Wie es sich anfühlt, dem Streckenrekordhalter davonzulaufen…
Verfasst: 08.07.2013, 09:08
Ich bin eine faule Sau geworden. Seit dem Marathon in Düsseldorf hab ich erstmal relaxt, bin den einen oder anderen Zehner gelaufen, verspürte dabei aber keinerlei Lust, mich so richtig anzustrengen. Dementsprechend waren die Ergebnisse: 39:30, 40:09 und als Höhepunkt bei einem Staffelmarathon dann 40:42. Okay, ich sollte später in einer anderen Staffel noch mal 5 km laufen, aber es war schon – nun ja – eher dahin gejoggt.
Es gibt so Läufe, da sag ich mir, den solltest du eigentlich mal unter die Füße nehmen. Der Halbmarathon in Himmelgeist – das ist ein eingemeindetes Dörflein in Düsseldorf – ist so einer. Jahrelang passte das terminlich nicht, dieses Jahr dann aber doch. Da hatte ich mich, weil der, das hatte ich zumindest mitbekommen, immer weit vorm Termin ausgebucht ist, vor zig Monaten mal angemeldet.
Blöd war nur, was sich natürlich erst später herausstellte, dass ausgerechnet am Tag davor ein Freiluftkonzert, sogar unentgeltlich (hört, hört!), bei uns im Ort stattfand. Da in einer weit verstreuten 60.000-Seelen-Gemeinde keine New Yorker Verhältnisse herrschen (hier wird sehr wohl des Nachts „gesleept“, und das eher früher als später), ist das durchaus eine Art Stadt-Highlight, wo man sich so trifft und das Ganze dann in einem mehr oder minder großen Besäufnis ausartet.
Das passt natürlich nicht zu einem Wettkampf, der zu allem Übel auch noch um 8 Uhr beginnt, was Aufstehen kurz nach Geisterstunde bedeutet. Faule Sau, ja! Das konnte ich noch akzeptieren, aber Saufen und morgens nicht Hochkommen, ne, das wäre dann doch zu viel gewesen! Also 1 Bier, 2 Radler, Abschied von der Holden und den Freunden und dann frühzeitig per Rad nach Haus, Heia machen!
Ich wurde morgens rechtzeitig wach, ich stand auf, ich machte mich fertig, fuhr mit dem Auto zum Uni-Parkplatz 2, von dort weiter mit dem Bus und traf im Startbereich ein, um leicht schlaftrunken von der Seite angequatscht zu werden: Na, da hatte sich ja schon eine ganze Meute Forenmitglieder eingefunden: M@rtin, Ralph ‚corriere’, Heiko ‚schmittipaldi’, Markce, Steffenlauf, der sich als Zug’roaster (wie ich auch einer bin) entpuppte, und wohl noch etliche, die meiner Erinnerung entwichen sind. Hach ja, es wurde noch bewundert, dass jemand aus einer Stadt ohne ordentlichen Flughafen, dafür arm, aber sexy, den Weg zu diesem Megaereignis finden wollte, und spekuliert, ob sie denn zu identifizieren sein würde und – schwups – tauchte Ulrike ‚harriersand’ auf, dem Laufe hauptstädtischen Glanz zu verleihen.
Wettermäßig wäre es durchaus möglich gewesen, dass jemanden an diesem Morgen fröstelte. Dies hätte allerdings einen Gendefekt vorausgesetzt, denn Läufer oder auch Nichtläufer ohne diese biologische Verirrung wären geneigt gewesen, die Temperatur eher als warm zu bezeichnen, wobei selbst das im direkten Einflussbereich der Sonne als Euphemismus durchginge.
Nun waren also traulich vereint: ein warmer, sonniger Samstagmorgen, ein großer Haufen Bekloppter die, statt sich im Bett umzudrehen durch die Pampa rennen wollten, und unter ihnen ein zur faulen Sau mutierter Schlaffi, der sich in kontemplativen Ergüssen die Sinnfrage stellte und wohin das heute noch führen würde. Die Erwartung hatte ich angesichts der letzten Ergebnisse rechtzeitig herunter geschraubt: 1:28, ja, das sollte drin sein, das wäre auch kein unangemessener Erfolgsdruck, dem ich mich aussetzen würde.
