So machte ich es dann auch, und es klappte noch. Die letzten 2,195 km steigerte ich mich nochmal auf ein Tempo knapp über 4:30. Als ich am 41-er Schild vorbei war, huschte eine Erinnerung ans letzte Jahr durch den Kopf, denn da hatte ich kurz vorm Ziel Herzrhythmusstörungen bekommen und gehen müssen, bis die wieder verschwunden waren. Die Erinnerung verblasste, heute liefen die letzten Meter rund. Au! Verflucht! Jetzt war ich beim Brandenburger Tor fast hingefallen, war beim Absatz verrutscht und knallte mit meinem eh schon schmerzenden Großzeh links innen nochmal voll an die Schuhkante! Egal, durch! Dahinten war das Ziel zu sehen, dort wollte ich hin![/font]
[font=&]Meine Frau, die hier ein drittes Mal auf mich wartete, nahm ich nicht mehr wahr, nein, ich dachte nicht einmal mehr daran, dass sie hier stehen würde. Ich wollte jetzt nur so schnell wie möglich ins Ziel kommen. Im letzten Jahr musste ich auf der Schlussgeraden – zum Gehen gezwungen – etliche Teilnehmer an mir vorbeilaufen sehen. Diesmal war’s umgekehrt. Ich lief noch an zahlreichen Läufern vorbei, die nicht mehr so viel Kraft hatten, und dann war ich endlich im Ziel! [/font]
[font=&]Wie lädiert meine Zehen waren, merkte ich erst jetzt so richtig. Im Schleichschritt bewegte ich mich voran, stets bemüht, nicht vorne anzustoßen. Trinken konnte ich nur in kleinen Schlucken, und Hunger hatte ich überhaupt keinen. Dafür fiel mir wieder ein, dass ich endlich mal pinkeln sollte. Noch im Startblock stehend, hatte ich einen Druck auf der Blase verspürt, diesen erst unterdrückt, dann ausgeblendet, und irgendwann hatte es mich nicht mehr beschäftigt.[/font]
[font=&]Versöhnung[/font]
[font=&]Meine Uhr zeigte eine Bruttozeit von 3:13:06 h. Ich brauchte eine Weile, um ohne technische Hilfsmittel herauszufinden, dass es wenigstens zu einer Nettozeit unter 3:12 gereicht hatte. Das war dann wohl dem schnelleren Schlussteil zu verdanken. Die Zeit ist objektiv betrachtet schwach. Vor einem halben Jahr bin ich in Berlin 50 km gelaufen. Die Durchgangszeit bei Marathon lag unter 3:08 h, und das Tempo über die gesamten 50 km war fast 5 Sekunden pro km schneller. [/font]
[font=&]Dennoch war und bin ich zufrieden. Viel mehr war an diesem Tag eben nicht drin. Angesichts meiner Zweifel im Vorfeld und der erneuten Überwindung meiner Unlust während des Rennens war ich ganz happy, auch natürlich, dass ich mich von zwischenzeitlichen Verlockungen, nur durchzujoggen, nicht habe verführen lassen. [/font]
[font=&]Meine Frau stand noch am Brandenburger Tor. Nach endlos langer Nachbereitung – Kleiderbeutel holen, langsam und schluckweise 2 Erdinger trinken, duschen, dabei konnte ich noch Eckhard, den Rumläufer begrüßen - bewegte ich mich Richtung Treffpunkt. [/font][font=&]Da mir das beim Laufen gar nicht aufgefallen war, will ich hier noch kurz schildern, wie ich auf die andere Seite der Laufstrecke kam, um meine Frau zu treffen: Mitten in der Laufstrecke befand sich ein halbhoher Gitterkäfig. Während die Läufer links an diesem vorbei liefen, wurden wohl an die 100 Fußgänger in den Käfig eingelassen. Dann sperrten die Helfer per Flatterband die links vorbei führende Laufseite, lenkten den Läuferstrom rechts vorbei, und wir Fußgänger konnten die andere Straßenseite erreichen. Eine geniale Methode, die Laufstrecke bei kontinuierlichem Läuferstrom zu queren![/font]
