moennich26 hat geschrieben:Wie sind Eure Erfahrungen: Macht Ihr gar keine Kräftigungsübungen neben dem Joggen, oder nur zu Hause? Brauch man(n) die Übungen überhauot?
Hallo moennich26,
auf die Frage, ob ein Läufer Übungen zur Kräftigung in sein Training einbauen sollte, gibt es wie auf viele andere Fragen keine allgemeingültige einfache Antwort. Darüber dürfen auch spaßige Bemerkungen, wie ich sie in diesem Thread las, nicht hinweg täuschen. Das vorweg. Für jeden Läufer gilt es eine Antwort zu finden, die die Robustheit seines Körpers, eventuelle muskuläre Defizite und seinen Laufumfang berücksichtigt, um ein paar wichtige Parameter zu nennen. Manche klagen vielleicht auch über unklare Beschwerden beim oder nach dem Laufen, die möglicherweise von selbst auf die Notwendigkeit muskulärer Schulungen hinweisen.
Unter Medizinern oder Physiotherapeuten sind teilweise recht radikale Ansichten zu dieser Fragestellung verbreitet. Zum Beispiel las ich kürzlich im Fachmagazin für Sport- und Fitnesstrainer "Leistungslust", Ausgabe Juni 2016, einen Artikel, der diese radikale Ansicht unter dem recht provokanten Slogan "Wer nur läuft, läuft sich kaputt!" zusammenfasst. Darin wird die These aufgestellt, dass ausnahmslos jeder Läufer mit muskulären Schulungen seinen Körper erst einmal "lauffähig" machen muss und später lauffähig erhalten muss. Ich will dazu aus meiner Sicht zunächst keine Stellung beziehen. Stattdessen erst einmal klären, worum es überhaupt geht:
Laufen ist eine völlig selbstverständliche, menschliche Fortbewegungsart. Das Wesen Mensch hat sie im Laufe seiner Evolution bis zur Perfektion entwickelt. Laufen ist genetisch programmiert und unter gesunden/normalen Umständen muss man Laufen niemandem beibringen. Das Kleinkind lernt aufrecht stehen, dann gehen und mehr oder weniger parallel dazu auch zu laufen. Man muss diesem Kleinkind nicht erklären wie das geht, die für die Koordination der Bewegung nötigen "Programme" beherrscht das Nervensystem durch Vererbung. Sieht man Jungen und Mädchen im Hauptschulalter beim Laufen zu, wozu ich mehrfach die Gelegenheit hatte und es auch aufmerksam tat, dann macht man die wirklich erstaunliche Feststellung, dass viele dieser Kinder einen nahezu perfekten Laufstil praktizieren. Und zwar ohne jede Schulung. Perfekt will heißen: Wirkliches Anfersen, starker Kniehub, begleitende Armbewegungen als Impulsgebung, usw.
Worauf basiert nun die „Laufbewegung“: Wenn man selbst läuft, nimmt man von sich eigentlich nur die „bewegten Teile“ wahr (natürlich auch Atmung und die Belastung des Stoffwechsels, doch darum geht es hier ja nicht). Man spürt die Beine, die sich bewegen, die Füße, die schwingenden Arme. Im Grunde also nur Muskulatur, die „antreibt“. Was man nicht spürt, sind wichtige tragende und haltende Bestandteile des Bewegungsapparates. Unter „tragend“ ist das Skelett zu verstehen und unter „haltend“ alle Muskelpartien, die die aufrechte Haltung während des Laufens, teilweise auf nur einem Bein, fixieren. Gemeint sind damit vor allem Rücken- und Bauchmuskulatur, Adduktoren, Abduktoren, Pomuskulatur. Dort wird muskuläre Haltearbeit verrichtet, ohne die der Mensch schlicht in sich zusammenfallen würde. So weit dazu.
Es versteht sich von selbst, dass die Lebenssituation eines Menschen – etwa, was er arbeitet, oder, wie er seine Freizeit gestaltet – auf den Grad der Aktivierung seiner Muskulatur Einfluss hat. Bewegungsfaule Menschen, die irgendwann das Defizit an Bewegung beklagen und dann zu laufen beginnen, werden sich schwerer tun, als allzeit anderweitig aktive Menschen. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass mit wachsendem Lebensalter die Muskulatur schwindet. Nach neueren Forschungen kann dieser Prozess schon vor dem 30. Lebensjahr einsetzen, auf jeden Fall beschleunigt er sich im letzen Lebensdrittel erheblich. Das ist nicht krankhaft, sondern ein völlig natürlicher Prozess, der dem altern geschuldet ist. Dem kann man nur durch Krafttraining entgegen wirken.