…Nach knapp einem Kilometer meinte ich, eine Fata Morgana zu erleben: Da schob sich ein grünes Irland-Trikot langsam vor mich mit einem Inhalt, den ich längst weit vor mir wähnte. Aus welchem Grund auch immer hatte Heiko sich wohl für die das-Feld-langsam-von-ganz-hinten-aufroll-und-dann-abzock-Variante entschieden. Wie’s ausging: wait for the end!
Zwischen Start und km 1 war in Gegenrichtung das Schild 20 zu sehen, zwischen km 1 und 2 das Schild 19, zwischen 2 und 3 die 18. Die ersten 3 Kilometer waren sonnenbeschienen, warm war’s, aber (noch) erträglich. Ich entwarf Ablenkungsstrategien. Als ich die 19 sah, grübelte ich so vor mich hin: noch 18 km, bis du hier wieder vorbeikommst; bei der 18: noch 16 km für das Wiedersehen. Das Warten auf die 17 (noch 14 bis zur Rückkehr) war angenehm, denn direkt in einer Kurve lächelte das km-Schild 3, und danach ging es erstmal durch einen schön schattigen Bereich, welch eine Wohltat!
Leider war letztere nicht von langer Dauer, denn nach knapp einem Kilometer erfolgte ein leichter Anstieg auf die Fleher Brücke, und dort wurde die A46 freundlich vom Sonnengott begrüßt. Hier war auch ein vorläufiges Ende des gemeinsamen Hin- und Rückweges erreicht, denn hinter der Brücke wurde linksrheinisch bis zur nächsten, der Südbrücke, gelaufen, die erneut zu überqueren war, bevor die Strecke abschließend rechtsrheinisch zurück zum Ziel führen sollte. Noch war es aber lange nicht so weit. Als nächstes tauchte erstmal kurz vor Brückenende das 5-er Schild auf. Eine gute Gelegenheit, die Zeit zu checken! Oh, 20:40, das war ja ein Schnitt von 4:08. Sollte da heute doch noch etwas mehr gehen?
Auf der Brücke hatte ich 2 Läufer überholt, von denen einer im roten Dress des SFD 75 Düsseldorf sich anschickte, mich kurz danach wieder zu passieren. Das hämische Grinsen, dessen ich nun gewahr wurde, stammte allerdings nicht von dem Wettkämpfer, sondern kam von höherer Stelle. „Wart’ nur, Jungchen“, dröhnte es über mir, „dir werde ich schon gehörig den Pelz wärmen.“ Die nächsten km sollten nämlich schattenlos und damit in voller Sonne verlaufen. Mein rot bedresster Läufer, der von einer Radfahrerin permanent und einer zweiten, die wohl vereinsinterne Kommunikationsaufgaben wahrnahm, temporär begleitet wurde, hatte sich vor mich gesetzt, aber irgendwann war ich wieder dran und vorbei.
Sobald wir durch bewohntes Gebiet kamen, wechselte ich nach rechts auf den Bürgersteig, um dort etwas kühlenden Schatten zu erhaschen, und wunderte mich, wieso die meisten Läufer sich in der Straßenmitte voll der Sonne aussetzten. An jeder Verpflegungsstation – deren gab es reichlich – rief ich im Voraus fragend „Wasser?“, da ich mir zwecks Kühlung stets einen Becher übers Haupt schüttete und nicht gerne als cola-verklebter Insektenfang dienen wollte.
