Es ist nicht mehr so wie früher!
Verfasst: 20.11.2011, 19:30
Nicht nur Läufer, nein, auch Läufe haben eine Seele. –
Fehlt da nicht etwas? Doch, natürlich, da fehlt etwas! Ja, ja klar, auch Läuferinnen haben eine Seele. So viel correctness muss sein, insbesondere nachdem ich mich als SBO geoutet habe.
Aber zurück zur Laufseele. Dieser hier steht für ungemütlich, nasskalt, ist laufgewordener November-Herbst. Neusser E-r-f-t-l-a-u-f: Aus jedem Buchstaben triefen Regentropfen, aus jedem Vokal quillt Schlamm, jeder Konsonant mit Matsch überzogen.
Ich erinnere mich noch an 1993, als wäre es heute. Eiseskälte hatte das Land überfallen, Schnee und Eis überdeckten die Laufstrecke, ein sibirischer Wind pfiff durch dünne Baumwollshirts, Myriaden erfrorener, vom Himmel gefallener Vögel übertönten mit ihrem Schwarz in den Waldlichtungen das Grau des Eises, unzählige Kadaver verendeten Wildes säumten den Weg. Welch Glück, dass ich nicht mitgelaufen bin, sondern das nur aus den Schilderungen der Härtesten aller Harten kenne! So werden die Sagen und Legenden vom Großvater an den Vater, vom Vater an den Sohn, vom Sohn an den Enkel und immerfort weiter gegeben, auf dass der Mythos nie aussterbe.
Und wie sieht es heuer aus???
Regen? Fehlanzeige!
Wind? Kein Hauch!
Minusgrade? Nix da!
Stattdessen Sonne, herrlichstes Sommerwetter, milde läuferfreundliche Temperaturen! Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Das richtige Weichei-Wetter! So hatten sich denn auch etliche Forumsmitglieder in eine Liste eingetragen, um diesem Ereignis beizuwohnen.
L I S T E:
Voyeure & Kirchstreuselabteilung:
-
5km
-
15km
-
Doch als ich als am Zelt ankam, da waren da gerade mal der junge Mann, der am wenigsten nach Läufer aussieht und der, der versucht, das zu ändern und einen richtigen Läufer aus ihm zu machen, nämlich uli „nachlangerpause“ mit seiner Massage. Wo waren die anderen? Der andalusische Kampfstier? Miss Mika mit ihrem Gefolge? Undundund? Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Doch halt, einen hatte ich bereits vorher getroffen, einen „unreflektiert nachplappernden ultravorsichtigen Seniorenlaufratgeber“. Ich beabsichtigte folglich auch, mir Rat zu holen, erfuhr aber stattdessen viel über das Grauen in der Welt. Es wäre eine verkorkste Saison, die Zeiten im Eimer und überhaupt; ich versuchte vergeblich, Marcel aufzubauen.
So um die 400 Läufer fanden sich im Startblock ein, von denen 394 das Ziel erreichten. 1995 waren es 418 gewesen. Naja, fast so wie früher! Tja und dann ging’s los. Doch was war das denn? Erst mal ne Runde innen im Stadion und dann noch mal ne Außenrunde! O Mannomann! Das leicht holprige Anfangsstück im Reuschenberger Wald war geblieben, aber dann entfuhr es mir: „Potzblitz! Einfach ein Stück geklaut“, viel früher ging es über die Erft, naja, die weitere Strecke war dann fast gleich geblieben – mit Ausnahme des letzten Kilometer. Unverschämt sonnig und mild war es, so machte es richtig Spaß zu laufen. SPASS! Das ist der Erftlauf, Mann! Der hat nix mit SPASS zu tun. Wie soll man bei solchem Wetter als Laufmasochist auf seine Kosten kommen?
Unendliche Wehmut befiel mein Herz, als ich km-Schild 13 erreichte. Das hatten sie uns ja schon lange vorher genommen: km 13, da war es früher immer über die Eisenbahnbrücke gegangen. Wenn die Beine vom Schlamm verdreckt, das Gesicht vom schmutzigen Schweiß verwaschen, die Lungen leer gepumpt waren, dann schien sie sich regelrecht vor einem aufzubauen: die Brücke mit ihrem Mörderanstieg, Laktatpresse vor den finalen 2 Kilometern.
