Mit 80 am langsamsten - und doch: ein richtiger Marathon [Jungfrau 2013]
Verfasst: 16.09.2013, 20:39
Ich hatte mir das alles so schön zurechtgelegt. Nach einem schnelleren Düsseldorfmarathon (der irgendwie doch noch zustande gekommen war) wollte ich schön entspannt laufen: Jungfrau als Genusslauf, gut trainiert ja, aber auch nicht ganz so intensiv, so 90% sollten reichen; dann starten ohne Zeitambitionen, einfach schauen, was geht, entspannt. Klar, einfach ist der nicht zu laufen, und irgendwann würde der Ehrgeiz auch zuschlagen, aber dennoch: no plan, no stress!
Es kam anders. Was ich ebenso wenig gebrauchen kann wie einen Kropf, platzte nach 2 Wochen Vorbereitung dazwischen, nämlich dieser Scheiß-Muskelfaserriss im hinteren Oberschenkel. Wobei, wenn ich’s recht bedenke, wäre sogar der Kropf das vorteilhaftere Gebrechen gewesen: sieht zwar Scheiße aus, stört aber nicht beim Laufen, der Muskelfaserriss aber schon. Der stört nicht nur, der macht es unmöglich, zumindest einige Wochen lang.
Das sah nicht gut aus für die Jungfrau oder besser für meine Teilnahme. Einerseits konnte ich damit leben, war es doch kein Hauptwettkampf. Andererseits war ich dort schon vor einigen Jahren gemeldet gewesen und hatte nicht teilnehmen können, daher ging mir das schon gehörig auf den Sack. (Kleiner Einschub: Das ist nur so eine Redensart. Da mir öfter mal Dinge missfallen, würde ich sonst längst schon als hodenloser Wicht durch die Gegend hüpfen.) Meine Einflussmöglichkeit beschränkte sich allerdings aufs Nichtstun und darauf Warten, dass zusammenwachsen möge, was zusammen gehört.
Sehr hoffnungsvoll war ich nicht, nahm mir aber vor, die Empirie entscheiden zu lassen:
12 Tage nach dem Faserriss: erster Versuch, Schleichen, dumpfes, ungutes Gefühl, Abbruch
16 Tage: weiterer Test, laaangsam, ne, ist nix, erneut Abbruch
21 Tage: wieder langsam, fühlt sich besser an, 5 km, lieber erstmal aufhören; ist das der Durchbruch? Jetzt alle 2 Tage Distanz steigern, vielleicht wird’s doch noch was…
25 Tage: von Beginn an Schmerz im Schenkel, nach langsamen 5 km aufgehört, noch zu früh für weitere Distanzen…
Dann waren 4 Wochen rum, in denen ich bis auf zaghafte Testversuche praktisch nicht trainiert hatte. Jetzt waren es nur noch 6 Wochen bis zum Marathon: diese Veranstaltung konnte ich abschreiben. Einen letzten Resthauch von Hoffnung, ach Quatsch, eher Sich-nicht-damit-abfinden-wollen legte ich in die Folgewoche. Wäre auch da kein Fortschritt, dann bliebe die Jungfrau eben Jungfrau und ich zuhause. 5-mal schnürte ich in der nächsten Woche die Schuhe, 40 km kamen zustande, die längste Einheit 11 km lang: „Too Old to Rock ’n’ Roll, Too Young to Die.“ Also nochmalige Aufschiebung der Entscheidung!
Ich hatte mir von vornherein vorgenommen, den Marathon nur dann zu laufen, wenn ich mindestens 2 Trainingsdreißiger intus hätte. (Es gibt zwar Läufer, die sich damit brüsten, mit möglichst wenig Training oder ohne lange Läufe zu starten, aber man muss ja nicht jeden Unsinn mitmachen.) Da ich gerade mal bei der Hälfte (genau: 16 km) angekommen war, packte ich am Ende der 5.-letzten Woche die Brechstange aus, jetzt oder nie, 21 km: geht am Anfang richtig gut, mit zunehmender Länge macht sich allmählich der Oberschenkel bemerkbar, 16 km, kurz angehalten, dehnen, ja, geht wieder, Testlauf solala okay. Wochenumfang insgesamt 60 km, 1 x 16, 1 x 21, noch 4 Wochen, aber noch kein einziger Dreißiger!