Km 10: 41:20, das sah ja noch richtig gut aus! Ein bisschen Rechnen: zweiter Zehner in 42:30, macht unter 1:24, das ergibt eine sichere 1:28, mit ein wenig Kampf auch drunter. – Dachte ich! Das Rennen sah ja auch gut aus, denn nun spendete eine Art Allee mit kräftigen Bäumen wohltuenden Schatten. Da die Luft selbst gar nicht mal so heiß war, ließ es sich angenehm laufen. Die Südbrücke sah ich immer näher über mir, und plötzlich musste ich nach links abbiegen, um in einem heftigen, knackigen Anstieg auf die Brücke einzuschwenken und sie zu überqueren. Wie knackig der Anstieg war, konnte ich später in der Auswertung erfahren, denn dies war mit 4:25 der langsamste km von allen.
Der Läufergott meinte es gut mit mir und den anderen Läufern, denn weiterhin barg der auch auf der rechten Rheinseite vorhandene Baumbestand Schutz vor der wärmer werdenden Sonne. Das Feld hatte sich mittlerweile ziemlich auseinander gezogen. 2 oder 3 Läufer sah ich noch vor mir, hinter mir war ebenfalls ein größerer Abstand entstanden. Doch plötzlich hörte ich Geräusche hinter mir. Läuferschritte? Pferdefuhrwerk? Nein, mit geringer werdendem Abstand wurde klar: Da war mir jemand auf den Fersen. Es dauerte auch nicht lange, bis ein Läufer neben mir auftauchte. Ich rief ihm noch ein aufmunterndes „Stark!“ zu und erfasste erneut das rote Dress. Tatsächlich, da hatte sich mein Konkurrent von vor einigen Kilometern doch wieder heran- und vorbei gekämpft.
Ich ging davon aus, dass der Rotbedresste sich nun zügig absetzen würde, aber als sei er als mein persönlicher Bodyguard abkommandiert, schien der Läufer nun etwas Tempo herauszunehmen, so dass ich dranbleiben konnte und nach vielleicht einem halben Kilometer erneut die Führung übernahm. Diese Reihenfolge blieb dann auch bis zum Ziel. In der Ergebnisliste konnte ich später sehen, dass mein Mitläufer auf den letzten 5 – 6 km noch knapp über 2 Minuten verloren hat, immerhin fast 500 Meter. Was ich da auch sah, war, dass ich tatsächlich den Streckenrekordhalter geschlagen habe. 1:12:44 h, erzielt im Jahre 2009. (André Pollmächer, der diesmal mitgelaufen ist, war sogar 3 Minuten langsamer.) Sowas passiert mir ja nun auch nicht alle Tage, und dabei liegen wir um 7 Altersklassen auseinander.
Aber zurück zum Rennen! Der schöne Schatten war mittlerweile auch Vergangenheit, und die letzten km sollten nahezu ungeschützt in der zunehmend aufheizenden Sonne gelaufen werden. Ich lief konstant mein Rennen weiter, die Abstände zu den Läufern, die ich sehen konnte, veränderten sich kaum, ja, wurden teilweise geringer. Gefühlt sollte das Tempo gleich geblieben sein. – Dachte ich! Meine Uhr lehrte mich etwas anderes. Nach jedem weiteren km-Schild sprangen die Sekunden um ca. 20 weiter. Ich war folglich klar langsamer geworden. Mittlerweile spekulierte ich, ob die mal angedachten 1:28 noch zu halten wären. Es wurde knapper und knapper.
Etwas anderes bereitete mir zunehmend Sorge. Das war mein rechter Oberschenkel, den ich seit einigen km immer deutlicher spürte. Unangenehm und schmerzhaft spürte! Hier sollte ich einfügen, dass dies keine gänzlich neue Erkenntnis war. Seit dem Düsseldorf-Marathon oder genau genommen bereits davor hatten sich meine hinteren Oberschenkel bemerkbar gemacht. Im Sitzen verspürte ich ein Ziehen, wenn ich mich nach vorne beugte, und beim Laufen merkte ich ebenfalls ein Ziehen, je schneller die gelaufene Einheit war. Ein klein wenig hatte meine Mutation zur faulen Sau auch damit zu tun, dass mich die hintere Oberschenkelmuskulatur zumindest vom Kopf her etwas ausbremste.