Somit wird klar, dass von Mensch zu Mensch recht unterschiedliche Voraussetzungen gegeben sind, wenn er laufen will oder während er das schon tut. Dazu kommt der Faktor der „körperlichen Robustheit“. Die kann gut oder schlecht sein, das ist genetisch festgelegt. So wie es große und kleine Menschen gibt, blonde und dunkle, ausdauertalentierte und solche die sich dabei schwer tun, etc. , gibt es welche deren Bewegungsapparat empfindlicher ist als der von anderen.
Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang laufen, einfach so zum Spaß, weil es sich gut anfühlt, gesund ist, vielleicht zwei-, dreimal die Woche, eine halbe Stunde oder auch mal länger, und niemals irgendwelche orthopädischen Probleme zu beklagen haben. Das ist nicht unnormal in meinem Verständnis. Ihr Körper ist robust genug, um diese begrenzte Belastung wegstecken zu können. Außerdem passt der Körper sich an, verstärkt das Knochengerüst, härtet Gelenke, Bänder, Sehnen ab, macht Muskeln entsprechend leistungsfähig. Wer dasselbe Quantum „Laufen“ pro Woche immer und immer wiederholt, dürfte eher unanfechtbar sein. Da passiert dann höchstens mal was, wenn er zum Beispiel im Wald auf einem Ast umknickt. Aus der stetig wiederholten Bewegung selbst heraus wird sich nicht verletzen und auch keine Beschwerden bekommen. Warum? Siehe oben: Sein Körper hat sich an die Belastung angepasst.
Anders sieht das aus, wenn Läufer ihre Belastung – das Produkt aus Umfang und Intensität des Trainings – immer weiter steigern, oder auch über längere Zeit auf hohem Anpruchsniveau halten. Dann kommt es häufiger zu Beschwerden, die auf einen unzureichend für diese Belastung vorbereiteten Körper zurückführbar sind. Anders sieht es auch aus, wenn Laufeinsteiger recht bald Beschwerden bekommen. Das kann vielfältige Ursachen haben, zum Beispiel muskuläre Defizite oder Ungleichgewichte oder auch fehlende Robustheit.
Die Formel „Wer nur läuft, läuft sich kaputt!“ halte ich für ebenso töricht, wie andere Pauschalisierungen in diesem Zusammenhang. Etwa solche, die auf grundsätzliche Verzichtbarkeit von Krafttraining für Läufer abheben. Es kommt nun mal drauf an! Wo drauf es ankommt habe ich oben dargestellt.
Ich selbst komme ohne Krafttraining nicht aus. Das liegt einerseits an angeborenen Defiziten, wie meiner schon immer desolaten Wirbelsäule. Andererseits aber auch an meinem Laufpensum, das phasenweise, in der Vorbereitung auf Saisonhöhepunkt, recht dramatische Umfänge erreicht. Dann lief ich in der Woche bis zu 250 km. Das verkraftet mein Bewegungsapparat nur, weil ich entsprechende Kraft- und Dehnübungen durchfühe. Wenn ich es schaffe, gehe ich zweimal pro Woche ins Studio, um diese Übungen zu absolvieren.
Ob Fitnessstudio oder daheim für sich ist eine Frage der Willenskraft. Sicher lässt sich für jede zu kräftigende Muskelpartie eine Übung finden, die man auch zu Hause erledigen kann. Allenfalls muss man sich das eine oder andere Gerät anschaffen, ggf. Bänder, gegen deren Zug man arbeiten kann. Im Studio lassen sich viele Übungen leichter realisieren, weil man an Geräten arbeiten kann.
Nicht übersehen sollte man den Faktor des „Zwanges“, der einen zum Krafttraining treibt, wenn man das in einem Studio erledigt. Ich hasse Krafttraining!!! Zuhause hätte ich nicht die Willenskraft, um diesen Hass zu überwinden. Jeder Versuch dazu erstarb nach wenigen Wiederholungen daheim. Dagegen denke ich über die Fahrt ins Studio nicht nach. Das ist „bezahlt“ also gehe ich auch hin.
So viel aus meiner Sicht zu dieser Thematik. Sicher gibt es weitere Aspekte. Nur eines gibt es dazu nicht: Eine einfache Antwort.
Alles Gute
Gruß Udo