[font=&]Ärgernis[/font]
[font=&]Nun war noch die Frage offen, wo ich denn platzmäßig gelandet war. Dass ich den AK-Sieg vom letzten Jahr nicht würde wiederholen können, war schon vor dem Lauf klar gewesen. Meine Analyse, welche schnellen Läufer aus den letzten Jahren wieder dabei waren, hatte ergeben, dass ein Brite mit 2:54 h beim diesjährigen Londonmarathon gemeldet war, und das war außerhalb meiner Reichweite. Aber es gibt ja auch Platz 2, 3 usw. Bei solchen Wettbewerben kommt es halt immer darauf an, wer antritt. Da kann natürlich ein ganz Schneller aus Japan, Australien oder Ekuador dabei sein, den kein Mensch auf der Rechnung haben kann. Also sollte alles von Platz 2 bis vielleicht 10 drin sein. [/font]
[font=&]Es dauerte nicht lange, bis ich die Liste der M65 aufrufen konnte. Da fand ich mich dann: Nettozeit 3:11:39 h und Platz 4! Blöd, Platz 4 ist ein undankbarer Platz, der erste außerhalb der Medaillenränge. Was mich jedoch wunderte, war, dass der schnelle Brite nur auf Platz 2 lag. Er war heuer zwar auch nicht gar so schnell gewesen mit 3:06:21 h, für mich aber am heutigen Tag nicht erreichbar. Der Läufer auf Platz 3 hingegen lag mit 3:11:14 h gerade mal 25 Sekunden vor mir. Das wäre machbar gewesen. Leider kennt man seine Konkurrenten bei so einem Massenereignis ja nicht, so dass man auch kein Rennen „Mann gegen Mann“ austragen kann.[/font]
[font=&]Ich haderte dennoch nicht mit diesem Rückstand, denn letztes Jahr lag ich gerade einmal 30 Sekunden vor dem Zweiten und 34 Sekunden vor dem Dritten. Diesmal war’s eben umgekehrt, ich war einige Sekunden dahinter, und das war okay so. [/font]
[font=&]Der erste M65 jedoch, ein deutscher Teilnehmer, hatte eine ganz phantastische Zeit: 2:57:11 h netto. Das war fast wie von einem anderen Stern. Merkwürdig nur, dass er mit 3:11:36 h brutto weit hinten gestartet war. Ich klickte auf den Namen, um die Zwischenzeiten zu sehen. Tja, und das war’s: keine einzige Zwischenzeit! Ganz offensichtlich ein Betrüger also, der noch aus der Liste fliegen wird – mit dem Nebeneffekt, dass ich auf den 3. Platz vorrücken werde, also doch nicht undankbar.[/font]
[font=&]Aus altem Interesse heraus schaute ich mir noch die Liste der M60 an, so lange bin ich dieser AK ja nicht entflohen. Um’s kurz zu machen: Hier wiederholte sich das Spielchen: erneut ein Betrüger am Werk! Zwischenzeiten bis zum Halbmarathon verzeichnet, HM-Durchgang nach 1:55:03 h, dann ohne weitere Zwischenzeiten Endzeit von 2:57:08 h, hieße also 2. Hälfte in 1:02:05 h, für einen M60-er verdammt schnell![/font]
[font=&]Nun war ich neugierig geworden. Im Hotel angekommen, ging ich systematisch heran und rief nach und nach die AK-Listen auf, schaute nach den Zwischenzeiten der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Sieger und achtete bei den vorderen Plätzen auf große Abstände zwischen Brutto- und Nettozeit. Auch wenn, wie in so manchem Thread geschehen, einige sagen werden „Juckt mich nicht“, „Die betrügen sich nur selbst“ oder gar das als „Internet vollheulen“ klassifizieren, ich halte das Resultat für geradezu niederschmetternd. [/font]
