Andre1977 hat geschrieben:bisher dachte ich immer man sollte sich Dehnen, idealerweise vor und nach dem Lauf.
Hallo Andre,
rund um den Laufsport ranken sich diverse Legenden. Eine davon gilt dem Dehnen. Mal direkt gefragt: Aus welchem Grund willst du überhaupt Dehnübungen machen? Oder hast du darüber nicht nachgedacht? Für den Fall, dass du keinen "besonderen" Grund haben solltest, schlage ich dir vor es einfach zu unterlassen. Generell und überhaupt. Damit du mich ernst nimmst, zunächst diese Information: Ich befolge selbst ein Dehnprogramm, zweimal pro Woche oder häufiger. Aber ich habe einen bestimmten Grund dafür.
Nächste Info: Bisher ist es der Wissenschaft trotz mehrfacher einschlägiger Studien nicht gelungen nachzuweisen, dass Dehnübungen - gleich welcher Art - Laufverletzungen oder -beschwerden vorbeugen können. Solche Untersuchungen laufen dergestalt ab, dass man eine genügend große Gruppe von Läufern Dehnübungen durchführen lässt und eine andere Kontrollgruppe tut das nicht. Danach wird für den Untersuchungszeitraum erfasst, ob bei einer Gruppe auffallend wenige oder viele Laufverletzungen/-beschwerden aufgetreten sind. Fehlanzeige! Das sollte man wissen, denn unterschwellig hoffen viele Freitzeitläufer durch Dehnübungen das Risiko von Beschwerden zu senken. Also: Welchen Grund hast du für deine Dehnübungen?
Mein Grund: Mein bereits angejahrter Körper hat von früheren Sportsünden (nicht vom Laufen herrührend) Schäden davon getragen, die sich entweder nun auswirken oder schon länger, irreparabel vorhanden sind. Z.B. habe ich in meinen Achillessehnen Narbengewebe und durch regelmäßiges Dehnen der A-Sehnen verhindere ich, dass die Entzündungen in diesem Bereich wieder aufflammen. Darüber hinaus laufe ich ca. 4.000 km im Jahr, auch über sehr lange Distanzen (Ultraläufe). Stundenlanges monotones Setzen von kleinen Schritten, wie es nun mal erforderlich ist, wenn man z.B. 100 oder mehr Kilometer laufen will, schränkt die Flexibilität meiner Muskulatur, der Sehnen und Gelenke ein. Wenn ich nicht dehne, bekomme ich Probleme.
Mindestens so wichtig wie Dehnübungen (nach Aussage mancher Sportärzte und Therapeuten sogar wichtiger) sind bestimmte Übungen zur Kräftigung der Muskulatur. Nicht so sehr die ohnehin beim Laufen bewegte Muskulatur. Vor allem der haltende Muskalapparat, der uns überhaupt befähigt beim Laufen eine aufrechte Haltung beizubehalten, sollte gekräftigt werden. Das sind vor allem Rücken- und Bauchmuskeln, Adduktoren, Abduktoren, Gesäßmuskulatur. Der Verfasser der "Laufbibel", Dr. Marquardt sieht z.B. im Dehnen nur im Zusammenhang mit Kräftigungsübungen einen Sinn. Die Lektüre seines Buches ist allen zu empfehlen, die ihren Laufsport orthopädisch möglichst gesund betreiben wollen. Natürlich kann niemand alles umsetzen, was in diesem Wälzer empfohlen wird. Dies und jenes allerdings schon und die Aufklärung über Zusammenhänge zeigt im Verhalten des Läufers sicher Langzeitwirkung.
Manche sind sich der Tatsache bewusst, dass Dehnen nicht die ihm angedichtete vorbeugende Wirkung gegen Beschwerden und Verletzungen hat und dehnen trotzdem. Auch wenn sie - anders als beispielsweise ich selbst - noch über einen völlig gesunden (Lauf-) Körper verfügen. Fragt man sie, dann hört man davon, dass sie sich durch die Dehnübungen "besser oder gut fühlen". Völlig in Ordnung! Was uns gut tut, kann so falsch nicht sein. Mal angenommen, du willst auch aus diesem Grund (oder einem anderen) dehnen. Okay, dann aber bitte richtig. Und es ist unstrittig, was "richtig" in diesem Zusammenhang bedeutet: Läufer dehnen nicht vor dem Training. Einfache Begründung: Durch das Einlaufen bleibt in der Muskulatur ein Muskeltonus ("Vorspannung") zurück. Dieser Muskeltonus wird gebraucht, wenn wir dann wirklich trainieren. Durch Dehnübungen arbeitet man dem Tonus entgegen, zerstört ihn. Ein weiterer, pragmatischer Grund: Wer vor dem Laufen dehnt kühlt aus, kann sich also erkälten und erhöht durch das Auskühlen auch das Risiko für Verletzungen.
Auch unmittelbar nach dem Laufen ist Dehnen sinnlos. Eine ziemliche Zeit lang (je nach Intensität der Trainingseinheit) bleibt nach Abbruch der Trainingsbelastung eine Spannung in der Muskulatur zurück - richtig: wieder der Muskeltonus -, die verhindert, dass der Muskel bei Dehnübungen seine maximale Länge überhaupt erreichen kann. Also frühestens ein, zwei Stunden nach der Trainingseinheit dehnen, besser noch länger warten. Idealerweise dehnt man an Tagen mit Laufpause. Das Dehnen hat mit der eigentlichen Ausdauertrainingseinheit ohnehin nichts zu tun.
Wie dehnen: Kurz aufwärmen, dann jede Übung für mindestens 30 s halten und auf jeder Körperseite zweimal wiederholen (also insgesamt min. 3 x). 30 s halten ist Minimum, länger ist besser. Insbesondere dann besser, wenn jemand selten oder noch nie gedehnt hat. Beim Dehnen darf ein unangenehmes Ziehen auftreten, Schmerzen sollten jedoch nicht damit verbunden sein.
Alles Gute
Gruß Udo