Der folgte dann 22 Tage vor dem Marathontag und noch einer 17 Tage vorher sowie ein dritter 14 Tage vorher. Dieser letzte war ein 28,1 km-Wettkampf mit 370 Höhenmetern, gestartet als etwas zügigerer Trainingslauf, ausgeartet mit echtem Wettkampfcharakter gegen Ende. So war ich auf immerhin noch 3 „richtige“ Trainingswochen mit 80/95/85 km inklusive drei 30-ern und einer verbleibenden Taperingwoche gekommen. Ich hatte aber auch gemerkt: Die Kondition war durch die 4 Wochen Trainingspause in den Keller gegangen und wollte da auch nicht so schnell wieder heraus kommen. Wer weiß, vielleicht war sie auch ebendorthin zum Lachen gegangen, weil sie sich über mein Ansinnen, den Marathon möglichst doch zu laufen, köstlich amüsiert hatte.
Schnelle Sachen hatte ich überhaupt keine gemacht, allein schon um dem Verletzungsrisiko auszuweichen. Dafür hatte ich wenigstens etwas für die Berge getan: 1,4 km Abraumhalde mehrmals rauf und runter, Treppen rauf und runter gegangen (!), da dies besser den Verhältnissen beim Jungfraumarathon entspricht als laufen. Beim Besuch unserer Kinder in Berlin konnte ich 10 x 110 Stufen bis zum Dachgeschoss bewältigen, zuhause musste ich mit 43 Stufen vorlieb nehmen, die ich bis zu 50-mal auf und ab ging.
Als die letzte Woche begann, war ich entsprechend groggy, aber zuversichtlich, starten zu können und auch anzukommen. Viel mehr als Trainingstempo sollte allerdings nicht drin sein. So reiste ich denn am Freitag per Bahn an und stand am Samstagmorgen in Interlaken im Startbereich, nach 1997 zum zweiten Mal. Trotz Taperingwoche fühlten sich beide Oberschenkel hinten reichlich hart und gereizt an. Aber das kannte ich ja, so was war öfter mal vorm Lauf da und sobald gestartet war, schwupps, wie weg geblasen. Aber selbst nach 20 Laufjahren gibt es immer was Neues: diesmal war da nix mit "weg geblasen", nicht nach einigen Metern und auch nicht nach den ersten Kilometern. Im Gegenteil, das fühlte sich so richtig hart, gereizt und unangenehm an. Und 42,2 km mit 1.829 m Steigung sowie 305 m Gefälle lagen vor mir…
…Ruhig, entspannen! Nichts überstürzen! Ich bin nicht gut trainiert, also muss ich mir die Kraft gut einteilen. Ich weiß, was ab km 26 auf mich wartet. Auch wenn es 16 Jahre her ist, das habe ich nicht vergessen. Die Steigungen sind heftig, auf den letzten 16 km kaum einmal Passagen, auf denen man sich ausruhen kann, fast nur rauf, mal ganz viel, mal etwas viel, aber immer anstrengend. Ich habe gehörigen Respekt. Hoffentlich machen die Schenkel keine Probleme, hoffentlich muss ich nicht stehenbleiben und dehnen.
Schönes Laufwetter, Sonne, aber die Luft noch kühl! Der Anfang ist topfeben, Massen, die an mir vorbeiziehen. Sollen sie! Ich muss meine Kraft einteilen, nicht schneller als Trainingstempo. Mal schauen: knapp unter 5 min/km, dennoch HF bei 140. Scheiß-Faserriss, Scheiß-Trainingspause: in Düsseldorf bin ich mit 140 HF etwa 4:10 gelaufen. Hilft mir nun auch nicht! Ich kann froh sein, dass ich überhaupt dabei sein kann.
Km-Schild 10: leicht unter 50 min, das ist gut. Ich brauche meine Kraft noch. Obwohl: so locker trainingsmäßig fühlt sich das gar nicht an. Ah ja, jetzt fangen die ersten, noch sanften Steigungen an. Na, da zieh ich doch locker wieder an einigen vorbei. Mein Hügeltraining und meine Treppen machen sich bezahlt. Es geht weiter leicht bergauf, manchmal auch schon etwas steiler. Lauterbrunnen, km 20, massig viele Zuschauer, Volksfest! Zeit-Check: über 54 min für die letzten 10 km. Klar, ging ja auch ständig bergauf. Zeit passt! Noch klappt es mit der Einteilung, weitere 6 km, dann geht das Rennen eigentlich erst los. Dabei spüre ich meine Beine bereits deutlich, bin’s halt nicht mehr richtig gewohnt. Na, wenigstens verteilt sich das jetzt auf alle Muskeln, die zickigen Oberschenkel schwimmen nunmehr im Strom mit.
