Weisle hat geschrieben:Ich bin völlig fertig, mit 34 das ganze restliche Leben auf den tollsten Sport der Welt zu verzichten... ... und jetzt soll ich weder laufen, noch Seilsprinen, noch auf ein Trampolin - nie mehr.. Das kann doch nicht sein..
Hallo Weisle,
du besitzt mit 34 Jahren genügend Lebenserfahrung, um einem Nie-wieder mit den angebrachten Zweifeln begegnen zu können. Natürlich hat dich die Aussage des Arztes erschreckt. Es ist nicht jemand anders, dem Lauf und Sprung "untersagt" wurden, es betrifft dich selbst. Du wirst dazu jedoch Abstand gewinnen in der nun verordneten Zwangspause als Rekonvaleszentin und damit auch emotionale Souveränität zurück erlangen. Es ist doch so: Ein Arzt wird seinem Patienten im Rahmen seines ärztlichen Erfahrungshorizontes und seines Wissens raten. Beides - Erfahrung und Wissen - müssen dabei nicht zwangsläufig dem entsprechen, was "State of the Art" im Jahre 2020 ist. Will heißen: Andere Ärzte bewerten deine Krankheitsgeschichte samt OP und die verbleibenden bzw. wiedererlangbaren Sportmöglichkeiten womöglich ganz anders. Zudem unterliegen Medizin und mit ihr Nachsorge nach Operationen rasanten Entwicklungen. Vielleicht ist der Doc nicht auf dem neuesten Stand?
Zwei Beispiele aus meiner "Karriere als Patient" sollen verdeutlichen, was ich meine. Ich gebe vorab ausdrücklich zu Protokoll, dass man die zugrunde liegenden Krankheitsgeschichten natürlich nicht mit deiner vergleichen kann. Es geht mir nur um die den Beispielen innewohnende "Moral aus der Geschicht'". Beispiel 1 - zum Erfahrungshorizont - betrifft meine Achillessehne: Als ich 2002 mit den ersten Marathons begann, entzündeten sich bei A-Sehnen. Unterschiedlich schwer. Die Schlimmere von beiden ließ ich untersuchen. Man zog ärztlicherseits alle Register bis hin zum MRT. Ergebnis: Irreparable Schädigungen, Narbengewebe in den Sehnen, an dem sich Entzündungen immer wieder festmachen können. Die Schäden stammen nicht vom Laufen, sondern von Jugendsünden, ev. beim Fußballspiel. Der Oberarzt, der mich damals behandelte - und dessen Fähigkeiten über jeden Verdacht erhaben waren! - meinte, dass die A-Sehne irgendwann reißen würde, wenn ich das nicht operieren lasse. Ich nahm mir eine Bedenkzeit über eine Laufsaison. Die Beschwerden ließen in dieser Saison nach, bis sie irgendwann kaum noch wahrnehmbar waren. Dafür gibt es gute Gründe, die hier nichts zur Sache tun. Nach jedem Lauf kann ich Beschwerden durch Druck auf die Sehne provozieren. Ohne diesen Druck ist sie meist unauffällig. Ab und zu meldeten sich die Beschwerden wieder, ich konnte sie jedoch jedes Mal konventionell befrieden. So sehr ich von der Richtigkeit der Aussage "die Sehne wird ohne OP irgendwan reißen" beeindruckt und überzeugt war, so bockfalsch war sie in der Sache. Etliche Jahre später, nach nunmehr 266 Marathons und Ultras, davon einige Ultras über mehr als 20 oder gar 30 Stunden und 200 km tut sie immer noch mehr oder weniger klaglos ihren Dienst. Natürlich habe ich mir immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie der Arzt zu dieser Aussage kommen konnte ... 1. Sein Erfahrungshorizont ließ ihn diese dramatische Einschätzung ausprechen. 2. Nicht jeder Körper ist gleich robust - oder soll ich sagen: gleich wenig robust. Meiner ist offensichtlich orthopädisch um einiges robuster als der Durchschnitt.
Beispiel 2 zum "State of the Art": Vor einigen Monaten wechselte ich meinen Zahnarzt. Ich zweifelte an meinem früheren Zahnarzt, weil ich mich anlässlich des Verlustes eines Zahns und dessen Ersatz (oder nicht) nicht ausreichend beraten fühlte. Es ging nicht (!!!) um Fähigkeiten und Wissen meines früheren Zahnarztes (ca. 60jährig), noch um dessen "Equipment" oder die Praxisführung. Ich war in all den Jahren mit all dem überaus zufrieden. Nach dem Wechsel machte ich anlässlich mehrerer Besuche und Behandlungen in der neuen Praxis immer größere Augen und staunte Bauklötze, was die dortigen technischen Möglichkeiten anbelangt und auch hinsichtlich der Behandlungsmethoden. Zuletzt fiel ich einer vergleichsweise jungen Zahnärztin in die Hände, weil mein Zahnarzt erkrankt war. Ich benutze diese Formulierung bewusst "in die Hände fallen", weil sie meine Gefühl wiedergibt, die ich empfand. Nur hatte ich keine Alternative, da Zahnschmerzen. Kurzum: Die nötige Wurzelbehandlung war knallhart für mich aber sehr erfolgreich. Und am Ende war ich von der Dame mehr als nur begeistert! Der Hammer aber kam en passant als wir über einen anderen, vor Jahrzehnten schon wurzelbehandelten Zahn sprachen und sie mir die (potenziellen) Möglichkeiten aufzählte, wie der behandelt werden könnte, wenn die minimale, wahrscheinlich seit Jahrzehnten bestehende Entzündung an der Wurzel (als schwacher Schatten auf einem Röntgenbild zu sehen) dereinst aufflammen sollte. Als eine Alternative hörte ich (salopp von mir formuliert) "Deckel ab, alte Wurzelkanalfüllung entfernen, nacharbeiten, neu füllen". Eine Alternative, die mein vormaliger Zahnarzt nie auch nur mit einem Wort erwähnt hatte. Ihm galt ein wurzelbehandelter Zahn als "austherapiert" (Wurzelresektion hat eine geringe Erfolgswahrscheinlichkeit, würde ich ohnehin nie zustimmen). Ich stelle nun ohne Schuldvorwurf an meinen vormaligen Zahnarzt fest: Offensichtlich hat sich die Zahnmedizin weiterentwickelt, doch nicht alle Zahnarztpraxen oder Zahnärzte haben diese Entwicklung zur Gänze mitgemacht.
Wie gesagt: Die Fälle sind medizinisch nicht auf deinen übertragbar. Sie zeigen aber, wo deine Zweifel hinsichtlich der dir vorausgesagten sportlichen Einschränkungen ansetzen sollten. Es führt kein Weg an einer zweiten und sogar dritten Facharztmeinung vorbei. Und selbst wenn die eher skeptisch hinsichtlich läuferischer Aktivitäten ausfallen sollte, solltest du dich über die schlimmstmöglichen Konsequenzen im Falle eines "Zuwiderhandelns" informieren lassen. Vielleicht gibt es Spielräume, um auszutesten, was noch geht. Vorsichtig, behutsam, mit Augenmaß.
Auf keinen Fall aber würde ich die Meinung eines Arztes als gottgegeben akzeptieren und aufs Laufen ohne innere Gegenwehr verzichten!
Alles Gute für dich
Gruß Udo