[font=&]Bei den Männern sind die Sieger der M60, M65 und M70 allesamt Blender und Betrüger. Das ergibt sich eindeutig aus fehlenden oder nicht passenden Zwischenzeiten. Der 2. der M50 gehört ebenso in diese Kategorie. Bei den Frauen haben betrogen die ersten in W50 und W60 sowie die 2. W55. Das sind jetzt wie gesagt nur die ganz offensichtlichen Fälle auf den vorderen AK-Plätzen. [/font]
[font=&]Ich frage mich, wieso jemand aus Costa Rica anreist, nur um einmal über die Startlinie zu laufen, sich zum Ziel zu begeben und früh im Rennen über die Ziellinie zu laufen. Ebenso will es mir nicht in den Kopf, wie zwei Damen jenseits der 50 gemeinsam in 1:46,5 Stunden bis km 15 traben, um dann wiederum gemeinsam eine Stunde und 10 Minuten später die Ziellinie zu überqueren – ob Händchen haltend oder nicht, könnte wohl nur das Zielvideo zeigen.[/font]
[font=&]Was sind das für armselige, aber auch dumme und einfältige Zeitgenossen? Armselig, weil sie mit Betrug eine Leistung vortäuschen, zu der sie nicht fähig sind, und dumm und einfältig, weil sie so offensichtlich betrügen, dass es garantiert auffällt und sie aus der Liste fliegen werden. [/font]
[font=&]Ich verstehe aber auch die Veranstalter nicht, die solche ganz dreisten Fälle nicht sofort aus der Liste herausschmeißen. Das Zeitnahmeprogramm weist für die beiden Damen sogar eine hochgerechnete Zeit von 4:44:05 bei km 40 aus, gibt aber brav eine Endzeit an von 2:56:03 h mit einer Geschwindigkeit von -1.22 km/h. Was soll so ein Quatsch? Nicht ganz klar ist mir auch, wie jemand, der für lediglich 7 km mehr als 48 min braucht, überhaupt aus Startblock C starten kann. [/font]
[font=&]Nun mag man einwenden, dass das ja alles noch korrigiert wird. Stimmt! Aber Zeitungen, Zeitschriften oder Online-Listen übernehmen die ersten, unkorrigierten Ergebnisse der Veranstalter. In der Spiridon z. B. tauchen also die auf, die beschissen haben, nicht die wahren Sieger. Das widerspricht meinem Gefühl von Sportlichkeit und meinem Gerechtigkeitsempfinden. Dass Leute bescheißen, wird es immer geben, und es werden auch immer welche dabei sein, die das intelligent genug machen, so dass es nicht auffällt. Das lässt sich gar nicht verhindern. Ich denke aber, dass man die offensichtlichen Fälle sofort herausfiltern kann und sollte, vor allem wenn es zu so häufigen und krassen Beispielen kommt wie gezeigt.[/font]
[font=&]Erkenntnis[/font]
[font=&]Meine Frau scheuchte mich dann aber doch vom Smartphone weg, wir genossen den sonnigen Nachmittag, und nach einem üppigen und wohlschmeckenden Abendmahl legten wir uns zur verdienten Nachtruhe nieder. Nachts wachte ich auf. Da war es wieder, dieses nagende Geräusch. Nanu, auch hier in Berlin? Im Hotel? Vorsichtig, und um meine Frau nicht zu wecken, machte ich ein kleines Licht an. Und dann konnte ich endlich erkennen, was es war. [/font]
[font=&]Groß war er, bewegte sich hin und her, grinste mich an. Mir war schlagartig klar, dass er mich nie wieder verlassen würde, ständig in meiner Begleitung dabei, immer weiter wachsend. Er schmatzte an mir herum, in einem fort grinsend, ließ sich aber nicht von seiner Arbeit abhalten. Der riesengroße Zahn kaute weiter an mir herum. Da wusste ich: Es ist der Zahn der Zeit, der da unerbittlich an mir herumnagt…[/font]
[font=&]Bernd[/font]