HM-Marke, nun leicht abwärts, die nächsten km in einer Schleife um Lauterbrunnen herum verlaufen wieder total flach. Etliche legen hier noch mal zu. Lass dich ja nicht mitreißen! Die dicken Dinger kommen erst, das hier ist Vorspiel, nicht mehr. Was hat denn diese blöde Garmin-Uhr? Wieso geht die nicht weiter? Ist die aus? Ne, kein Satellitenempfang! Wenigstens die Zeit läuft mit. Km 25 ist erreicht, wir befinden uns wieder in Lauterbrunnen. Wieder massig Zuschauer, die Stimmung machen, anfeuern, begeistert dabei sind.
Und dann, km-Schild 26 ist noch nicht erreicht, beginnt der erste wirklich heftige Anstieg. Serpentinenartig schlängelt sich der Weg die Wengener Wand hoch. Ich wechsle sofort in den Gehschritt. Ich werde weiterhin noch viel Kraft brauchen, und ich erinnere mich, wie ich vor 16 Jahren den Fehler machte, hier laufen zu wollen. Die Meisten tun es mir gleich, manche allerdings wollen sich damit nicht abfinden, versuchen zu laufen, sind kaum schneller als ich und geben sich bald geschlagen, gehen ebenfalls.
Ab km 26 sind alle 250 m ausgeschildert. Das ist gut gemeint, aber es stört mich. Wenn ich ein km-Schild sehe, dann will ich auch einen ganzen km hinter mir haben und nicht nach einer gefühlten Ewigkeit feststellen, dass ich ¾ der Distanz noch vor mir habe. Dabei läuft es momentan recht gut. Ich komme kraftvoll voran, erkenne viele wieder, die mich irgendwann überholt haben und bin jetzt schneller als sie. Aber es zieht sich. 350 Höhenmeter auf kurzer Distanz zu überwinden, kostet Zeit und senkt den km-Schnitt merklich. Dabei ist erst der Anfang gemacht. Als das Ende des Serpentinenaufstiegs erreicht ist, geht es über Wiesenwege und Asphalt weiter aufwärts mit zum Teil beträchtlichem Steigungswinkel. Fast ist die Sonne sogar schon ein wenig zu warm.
Ich werde den gleichen Fehler wie vor 16 Jahren nicht noch einmal machen. Damals versuchte ich so viel wie möglich zu laufen und legte kurze Gehpausen nur nach Erschöpfung ein. Heute schone ich meine Kräfte. Habe ich überhaupt noch genügend? Nicht ganz so steile Stücke laufe ich, aber ansonsten wechsle ich früh ins Gehen. Das spart Kraft. Das Heftigste steht mir ja noch bevor. Ein wenig Bammel habe ich. Wohl mehr um mich abzulenken, fange ich so langsam an, eine Endzeit abzuschätzen. In der Ausschreibung hatte ich gesehen, dass bei Endzeit 5 h für die Strecke ab Wengernalp (km 30,3) bis Ziel ca. 2 h eingeplant sind. Dort laufe ich gute 5 min früher vorbei.
Meine Versuche abzuschätzen, wie weit ich nach 4 h sein könnte, erweisen sich alle als Makulatur. Einem Kilometer mit weniger als 6 min folgt ein anderer mit über 10 min. Die Steigung, davon abgeleitet mein Geh-/Laufverhältnis und letztlich meine Geschwindigkeit schwanken zu stark. Nach km 38 geht es sogar ein wenig bergab. Doch dann beginnt der härteste Teil: der Schlussaufstieg, und vor dem habe ich gelinde gesagt einen Mordsrespekt. Er beginnt mit einem steinigen Bergpfad. Nach über 4 Stunden hat natürlich die Konzentration nachgelassen, und ich muss höllisch aufpassen, nicht daneben zu treten und zu stolpern. Der Eine oder Andere rutscht aus, kann sich gerade noch fangen – oder auch nicht. Besonders passiert das denen, die hier noch überholen, da sie auf lockeren Bewuchs, durchsetzt mit schlecht zu sehenden Steinen, ausweichen müssen.