Km 17, km 18, km 19: jedes km-Schild, das mich dem Ziel näher brachte, begrüßte ich freudig und in Erwartung des baldigen Endes. Mit jedem km rutschte aber auch meine Zeitprognose nach oben, und mit jedem km machte sich der rechte Oberschenkel stärker und unangenehmer bemerkbar. In den letzten Wochen war immer das linke Bein das stärker beeinträchtigte gewesen, aber das linke war heute brav. Zur Abwechslung, möglicherweise auch durch eine unbewusste Schonhaltung verursacht, war diesmal der rechte rückwärtige Muskel der Störenfried.
Als ich am km-Schild 20 vorbei war, dachte ich, nun bist du bald drin. Wenn’s mit der 1:28 noch was werden soll, dann musst du noch mal richtig Gas geben. Das tat ich, soweit da noch was zu geben war. Schon lief ich unter dem Startbanner durch und wusste, dass es nicht mehr weit sein konnte. Beim Einlaufen hatte ich vorher in einer nach rechts abgehenden Seitenstraße das Ziel bereits gesehen. Aber was war das denn? Da standen ja die Zuschauer herum, so dass ich gar nicht hindurch kam. „Wo geht’s weiter?“ rief ich irritiert. „Nach links“, zeigten mir zahlreiche Arme den Weg. Jetzt erkannte ich auch, dass die Hütchen, mit denen die Laufstrecke markiert war, nach links wiesen. Also noch ein Umweg!
Und noch mal abbiegen, und noch mal! Ja, verdammt noch mal! Wann kommt denn nun endlich das Ziel? Denn mittlerweile gierte ich schon ziemlich danach, endlich Schluss machen zu können! Nach einer erneuten Biegung meinte ich, am Ende die Seitenstraße mit dem Ziel erkennen zu können. Ich versuchte, noch einen Tick zuzulegen.
Ca. 300 m vor dem Ziel passierte es. Ich verspürte einen plötzlichen, heftigen Schmerz rechts hinten im Oberschenkel. Ja genau der, der mir Sorgen gemacht hatte! Im ersten Moment dachte ich, ein Krampf kündige sich an. Ich habe noch nie einen Krampf gehabt. Das musste doch nun wirklich nicht so kurz vorm Ziel sein! Ich hatte sofort, als ich den Schmerz spürte, notgedrungen und instinktiv das Tempo reduziert, wollte aber nicht stehen bleiben und auch nicht ins Ziel gehen. Mit vermindertem Tempo und einer Art Humpellauf erreichte ich den Abzweig zu der Seitenstraße, und richtig, in dieser war dort hinten tatsächlich das Ziel aufgebaut.
Halb humpelnd, halb laufend bewegte ich mich am letzten km-Schild vorbei, und nach weiteren 100 m hatte ich endlich das Ziel erreicht. Mit 1:29:01 h war das einer meiner langsamsten Halbmarathonläufe, ein bisschen ärgere ich mich, dass ich durch das Schlussdrama die entscheidenden 2 oder mehr Sekunden verloren habe, aber andererseits bin ich doch zufrieden, dass ich wenigstens einigermaßen das Ziel durchlaufen konnte.
Während ich erschöpft und mein Bein massierend herum lungerte, trank Heiko wohl sein 8. oder 9. Erdinger bleifrei. Jedenfalls hätte ihm das sein phänomenal erzielter 6. Gesamtplatz rein zeitlich bestimmt ermöglicht. Obwohl: der Figur und damit dem Fassungsvermögen seines Magens nach werden es wohl doch weniger gewesen sein. Nur wenige Sekunden später gesellten sich dann Ralph, der heute offensichtlich „nur“ einen Trainingslauf absolviert hatte, sowie nach und nach weitere Foris dazu. Da für den Nachmittag die Einlösung eines Geschenkgutscheins für eine Kutschfahrt durchs Dycker Ländchen anstand, machte ich mich zeitig vom Acker, um meine Frau nicht in unnötige Unruhe zu versetzen.
