dry hat geschrieben:Nicht zum Läufer geboren?
Hallo dry,
vielen Dank für die herrliche Provokation deiner Überschrift
Doch zunächst ein Bezug zu deiner A-Sehnen-Problematik, damit kein Leser dieses Threads meint ich stürze mich nachher ausschließlich auf die Überschrift und ließe dich mit den A-Sehnen "alleine". Meine Ausführungen zu diesem Thema habe ich schon in (d-)einem Nachbarposting hinterlassen also
hier.
"Nicht zum Läufer geboren?" - Viele denken so oder fühlen zumindest so, wenn sie laufen. Natürlich weil es ihnen schwer fällt und weil andere leichtfüßig an ihnen vorbei ziehen. Und doch gibt es keine Aussage die so grundfalsch wäre, ersetzte man in deiner Überschrift das Frage- durch ein Ausrufezeichen!
Jeder Mensch wird grundsätzlich und definitiv als Läufer geboren"! Sicher: Einige wenige haben von Geburt an Erkrankungen, die ihnen das Laufen erschweren oder unmöglich machen. Alle anderen Menschen aber kommen als Geh- und Lauflebewesen auf die Welt. Zwar ist der Prozess des Gehen- und Laufenlernens langwierig, letztendlich entwickeln wir es jedoch individuell bis zur Perfektion. Wir sind noch Kinder, wenn wir Gehen und Laufen bereits perfekt beherrschen. Was noch fehlt in dieser Phase des Wachstums ist Langzeitausdauer bzw. die Fähigkeit diese Langzeitausdauer ohne Schäden zu erwerben. Spätestens als Jugendliche sind wir dann allerdings in der Lage auch längere Strecken zu bewältigen.
Fertig ist das Geh- und Laufwesen! Dass dem so ist, liegt an den vielen Millionen Jahren, die die Evolution an uns herum entwickelt hat. Es entstand ein Lebewesen, das zwar nicht so schnell und nicht so lange laufen kann, wie manch anderes "Tier", das aber für seine Lebensweise, für seinen Platz in der Natur genau richtig konzipiert war. Wäre es das nicht, hätten wir als Art nicht überlebt. Vor 10.000 Jahren waren die Bedingungen so, dass der Mensch, um zu überleben, täglich 20 bis 40 km zurücklegen musste. Auf diesen Wert fokussieren sich mittlerweile moderne Forschungen. 20 bis 40 km, die auch zum Teil laufend oder rennend absolviert werden mussten, um Schutz zu suchen oder um Beute zu machen. Dafür war der menschliche Bewegungsapparat zu jener Zeit perfekt entwickelt. Und zwar ohne Schuhe!
10.000 Jahre sind nicht mehr als ein Wimpernschlag, wenn es darum geht durch Auslese (nichts anderes verbirgt sich hinter der Evolution) biologische Verbesserungen an einem Lebewesen durchzusetzen. Dazu kommt, dass sich unsere Lebensweise in den letzten 100 Jahren erst dramatisch verändert hat. Wir besitzen also noch den Körper der Menschen von vor 10.000 Jahren. Und deshalb kommt jeder als perfektes Geh- und Laufwesen auf die Welt.
Und dann passiert etwas sehr Dramatisches: Der Mensch betritt nicht mehr nur die Welt - so wie vor 10.000 Jahren - er betritt die Zivilisation. Und die verlangt von vielen kaum mehr sich zu bewegen. Schon gar keine 40 km am Tag. Ein paar beeindruckende Zahlen:
- Menschen in den Industrieländern verlieren bis zu ihrem 80. Lebensjahr 50% ihrer Beinmuskulatur. Dafür ist weder das Alter noch genetische Prägung verantwortlich, sondern ein weitgehend bewegungsarmer Lebensstil!
- Der Durchschnitt der Mitteleuropäer läuft weniger als 1.000 Schritte am Tag! Das sind ca. 650 m!!
- 99% unserer Vorfahren legten pro Tag 20 bis 40 km zurück.
- 98% aller Menschen kommen mit gesunden Füßen zur Welt, aber nur 40% von ihnen haben noch gesunde Füße, wenn sie erwachsen sind
Letzteres ist auch der Tatsache geschuldet, dass wir uns zu wenig bewegen, im besonderen Maße aber auch falschem Schuhwerk.
Unsere nicht artgerechte Lebensweise führt bei vielen Menschen auch zu völlig irrwitzigen Vorstellungen: Zum Beispiel wird dir als Läufer häufig die Frage begegnen - insbesondere, wenn du an Langzeitwettkämpfen teilnimmst -, ob man sich mit dem "vielen Laufen" nicht die Gelenke ruiniert. Und es stößt auf ebenso völliges Unverständnis, wenn man diesen Menschen sagt, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Nur benutzte Gelenke können gesunde Gelenke bleiben. Nur der stete Wechsel zwischen Druck und Entlastung (eine Art "Pumpwirkung") beim Gehen/Laufen ist beispielsweise in der Lage ein Gelenk ausreichend mit Nährstoffen zu versorgen (weil es nicht durchblutet wird). Gelenke die rasten rosten. Künstliche Hüft- und Kniegelenke werden in aller Regel nicht Menschen eingesetzt, die in ihrem Leben regelmäßig (Ausdauer-) Sport betrieben haben. Mir fällt beim künstlichen Hüftgelenk immer eine extrem gewichtige Dame aus meinem Bekanntenkreis ein, die sich seit wenigen Monaten über die mit dem neuen Hüftgelenk neu erworbene Schmerzfreiheit freut ... Bewegt hatte sie sich in den letzten Jahrzehnten so gut wie gar nicht.
Wir sind alle zum Gehen und Laufen geboren. Nur leider zwingen uns die Lebensumstände darauf zu verzichten. Zeitmangel und Bequemlichkeit führen dann bei vielen dazu, dass sie nicht für Ersatz sorgen. Ich hoffe keiner derjenigen, die das hier lesen, gehört noch länger als ein paar Stunden zu diesen bedauernswerten Zeitgenossen.
Gruß Udo