Mittlerweile schiele ich verzweifelt nach der nächsten 250 m-Markierung. Doch merkwürdig, hier, so kurz vor Schluss, wo sie das nahende Ende andeuten würde, fehlt sie. Ab km 39 sind nur alle 500 m ausgeschildert. Ich bin froh, als endlich km 39,5 zu sehen ist. Aber der Anstieg geht weiter, viel an Höhe ist noch zu überwinden, ich kann den Hang nach oben gucken. Jetzt gehe ich nur noch, auch wenn mal ein kleines flacheres Stück kommt. Bis jetzt habe ich meine Kraft gut eingesetzt, gut verteilt. Aber ich spüre auch, dass so allmählich der Sprit zur Neige geht. Mehr geben die Muskeln nicht her, hat der Körper nicht anzubieten.
Ich denke an meinen ersten Lauf zurück. Naiv wie ich war, hatte ich gedacht, ich könnte bis zum Schlussaufstieg möglichst viel laufen und mich dann auf dem letzten Stück gehenderweise quasi ausruhen. Pustekuchen! Da war nichts mehr gegangen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, das Ziel noch erreichen zu können, war platt gewesen, musste stehen bleiben und kam nur noch im Wechsel Stehenbleiben – Gehen voran. Das soll mir heute nicht passieren. Die Taktik war richtig. Ich habe mich nicht platt gelaufen, aber da ist auch nichts mehr an Reserve übrig, die ich noch einsetzen könnte.
Eine neue Gefahr droht: meine Waden sind hart, das steile Bergaufgehen fordert seinen Tribut. Beim ersten Treppengehen im Training ist es mir ähnlich ergangen: 42 x 43 Stufen, und am nächsten Tag Muskelkater in beiden Waden, aber so richtigen Muskelkater! Seit einigen Minuten fürchte ich, einen Wadenkrampf zu bekommen. Beim Aufsetzen des Fußes und Hochdrücken des Körpers gibt es nur einen schmalen Grat, dies im richtigen Winkel zu machen. Einige Male schon hatte ich das Gefühl, die Muskulatur macht zu. Bloß nicht! Das kann ich nicht gebrauchen. Nicht so kurz vorm Ziel! Vor mir immer mal wieder ein Läufer, der steht oder liegt, der versucht, selbst zu dehnen oder Hilfe durch einen Laufpartner erfährt.
Endlich ist die Moräne erreicht. Durch die glatte, rampenähnliche Form fällt das Krampf vermeidende Gehen hier etwas leichter, aber gebannt ist die Gefahr nicht. Ich kann jetzt die lange Läuferschlange vor mir sehen, sehe den höchsten Punkt, sehe, dass es danach leicht bergab geht. In meiner Erinnerung kommt dieser Punkt erst viel später. Aber um so besser! Ich steige in meinem gleichförmigen, Kräfte sparenden Schritt weiter. Endlich habe ich den höchsten Punkt erreicht. Und wieder, wie vor 16 Jahren, kann ich bergab wieder laufen, relativ locker sogar, laufe an Etlichen vorbei, die weiterhin gehen oder kaum Raum gewinnend Laufschritte versuchen. Einen kleinen Gegenanstieg muss ich noch bewältigen, dann geht es rutschig um eine Kurve herum. 2 Helfer verhindern, dass ich falle. Und dann laufe ich, angesichts der zurück liegenden Anstrengung sogar einigermaßen flott, in Richtung Ziel, muss bergab noch mal aufpassen, nicht zu stolpern, und dann ist es vorbei.
Ich würge noch etwas, eine Helferin bringt mir einen Becher zu trinken, ich setze mich, trinke schluckweise, und begebe mich einige Minuten später in den Nachzielbereich.