Auch zwei Tage später ist normales Gehen nicht möglich bzw. nur schmerzhaft. Mal sehen, was das ist und wie lange das andauert. Die Vorbereitung für den Jungfraumarathon werde ich wohl anpassen, vielleicht sogar streichen müssen. Aber wer weiß: wenn mir das Malheur nicht in diesem Halbmarathon passiert wäre, dann vielleicht bei einer härteren Trainingseinheit oder in einem anderen Wettkampf.
Bernd
Es gibt so Läufe, da sag ich mir, den solltest du eigentlich mal unter die Füße nehmen. Der Halbmarathon in Himmelgeist – das ist ein eingemeindetes Dörflein in Düsseldorf – ist so einer. Jahrelang passte das terminlich nicht, dieses Jahr dann aber doch. Da hatte ich mich, weil der, das hatte ich zumindest mitbekommen, immer weit vorm Termin ausgebucht ist, vor zig Monaten mal angemeldet.
Blöd war nur, was sich natürlich erst später herausstellte, dass ausgerechnet am Tag davor ein Freiluftkonzert, sogar unentgeltlich (hört, hört!), bei uns im Ort stattfand. Da in einer weit verstreuten 60.000-Seelen-Gemeinde keine New Yorker Verhältnisse herrschen (hier wird sehr wohl des Nachts „gesleept“, und das eher früher als später), ist das durchaus eine Art Stadt-Highlight, wo man sich so trifft und das Ganze dann in einem mehr oder minder großen Besäufnis ausartet.
Das passt natürlich nicht zu einem Wettkampf, der zu allem Übel auch noch um 8 Uhr beginnt, was Aufstehen kurz nach Geisterstunde bedeutet. Faule Sau, ja! Das konnte ich noch akzeptieren, aber Saufen und morgens nicht Hochkommen, ne, das wäre dann doch zu viel gewesen! Also 1 Bier, 2 Radler, Abschied von der Holden und den Freunden und dann frühzeitig per Rad nach Haus, Heia machen!
Ich wurde morgens rechtzeitig wach, ich stand auf, ich machte mich fertig, fuhr mit dem Auto zum Uni-Parkplatz 2, von dort weiter mit dem Bus und traf im Startbereich ein, um leicht schlaftrunken von der Seite angequatscht zu werden: Na, da hatte sich ja schon eine ganze Meute Forenmitglieder eingefunden: M@rtin, Ralph ‚corriere’, Heiko ‚schmittipaldi’, Markce, Steffenlauf, der sich als Zug’roaster (wie ich auch einer bin) entpuppte, und wohl noch etliche, die meiner Erinnerung entwichen sind. Hach ja, es wurde noch bewundert, dass jemand aus einer Stadt ohne ordentlichen Flughafen, dafür arm, aber sexy, den Weg zu diesem Megaereignis finden wollte, und spekuliert, ob sie denn zu identifizieren sein würde und – schwups – tauchte Ulrike ‚harriersand’ auf, dem Laufe hauptstädtischen Glanz zu verleihen.
Wettermäßig wäre es durchaus möglich gewesen, dass jemanden an diesem Morgen fröstelte. Dies hätte allerdings einen Gendefekt vorausgesetzt, denn Läufer oder auch Nichtläufer ohne diese biologische Verirrung wären geneigt gewesen, die Temperatur eher als warm zu bezeichnen, wobei selbst das im direkten Einflussbereich der Sonne als Euphemismus durchginge.
Nun waren also traulich vereint: ein warmer, sonniger Samstagmorgen, ein großer Haufen Bekloppter die, statt sich im Bett umzudrehen durch die Pampa rennen wollten, und unter ihnen ein zur faulen Sau mutierter Schlaffi, der sich in kontemplativen Ergüssen die Sinnfrage stellte und wohin das heute noch führen würde. Die Erwartung hatte ich angesichts der letzten Ergebnisse rechtzeitig herunter geschraubt: 1:28, ja, das sollte drin sein, das wäre auch kein unangemessener Erfolgsdruck, dem ich mich aussetzen würde.