Legendär waren die Sagen, die sich um sie woben. Bereits etliche Meter vorher hörte man das Gehechel und Gestöhne derer, die sich zu ihrer Eroberung anschickten. Zungen hingen bis zum Boden, ja, einmal munkelte man gar, einer habe mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht werden müssen, weil er seine eigene Zunge platt getreten habe. Man berichtete von ehemaligen Läufern, die am Sterbebett flehten „Herr, lass mich über DIESE Brücke zu dir ein“ und von anderen, die mit Zwangsjacke in die Psychiatrie eingewiesen wurden, weil Peter Maffay sein Lied von den 7 Brücken, über die sie zu gehen hätten, angestimmt habe. „Einmal ja, aber sieben, sieben, nein, nicht sieben, das hält ja kein Mensch aus“, hätten sie immer wieder geschluchzt.
Schluss, aus, vorbei! Tempera mutantur, diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage schlendert man stattdessen fast topfeben dem Ziele entgegen, während die Schenkel doch nach Abwechslung lechzen. Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Und wo man seinerzeit im Stadion noch bis zum Gesäß in Schlamm und Regenwasser eintauchte, tänzelt man die letzten Meter auf trockenem Boden, und schwupp, ist es auch schon vorbei; kaum ist die Bügelfalte der Tight geknickt, und der leichte Schweiß rührt mehr vom Sonnenschein denn vom Geläuf her. Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Wie ich so meinen zweiten Becher Tee schlürfe, nehme ich plötzlich wahr, dass alle Augen sich auf einen sich langsam bewegenden Punkt fokussieren, und dann entdecke ich es auch: Ein Naturwunder! Eine lange Gestalt, die Augen gen Himmel verdreht, der Mund, leicht geöffnet, atmet Frieden und Seligkeit, aber das Bemerkenswerteste ist: Die Gestalt schwebt, ca. 20 cm Abstand zum Boden, nähert sich, langsam, aber kontinuierlich. Und dann sehe ich es, kein Zweifel, es ist Marcel. Unglaubliche, nicht erwartete 63 Minuten war er unterwegs, und nun ist er der Welt entrückt, für einige Stunden wenigstens. Selig sind die, o Herr, deren Beine du führest! Da gratuliert man doch gerne und empfiehlt den Herrn guten Gewissens alsSeniorenlaufratgeberweiter.
Wie es einem selbst ergangen ist? Nun ja, man kann nicht klagen. Der Platz? Symbolträchtig, sehr symbolträchtig! Die 15 km von Neuss habe ich dieses Jahr zum 15. Male bezwungen, da kann doch nur EIN Platz heraus springen, oder? Eben, Platz 15! Gut, in der Altersklasse war es etwas weiter vorne, aber 15. beim 15. Lauf über 15 km klingt doch gut, oder?
Und dennoch: Zuhause habe ich einen Spaten in die Hand genommen und die Ergebnisliste von 1995 (auf Papier, versteht sich!) ausgegraben. Und nun kommt’s, meine Damen und Herren, ladies and gentlemen, mesdames et messieurs, senoritas y senores, mit meiner Zeit von heute, auf Platz 15 wohlgemerkt, wäre ich vor 16 Jahren gerade mal 83. geworden. Dreiundachtzigster! Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, will ich auch verraten, wer DAMALS 83. war. Yes, es war burny! 1995 ganze 4 Sekunden langsamer und damit 12. der M45!
Es ist doch schön zu sehen, welch große Fortschritte die Laufszene gemacht hat durch all die Gels, Pulsuhren, ausgefeilte und ausgiebige Ess- und Trinkstrategien, HighTech-Funktionsgürtel für den Transport von 26 Gels und 18 Trinkflaschen, ohne die selbst ein läppischer Zehner nicht zu überstehen ist, Laufen nach HF, Leistungsdiagnostik und weiteren Firlefanz, von all den ausgeklügelten und konsequent verfolgten Trainingsplänen gar nicht erst zu reden.
Bei der Tombola gewann ich wie üblich nichts, und auch *cel, der – zwar immer noch mit entrücktem Blick, aber allmählich wieder in diese Welt eintauchend – war das Losglück nicht hold.
Als trauriger Ausklang begann dann auch unmittelbar nach der Tombola die Siegerehrung, die zügig vonstatten ging. ZÜGIG! Was waren das noch für Zeiten, als wir uns im spärlich beheizten Zelt den Arsch abgefroren haben und ewig und drei Tage auf Ergebnislisten und Ehrung gewartet haben. Die Erfahreneren hatten Isomatten, Zelte und Schlafsäcke dabei, um die Zeit bis Mitternacht oder zum nächsten Morgen zu überbrücken. Und jetzt: einfach so mirnichtsdirnichts dran und durch, keine Schulung des Durchhaltevermögens mehr. Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Bernd
Fehlt da nicht etwas? Doch, natürlich, da fehlt etwas! Ja, ja klar, auch Läuferinnen haben eine Seele. So viel correctness muss sein, insbesondere nachdem ich mich als SBO geoutet habe.