Der Blick auf die Ergebnisliste zeigt, dass ich meinen 80. Marathon in 4:36:43 h gelaufen bin. Das ist neuer Rekord: Der Jungfraumarathon 2013 löst damit den Zermattmarathon als meinen bisher langsamsten ab mit einem Vorsprung von einer guten Viertelstunde. Aber ich bin froh, dass es geklappt hat und ich ihn laufen konnte. Training und Renntaktik stimmten. Naja, und über 5 h sind es nicht geworden. Also gehe ich den Diskussionen, ob das überhaupt noch ein Marathon war, aus dem Weg (Ist ein Marathon über 5 h…?).
Bernd
Es kam anders. Was ich ebenso wenig gebrauchen kann wie einen Kropf, platzte nach 2 Wochen Vorbereitung dazwischen, nämlich dieser Scheiß-Muskelfaserriss im hinteren Oberschenkel. Wobei, wenn ich’s recht bedenke, wäre sogar der Kropf das vorteilhaftere Gebrechen gewesen: sieht zwar Scheiße aus, stört aber nicht beim Laufen, der Muskelfaserriss aber schon. Der stört nicht nur, der macht es unmöglich, zumindest einige Wochen lang.
Das sah nicht gut aus für die Jungfrau oder besser für meine Teilnahme. Einerseits konnte ich damit leben, war es doch kein Hauptwettkampf. Andererseits war ich dort schon vor einigen Jahren gemeldet gewesen und hatte nicht teilnehmen können, daher ging mir das schon gehörig auf den Sack. (Kleiner Einschub: Das ist nur so eine Redensart. Da mir öfter mal Dinge missfallen, würde ich sonst längst schon als hodenloser Wicht durch die Gegend hüpfen.) Meine Einflussmöglichkeit beschränkte sich allerdings aufs Nichtstun und darauf Warten, dass zusammenwachsen möge, was zusammen gehört.
Sehr hoffnungsvoll war ich nicht, nahm mir aber vor, die Empirie entscheiden zu lassen:
12 Tage nach dem Faserriss: erster Versuch, Schleichen, dumpfes, ungutes Gefühl, Abbruch
16 Tage: weiterer Test, laaangsam, ne, ist nix, erneut Abbruch
21 Tage: wieder langsam, fühlt sich besser an, 5 km, lieber erstmal aufhören; ist das der Durchbruch? Jetzt alle 2 Tage Distanz steigern, vielleicht wird’s doch noch was…
25 Tage: von Beginn an Schmerz im Schenkel, nach langsamen 5 km aufgehört, noch zu früh für weitere Distanzen…
Dann waren 4 Wochen rum, in denen ich bis auf zaghafte Testversuche praktisch nicht trainiert hatte. Jetzt waren es nur noch 6 Wochen bis zum Marathon: diese Veranstaltung konnte ich abschreiben. Einen letzten Resthauch von Hoffnung, ach Quatsch, eher Sich-nicht-damit-abfinden-wollen legte ich in die Folgewoche. Wäre auch da kein Fortschritt, dann bliebe die Jungfrau eben Jungfrau und ich zuhause. 5-mal schnürte ich in der nächsten Woche die Schuhe, 40 km kamen zustande, die längste Einheit 11 km lang: „Too Old to Rock ’n’ Roll, Too Young to Die.“ Also nochmalige Aufschiebung der Entscheidung!
Ich hatte mir von vornherein vorgenommen, den Marathon nur dann zu laufen, wenn ich mindestens 2 Trainingsdreißiger intus hätte. (Es gibt zwar Läufer, die sich damit brüsten, mit möglichst wenig Training oder ohne lange Läufe zu starten, aber man muss ja nicht jeden Unsinn mitmachen.) Da ich gerade mal bei der Hälfte (genau: 16 km) angekommen war, packte ich am Ende der 5.-letzten Woche die Brechstange aus, jetzt oder nie, 21 km: geht am Anfang richtig gut, mit zunehmender Länge macht sich allmählich der Oberschenkel bemerkbar, 16 km, kurz angehalten, dehnen, ja, geht wieder, Testlauf solala okay. Wochenumfang insgesamt 60 km, 1 x 16, 1 x 21, noch 4 Wochen, aber noch kein einziger Dreißiger!