…Nach knapp einem Kilometer meinte ich, eine Fata Morgana zu erleben: Da schob sich ein grünes Irland-Trikot langsam vor mich mit einem Inhalt, den ich längst weit vor mir wähnte. Aus welchem Grund auch immer hatte Heiko sich wohl für die das-Feld-langsam-von-ganz-hinten-aufroll-und-dann-abzock-Variante entschieden. Wie’s ausging: wait for the end!
Zwischen Start und km 1 war in Gegenrichtung das Schild 20 zu sehen, zwischen km 1 und 2 das Schild 19, zwischen 2 und 3 die 18. Die ersten 3 Kilometer waren sonnenbeschienen, warm war’s, aber (noch) erträglich. Ich entwarf Ablenkungsstrategien. Als ich die 19 sah, grübelte ich so vor mich hin: noch 18 km, bis du hier wieder vorbeikommst; bei der 18: noch 16 km für das Wiedersehen. Das Warten auf die 17 (noch 14 bis zur Rückkehr) war angenehm, denn direkt in einer Kurve lächelte das km-Schild 3, und danach ging es erstmal durch einen schön schattigen Bereich, welch eine Wohltat!
Leider war letztere nicht von langer Dauer, denn nach knapp einem Kilometer erfolgte ein leichter Anstieg auf die Fleher Brücke, und dort wurde die A46 freundlich vom Sonnengott begrüßt. Hier war auch ein vorläufiges Ende des gemeinsamen Hin- und Rückweges erreicht, denn hinter der Brücke wurde linksrheinisch bis zur nächsten, der Südbrücke, gelaufen, die erneut zu überqueren war, bevor die Strecke abschließend rechtsrheinisch zurück zum Ziel führen sollte. Noch war es aber lange nicht so weit. Als nächstes tauchte erstmal kurz vor Brückenende das 5-er Schild auf. Eine gute Gelegenheit, die Zeit zu checken! Oh, 20:40, das war ja ein Schnitt von 4:08. Sollte da heute doch noch etwas mehr gehen?
Auf der Brücke hatte ich 2 Läufer überholt, von denen einer im roten Dress des SFD 75 Düsseldorf sich anschickte, mich kurz danach wieder zu passieren. Das hämische Grinsen, dessen ich nun gewahr wurde, stammte allerdings nicht von dem Wettkämpfer, sondern kam von höherer Stelle. „Wart’ nur, Jungchen“, dröhnte es über mir, „dir werde ich schon gehörig den Pelz wärmen.“ Die nächsten km sollten nämlich schattenlos und damit in voller Sonne verlaufen. Mein rot bedresster Läufer, der von einer Radfahrerin permanent und einer zweiten, die wohl vereinsinterne Kommunikationsaufgaben wahrnahm, temporär begleitet wurde, hatte sich vor mich gesetzt, aber irgendwann war ich wieder dran und vorbei.
Sobald wir durch bewohntes Gebiet kamen, wechselte ich nach rechts auf den Bürgersteig, um dort etwas kühlenden Schatten zu erhaschen, und wunderte mich, wieso die meisten Läufer sich in der Straßenmitte voll der Sonne aussetzten. An jeder Verpflegungsstation – deren gab es reichlich – rief ich im Voraus fragend „Wasser?“, da ich mir zwecks Kühlung stets einen Becher übers Haupt schüttete und nicht gerne als cola-verklebter Insektenfang dienen wollte.
Km 10: 41:20, das sah ja noch richtig gut aus! Ein bisschen Rechnen: zweiter Zehner in 42:30, macht unter 1:24, das ergibt eine sichere 1:28, mit ein wenig Kampf auch drunter. – Dachte ich! Das Rennen sah ja auch gut aus, denn nun spendete eine Art Allee mit kräftigen Bäumen wohltuenden Schatten. Da die Luft selbst gar nicht mal so heiß war, ließ es sich angenehm laufen. Die Südbrücke sah ich immer näher über mir, und plötzlich musste ich nach links abbiegen, um in einem heftigen, knackigen Anstieg auf die Brücke einzuschwenken und sie zu überqueren. Wie knackig der Anstieg war, konnte ich später in der Auswertung erfahren, denn dies war mit 4:25 der langsamste km von allen.