Aber zurück zur Laufseele. Dieser hier steht für ungemütlich, nasskalt, ist laufgewordener November-Herbst. Neusser E-r-f-t-l-a-u-f: Aus jedem Buchstaben triefen Regentropfen, aus jedem Vokal quillt Schlamm, jeder Konsonant mit Matsch überzogen.
Ich erinnere mich noch an 1993, als wäre es heute. Eiseskälte hatte das Land überfallen, Schnee und Eis überdeckten die Laufstrecke, ein sibirischer Wind pfiff durch dünne Baumwollshirts, Myriaden erfrorener, vom Himmel gefallener Vögel übertönten mit ihrem Schwarz in den Waldlichtungen das Grau des Eises, unzählige Kadaver verendeten Wildes säumten den Weg. Welch Glück, dass ich nicht mitgelaufen bin, sondern das nur aus den Schilderungen der Härtesten aller Harten kenne! So werden die Sagen und Legenden vom Großvater an den Vater, vom Vater an den Sohn, vom Sohn an den Enkel und immerfort weiter gegeben, auf dass der Mythos nie aussterbe.
Und wie sieht es heuer aus???
Regen? Fehlanzeige!
Wind? Kein Hauch!
Minusgrade? Nix da!
Stattdessen Sonne, herrlichstes Sommerwetter, milde läuferfreundliche Temperaturen! Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Das richtige Weichei-Wetter! So hatten sich denn auch etliche Forumsmitglieder in eine Liste eingetragen, um diesem Ereignis beizuwohnen.
L I S T E:
Voyeure & Kirchstreuselabteilung:
-
5km
-
15km
-
Doch als ich als am Zelt ankam, da waren da gerade mal der junge Mann, der am wenigsten nach Läufer aussieht und der, der versucht, das zu ändern und einen richtigen Läufer aus ihm zu machen, nämlich uli „nachlangerpause“ mit seiner Massage. Wo waren die anderen? Der andalusische Kampfstier? Miss Mika mit ihrem Gefolge? Undundund? Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Doch halt, einen hatte ich bereits vorher getroffen, einen „unreflektiert nachplappernden ultravorsichtigen Seniorenlaufratgeber“. Ich beabsichtigte folglich auch, mir Rat zu holen, erfuhr aber stattdessen viel über das Grauen in der Welt. Es wäre eine verkorkste Saison, die Zeiten im Eimer und überhaupt; ich versuchte vergeblich, Marcel aufzubauen.
So um die 400 Läufer fanden sich im Startblock ein, von denen 394 das Ziel erreichten. 1995 waren es 418 gewesen. Naja, fast so wie früher! Tja und dann ging’s los. Doch was war das denn? Erst mal ne Runde innen im Stadion und dann noch mal ne Außenrunde! O Mannomann! Das leicht holprige Anfangsstück im Reuschenberger Wald war geblieben, aber dann entfuhr es mir: „Potzblitz! Einfach ein Stück geklaut“, viel früher ging es über die Erft, naja, die weitere Strecke war dann fast gleich geblieben – mit Ausnahme des letzten Kilometer. Unverschämt sonnig und mild war es, so machte es richtig Spaß zu laufen. SPASS! Das ist der Erftlauf, Mann! Der hat nix mit SPASS zu tun. Wie soll man bei solchem Wetter als Laufmasochist auf seine Kosten kommen?
Unendliche Wehmut befiel mein Herz, als ich km-Schild 13 erreichte. Das hatten sie uns ja schon lange vorher genommen: km 13, da war es früher immer über die Eisenbahnbrücke gegangen. Wenn die Beine vom Schlamm verdreckt, das Gesicht vom schmutzigen Schweiß verwaschen, die Lungen leer gepumpt waren, dann schien sie sich regelrecht vor einem aufzubauen: die Brücke mit ihrem Mörderanstieg, Laktatpresse vor den finalen 2 Kilometern.