Der folgte dann 22 Tage vor dem Marathontag und noch einer 17 Tage vorher sowie ein dritter 14 Tage vorher. Dieser letzte war ein 28,1 km-Wettkampf mit 370 Höhenmetern, gestartet als etwas zügigerer Trainingslauf, ausgeartet mit echtem Wettkampfcharakter gegen Ende. So war ich auf immerhin noch 3 „richtige“ Trainingswochen mit 80/95/85 km inklusive drei 30-ern und einer verbleibenden Taperingwoche gekommen. Ich hatte aber auch gemerkt: Die Kondition war durch die 4 Wochen Trainingspause in den Keller gegangen und wollte da auch nicht so schnell wieder heraus kommen. Wer weiß, vielleicht war sie auch ebendorthin zum Lachen gegangen, weil sie sich über mein Ansinnen, den Marathon möglichst doch zu laufen, köstlich amüsiert hatte.
Schnelle Sachen hatte ich überhaupt keine gemacht, allein schon um dem Verletzungsrisiko auszuweichen. Dafür hatte ich wenigstens etwas für die Berge getan: 1,4 km Abraumhalde mehrmals rauf und runter, Treppen rauf und runter gegangen (!), da dies besser den Verhältnissen beim Jungfraumarathon entspricht als laufen. Beim Besuch unserer Kinder in Berlin konnte ich 10 x 110 Stufen bis zum Dachgeschoss bewältigen, zuhause musste ich mit 43 Stufen vorlieb nehmen, die ich bis zu 50-mal auf und ab ging.
Als die letzte Woche begann, war ich entsprechend groggy, aber zuversichtlich, starten zu können und auch anzukommen. Viel mehr als Trainingstempo sollte allerdings nicht drin sein. So reiste ich denn am Freitag per Bahn an und stand am Samstagmorgen in Interlaken im Startbereich, nach 1997 zum zweiten Mal. Trotz Taperingwoche fühlten sich beide Oberschenkel hinten reichlich hart und gereizt an. Aber das kannte ich ja, so was war öfter mal vorm Lauf da und sobald gestartet war, schwupps, wie weg geblasen. Aber selbst nach 20 Laufjahren gibt es immer was Neues: diesmal war da nix mit "weg geblasen", nicht nach einigen Metern und auch nicht nach den ersten Kilometern. Im Gegenteil, das fühlte sich so richtig hart, gereizt und unangenehm an. Und 42,2 km mit 1.829 m Steigung sowie 305 m Gefälle lagen vor mir…
…Ruhig, entspannen! Nichts überstürzen! Ich bin nicht gut trainiert, also muss ich mir die Kraft gut einteilen. Ich weiß, was ab km 26 auf mich wartet. Auch wenn es 16 Jahre her ist, das habe ich nicht vergessen. Die Steigungen sind heftig, auf den letzten 16 km kaum einmal Passagen, auf denen man sich ausruhen kann, fast nur rauf, mal ganz viel, mal etwas viel, aber immer anstrengend. Ich habe gehörigen Respekt. Hoffentlich machen die Schenkel keine Probleme, hoffentlich muss ich nicht stehenbleiben und dehnen.
Schönes Laufwetter, Sonne, aber die Luft noch kühl! Der Anfang ist topfeben, Massen, die an mir vorbeiziehen. Sollen sie! Ich muss meine Kraft einteilen, nicht schneller als Trainingstempo. Mal schauen: knapp unter 5 min/km, dennoch HF bei 140. Scheiß-Faserriss, Scheiß-Trainingspause: in Düsseldorf bin ich mit 140 HF etwa 4:10 gelaufen. Hilft mir nun auch nicht! Ich kann froh sein, dass ich überhaupt dabei sein kann.
Km-Schild 10: leicht unter 50 min, das ist gut. Ich brauche meine Kraft noch. Obwohl: so locker trainingsmäßig fühlt sich das gar nicht an. Ah ja, jetzt fangen die ersten, noch sanften Steigungen an. Na, da zieh ich doch locker wieder an einigen vorbei. Mein Hügeltraining und meine Treppen machen sich bezahlt. Es geht weiter leicht bergauf, manchmal auch schon etwas steiler. Lauterbrunnen, km 20, massig viele Zuschauer, Volksfest! Zeit-Check: über 54 min für die letzten 10 km. Klar, ging ja auch ständig bergauf. Zeit passt! Noch klappt es mit der Einteilung, weitere 6 km, dann geht das Rennen eigentlich erst los. Dabei spüre ich meine Beine bereits deutlich, bin’s halt nicht mehr richtig gewohnt. Na, wenigstens verteilt sich das jetzt auf alle Muskeln, die zickigen Oberschenkel schwimmen nunmehr im Strom mit.