Der Läufergott meinte es gut mit mir und den anderen Läufern, denn weiterhin barg der auch auf der rechten Rheinseite vorhandene Baumbestand Schutz vor der wärmer werdenden Sonne. Das Feld hatte sich mittlerweile ziemlich auseinander gezogen. 2 oder 3 Läufer sah ich noch vor mir, hinter mir war ebenfalls ein größerer Abstand entstanden. Doch plötzlich hörte ich Geräusche hinter mir. Läuferschritte? Pferdefuhrwerk? Nein, mit geringer werdendem Abstand wurde klar: Da war mir jemand auf den Fersen. Es dauerte auch nicht lange, bis ein Läufer neben mir auftauchte. Ich rief ihm noch ein aufmunterndes „Stark!“ zu und erfasste erneut das rote Dress. Tatsächlich, da hatte sich mein Konkurrent von vor einigen Kilometern doch wieder heran- und vorbei gekämpft.
Ich ging davon aus, dass der Rotbedresste sich nun zügig absetzen würde, aber als sei er als mein persönlicher Bodyguard abkommandiert, schien der Läufer nun etwas Tempo herauszunehmen, so dass ich dranbleiben konnte und nach vielleicht einem halben Kilometer erneut die Führung übernahm. Diese Reihenfolge blieb dann auch bis zum Ziel. In der Ergebnisliste konnte ich später sehen, dass mein Mitläufer auf den letzten 5 – 6 km noch knapp über 2 Minuten verloren hat, immerhin fast 500 Meter. Was ich da auch sah, war, dass ich tatsächlich den Streckenrekordhalter geschlagen habe. 1:12:44 h, erzielt im Jahre 2009. (André Pollmächer, der diesmal mitgelaufen ist, war sogar 3 Minuten langsamer.) Sowas passiert mir ja nun auch nicht alle Tage, und dabei liegen wir um 7 Altersklassen auseinander.
Aber zurück zum Rennen! Der schöne Schatten war mittlerweile auch Vergangenheit, und die letzten km sollten nahezu ungeschützt in der zunehmend aufheizenden Sonne gelaufen werden. Ich lief konstant mein Rennen weiter, die Abstände zu den Läufern, die ich sehen konnte, veränderten sich kaum, ja, wurden teilweise geringer. Gefühlt sollte das Tempo gleich geblieben sein. – Dachte ich! Meine Uhr lehrte mich etwas anderes. Nach jedem weiteren km-Schild sprangen die Sekunden um ca. 20 weiter. Ich war folglich klar langsamer geworden. Mittlerweile spekulierte ich, ob die mal angedachten 1:28 noch zu halten wären. Es wurde knapper und knapper.
Etwas anderes bereitete mir zunehmend Sorge. Das war mein rechter Oberschenkel, den ich seit einigen km immer deutlicher spürte. Unangenehm und schmerzhaft spürte! Hier sollte ich einfügen, dass dies keine gänzlich neue Erkenntnis war. Seit dem Düsseldorf-Marathon oder genau genommen bereits davor hatten sich meine hinteren Oberschenkel bemerkbar gemacht. Im Sitzen verspürte ich ein Ziehen, wenn ich mich nach vorne beugte, und beim Laufen merkte ich ebenfalls ein Ziehen, je schneller die gelaufene Einheit war. Ein klein wenig hatte meine Mutation zur faulen Sau auch damit zu tun, dass mich die hintere Oberschenkelmuskulatur zumindest vom Kopf her etwas ausbremste.
Km 17, km 18, km 19: jedes km-Schild, das mich dem Ziel näher brachte, begrüßte ich freudig und in Erwartung des baldigen Endes. Mit jedem km rutschte aber auch meine Zeitprognose nach oben, und mit jedem km machte sich der rechte Oberschenkel stärker und unangenehmer bemerkbar. In den letzten Wochen war immer das linke Bein das stärker beeinträchtigte gewesen, aber das linke war heute brav. Zur Abwechslung, möglicherweise auch durch eine unbewusste Schonhaltung verursacht, war diesmal der rechte rückwärtige Muskel der Störenfried.