Legendär waren die Sagen, die sich um sie woben. Bereits etliche Meter vorher hörte man das Gehechel und Gestöhne derer, die sich zu ihrer Eroberung anschickten. Zungen hingen bis zum Boden, ja, einmal munkelte man gar, einer habe mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht werden müssen, weil er seine eigene Zunge platt getreten habe. Man berichtete von ehemaligen Läufern, die am Sterbebett flehten „Herr, lass mich über DIESE Brücke zu dir ein“ und von anderen, die mit Zwangsjacke in die Psychiatrie eingewiesen wurden, weil Peter Maffay sein Lied von den 7 Brücken, über die sie zu gehen hätten, angestimmt habe. „Einmal ja, aber sieben, sieben, nein, nicht sieben, das hält ja kein Mensch aus“, hätten sie immer wieder geschluchzt.
Schluss, aus, vorbei! Tempera mutantur, diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage schlendert man stattdessen fast topfeben dem Ziele entgegen, während die Schenkel doch nach Abwechslung lechzen. Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Und wo man seinerzeit im Stadion noch bis zum Gesäß in Schlamm und Regenwasser eintauchte, tänzelt man die letzten Meter auf trockenem Boden, und schwupp, ist es auch schon vorbei; kaum ist die Bügelfalte der Tight geknickt, und der leichte Schweiß rührt mehr vom Sonnenschein denn vom Geläuf her. Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Wie ich so meinen zweiten Becher Tee schlürfe, nehme ich plötzlich wahr, dass alle Augen sich auf einen sich langsam bewegenden Punkt fokussieren, und dann entdecke ich es auch: Ein Naturwunder! Eine lange Gestalt, die Augen gen Himmel verdreht, der Mund, leicht geöffnet, atmet Frieden und Seligkeit, aber das Bemerkenswerteste ist: Die Gestalt schwebt, ca. 20 cm Abstand zum Boden, nähert sich, langsam, aber kontinuierlich. Und dann sehe ich es, kein Zweifel, es ist Marcel. Unglaubliche, nicht erwartete 63 Minuten war er unterwegs, und nun ist er der Welt entrückt, für einige Stunden wenigstens. Selig sind die, o Herr, deren Beine du führest! Da gratuliert man doch gerne und empfiehlt den Herrn guten Gewissens alsSeniorenlaufratgeberweiter.
Wie es einem selbst ergangen ist? Nun ja, man kann nicht klagen. Der Platz? Symbolträchtig, sehr symbolträchtig! Die 15 km von Neuss habe ich dieses Jahr zum 15. Male bezwungen, da kann doch nur EIN Platz heraus springen, oder? Eben, Platz 15! Gut, in der Altersklasse war es etwas weiter vorne, aber 15. beim 15. Lauf über 15 km klingt doch gut, oder?
Und dennoch: Zuhause habe ich einen Spaten in die Hand genommen und die Ergebnisliste von 1995 (auf Papier, versteht sich!) ausgegraben. Und nun kommt’s, meine Damen und Herren, ladies and gentlemen, mesdames et messieurs, senoritas y senores, mit meiner Zeit von heute, auf Platz 15 wohlgemerkt, wäre ich vor 16 Jahren gerade mal 83. geworden. Dreiundachtzigster! Nein, es ist nicht mehr so wie früher! Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, will ich auch verraten, wer DAMALS 83. war. Yes, es war burny! 1995 ganze 4 Sekunden langsamer und damit 12. der M45!
Es ist doch schön zu sehen, welch große Fortschritte die Laufszene gemacht hat durch all die Gels, Pulsuhren, ausgefeilte und ausgiebige Ess- und Trinkstrategien, HighTech-Funktionsgürtel für den Transport von 26 Gels und 18 Trinkflaschen, ohne die selbst ein läppischer Zehner nicht zu überstehen ist, Laufen nach HF, Leistungsdiagnostik und weiteren Firlefanz, von all den ausgeklügelten und konsequent verfolgten Trainingsplänen gar nicht erst zu reden.
Bei der Tombola gewann ich wie üblich nichts, und auch *cel, der – zwar immer noch mit entrücktem Blick, aber allmählich wieder in diese Welt eintauchend – war das Losglück nicht hold.
Als trauriger Ausklang begann dann auch unmittelbar nach der Tombola die Siegerehrung, die zügig vonstatten ging. ZÜGIG! Was waren das noch für Zeiten, als wir uns im spärlich beheizten Zelt den Arsch abgefroren haben und ewig und drei Tage auf Ergebnislisten und Ehrung gewartet haben. Die Erfahreneren hatten Isomatten, Zelte und Schlafsäcke dabei, um die Zeit bis Mitternacht oder zum nächsten Morgen zu überbrücken. Und jetzt: einfach so mirnichtsdirnichts dran und durch, keine Schulung des Durchhaltevermögens mehr. Nein, es ist nicht mehr so wie früher!
Bernd