HM-Marke, nun leicht abwärts, die nächsten km in einer Schleife um Lauterbrunnen herum verlaufen wieder total flach. Etliche legen hier noch mal zu. Lass dich ja nicht mitreißen! Die dicken Dinger kommen erst, das hier ist Vorspiel, nicht mehr. Was hat denn diese blöde Garmin-Uhr? Wieso geht die nicht weiter? Ist die aus? Ne, kein Satellitenempfang! Wenigstens die Zeit läuft mit. Km 25 ist erreicht, wir befinden uns wieder in Lauterbrunnen. Wieder massig Zuschauer, die Stimmung machen, anfeuern, begeistert dabei sind.
Und dann, km-Schild 26 ist noch nicht erreicht, beginnt der erste wirklich heftige Anstieg. Serpentinenartig schlängelt sich der Weg die Wengener Wand hoch. Ich wechsle sofort in den Gehschritt. Ich werde weiterhin noch viel Kraft brauchen, und ich erinnere mich, wie ich vor 16 Jahren den Fehler machte, hier laufen zu wollen. Die Meisten tun es mir gleich, manche allerdings wollen sich damit nicht abfinden, versuchen zu laufen, sind kaum schneller als ich und geben sich bald geschlagen, gehen ebenfalls.
Ab km 26 sind alle 250 m ausgeschildert. Das ist gut gemeint, aber es stört mich. Wenn ich ein km-Schild sehe, dann will ich auch einen ganzen km hinter mir haben und nicht nach einer gefühlten Ewigkeit feststellen, dass ich ¾ der Distanz noch vor mir habe. Dabei läuft es momentan recht gut. Ich komme kraftvoll voran, erkenne viele wieder, die mich irgendwann überholt haben und bin jetzt schneller als sie. Aber es zieht sich. 350 Höhenmeter auf kurzer Distanz zu überwinden, kostet Zeit und senkt den km-Schnitt merklich. Dabei ist erst der Anfang gemacht. Als das Ende des Serpentinenaufstiegs erreicht ist, geht es über Wiesenwege und Asphalt weiter aufwärts mit zum Teil beträchtlichem Steigungswinkel. Fast ist die Sonne sogar schon ein wenig zu warm.
Ich werde den gleichen Fehler wie vor 16 Jahren nicht noch einmal machen. Damals versuchte ich so viel wie möglich zu laufen und legte kurze Gehpausen nur nach Erschöpfung ein. Heute schone ich meine Kräfte. Habe ich überhaupt noch genügend? Nicht ganz so steile Stücke laufe ich, aber ansonsten wechsle ich früh ins Gehen. Das spart Kraft. Das Heftigste steht mir ja noch bevor. Ein wenig Bammel habe ich. Wohl mehr um mich abzulenken, fange ich so langsam an, eine Endzeit abzuschätzen. In der Ausschreibung hatte ich gesehen, dass bei Endzeit 5 h für die Strecke ab Wengernalp (km 30,3) bis Ziel ca. 2 h eingeplant sind. Dort laufe ich gute 5 min früher vorbei.
Meine Versuche abzuschätzen, wie weit ich nach 4 h sein könnte, erweisen sich alle als Makulatur. Einem Kilometer mit weniger als 6 min folgt ein anderer mit über 10 min. Die Steigung, davon abgeleitet mein Geh-/Laufverhältnis und letztlich meine Geschwindigkeit schwanken zu stark. Nach km 38 geht es sogar ein wenig bergab. Doch dann beginnt der härteste Teil: der Schlussaufstieg, und vor dem habe ich gelinde gesagt einen Mordsrespekt. Er beginnt mit einem steinigen Bergpfad. Nach über 4 Stunden hat natürlich die Konzentration nachgelassen, und ich muss höllisch aufpassen, nicht daneben zu treten und zu stolpern. Der Eine oder Andere rutscht aus, kann sich gerade noch fangen – oder auch nicht. Besonders passiert das denen, die hier noch überholen, da sie auf lockeren Bewuchs, durchsetzt mit schlecht zu sehenden Steinen, ausweichen müssen.