Als ich am km-Schild 20 vorbei war, dachte ich, nun bist du bald drin. Wenn’s mit der 1:28 noch was werden soll, dann musst du noch mal richtig Gas geben. Das tat ich, soweit da noch was zu geben war. Schon lief ich unter dem Startbanner durch und wusste, dass es nicht mehr weit sein konnte. Beim Einlaufen hatte ich vorher in einer nach rechts abgehenden Seitenstraße das Ziel bereits gesehen. Aber was war das denn? Da standen ja die Zuschauer herum, so dass ich gar nicht hindurch kam. „Wo geht’s weiter?“ rief ich irritiert. „Nach links“, zeigten mir zahlreiche Arme den Weg. Jetzt erkannte ich auch, dass die Hütchen, mit denen die Laufstrecke markiert war, nach links wiesen. Also noch ein Umweg!
Und noch mal abbiegen, und noch mal! Ja, verdammt noch mal! Wann kommt denn nun endlich das Ziel? Denn mittlerweile gierte ich schon ziemlich danach, endlich Schluss machen zu können! Nach einer erneuten Biegung meinte ich, am Ende die Seitenstraße mit dem Ziel erkennen zu können. Ich versuchte, noch einen Tick zuzulegen.
Ca. 300 m vor dem Ziel passierte es. Ich verspürte einen plötzlichen, heftigen Schmerz rechts hinten im Oberschenkel. Ja genau der, der mir Sorgen gemacht hatte! Im ersten Moment dachte ich, ein Krampf kündige sich an. Ich habe noch nie einen Krampf gehabt. Das musste doch nun wirklich nicht so kurz vorm Ziel sein! Ich hatte sofort, als ich den Schmerz spürte, notgedrungen und instinktiv das Tempo reduziert, wollte aber nicht stehen bleiben und auch nicht ins Ziel gehen. Mit vermindertem Tempo und einer Art Humpellauf erreichte ich den Abzweig zu der Seitenstraße, und richtig, in dieser war dort hinten tatsächlich das Ziel aufgebaut.
Halb humpelnd, halb laufend bewegte ich mich am letzten km-Schild vorbei, und nach weiteren 100 m hatte ich endlich das Ziel erreicht. Mit 1:29:01 h war das einer meiner langsamsten Halbmarathonläufe, ein bisschen ärgere ich mich, dass ich durch das Schlussdrama die entscheidenden 2 oder mehr Sekunden verloren habe, aber andererseits bin ich doch zufrieden, dass ich wenigstens einigermaßen das Ziel durchlaufen konnte.
Während ich erschöpft und mein Bein massierend herum lungerte, trank Heiko wohl sein 8. oder 9. Erdinger bleifrei. Jedenfalls hätte ihm das sein phänomenal erzielter 6. Gesamtplatz rein zeitlich bestimmt ermöglicht. Obwohl: der Figur und damit dem Fassungsvermögen seines Magens nach werden es wohl doch weniger gewesen sein. Nur wenige Sekunden später gesellten sich dann Ralph, der heute offensichtlich „nur“ einen Trainingslauf absolviert hatte, sowie nach und nach weitere Foris dazu. Da für den Nachmittag die Einlösung eines Geschenkgutscheins für eine Kutschfahrt durchs Dycker Ländchen anstand, machte ich mich zeitig vom Acker, um meine Frau nicht in unnötige Unruhe zu versetzen.
Auch zwei Tage später ist normales Gehen nicht möglich bzw. nur schmerzhaft. Mal sehen, was das ist und wie lange das andauert. Die Vorbereitung für den Jungfraumarathon werde ich wohl anpassen, vielleicht sogar streichen müssen. Aber wer weiß: wenn mir das Malheur nicht in diesem Halbmarathon passiert wäre, dann vielleicht bei einer härteren Trainingseinheit oder in einem anderen Wettkampf.
Bernd