Mittlerweile schiele ich verzweifelt nach der nächsten 250 m-Markierung. Doch merkwürdig, hier, so kurz vor Schluss, wo sie das nahende Ende andeuten würde, fehlt sie. Ab km 39 sind nur alle 500 m ausgeschildert. Ich bin froh, als endlich km 39,5 zu sehen ist. Aber der Anstieg geht weiter, viel an Höhe ist noch zu überwinden, ich kann den Hang nach oben gucken. Jetzt gehe ich nur noch, auch wenn mal ein kleines flacheres Stück kommt. Bis jetzt habe ich meine Kraft gut eingesetzt, gut verteilt. Aber ich spüre auch, dass so allmählich der Sprit zur Neige geht. Mehr geben die Muskeln nicht her, hat der Körper nicht anzubieten.
Ich denke an meinen ersten Lauf zurück. Naiv wie ich war, hatte ich gedacht, ich könnte bis zum Schlussaufstieg möglichst viel laufen und mich dann auf dem letzten Stück gehenderweise quasi ausruhen. Pustekuchen! Da war nichts mehr gegangen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, das Ziel noch erreichen zu können, war platt gewesen, musste stehen bleiben und kam nur noch im Wechsel Stehenbleiben – Gehen voran. Das soll mir heute nicht passieren. Die Taktik war richtig. Ich habe mich nicht platt gelaufen, aber da ist auch nichts mehr an Reserve übrig, die ich noch einsetzen könnte.
Eine neue Gefahr droht: meine Waden sind hart, das steile Bergaufgehen fordert seinen Tribut. Beim ersten Treppengehen im Training ist es mir ähnlich ergangen: 42 x 43 Stufen, und am nächsten Tag Muskelkater in beiden Waden, aber so richtigen Muskelkater! Seit einigen Minuten fürchte ich, einen Wadenkrampf zu bekommen. Beim Aufsetzen des Fußes und Hochdrücken des Körpers gibt es nur einen schmalen Grat, dies im richtigen Winkel zu machen. Einige Male schon hatte ich das Gefühl, die Muskulatur macht zu. Bloß nicht! Das kann ich nicht gebrauchen. Nicht so kurz vorm Ziel! Vor mir immer mal wieder ein Läufer, der steht oder liegt, der versucht, selbst zu dehnen oder Hilfe durch einen Laufpartner erfährt.
Endlich ist die Moräne erreicht. Durch die glatte, rampenähnliche Form fällt das Krampf vermeidende Gehen hier etwas leichter, aber gebannt ist die Gefahr nicht. Ich kann jetzt die lange Läuferschlange vor mir sehen, sehe den höchsten Punkt, sehe, dass es danach leicht bergab geht. In meiner Erinnerung kommt dieser Punkt erst viel später. Aber um so besser! Ich steige in meinem gleichförmigen, Kräfte sparenden Schritt weiter. Endlich habe ich den höchsten Punkt erreicht. Und wieder, wie vor 16 Jahren, kann ich bergab wieder laufen, relativ locker sogar, laufe an Etlichen vorbei, die weiterhin gehen oder kaum Raum gewinnend Laufschritte versuchen. Einen kleinen Gegenanstieg muss ich noch bewältigen, dann geht es rutschig um eine Kurve herum. 2 Helfer verhindern, dass ich falle. Und dann laufe ich, angesichts der zurück liegenden Anstrengung sogar einigermaßen flott, in Richtung Ziel, muss bergab noch mal aufpassen, nicht zu stolpern, und dann ist es vorbei.
Ich würge noch etwas, eine Helferin bringt mir einen Becher zu trinken, ich setze mich, trinke schluckweise, und begebe mich einige Minuten später in den Nachzielbereich.
Der Blick auf die Ergebnisliste zeigt, dass ich meinen 80. Marathon in 4:36:43 h gelaufen bin. Das ist neuer Rekord: Der Jungfraumarathon 2013 löst damit den Zermattmarathon als meinen bisher langsamsten ab mit einem Vorsprung von einer guten Viertelstunde. Aber ich bin froh, dass es geklappt hat und ich ihn laufen konnte. Training und Renntaktik stimmten. Naja, und über 5 h sind es nicht geworden. Also gehe ich den Diskussionen, ob das überhaupt noch ein Marathon war, aus dem Weg (Ist ein Marathon über 5 h…?).
Bernd