Schland oh Schland
Verfasst: 26.06.2012, 12:22
Vorbemerkung: Als Beitrag im Thread Was können deutsche Läufer von den Fußballern lernen? sind mir die folgenden Zeilen zu lang. Darum mache ich daraus ein eigenes Thema.
Samstag, der 30.4.2011, 19.40 Uhr. Hinter mir liegen zwei Wochen Urlaub in Griechenland. In den letzten Monaten hatte ich mir manchen Genuß versagen müssen. Das habe ich jetzt nachgeholt, mit allem, was die griechische Zuckerbäckerkunst zu bieten hat. Um bei der angestammten Konfektionsgröße zu bleiben, hatte ich ein paar Laufschuhe im Gepäck und was man sonst so zum Behufe der sportlichen Ertüchtigung benötigt.
U.a. werde ich in Olympia von Fräulein V. im Lauf über ein Stadion geschlagen; selbstverständlich nur, weil ich meinen großzügigen Tag habe. Auf Ägina gibt es viele Hundehalter. Nicht alle halten ihre Tiere angekettet oder hinter unüberwindbaren Gartenzäunen. Zum Glück sind diese Vierbeiner keine Langstreckenspezialisten. In Sparta bin ich erstmals in einem Stadion auf einer Bahn unterwegs. Gegeben wurden in dieser Arena Gewitter und Wolkenbruch. Aber mein Intervalltraining von 9x1 km habe ich eisern durchgezogen, weil ich mir vor all den Spartanern, die sich auch nicht ums Wetter scheren, keine Blöße geben wollte. Nur die Hartan renn'n in Spartan auf dem Tartan (schon in der Antike hat Sparta meines Wissens keine herausragenden Dichter hervorgebracht). Die Einheimischen zeigen sich von meiner Leistung immerhin mäßig beeindruckt und quittieren sie mit ein paar typisch lakonischen Bemerkungen. Hinter Nafplio fällt ein Bergrücken steil ins Meer ab. Dort sind die Läufer am liebsten auf einem wunderschönen Weg direkt am Ufer entlang unterwegs, und ringsherum blüht jetzt alles in den herrlichsten Farben, wie überall im griechischen Frühling. So bunt kannte ich das Land bisher noch gar nicht.
Aber das alles ist nun vorbei. Es ist, wie gesagt, Samstag, der 30.4.2011, 19.40. Soeben sind wir am Flughafen Düsseldorf in den Zug nach Hause gestiegen. Der ist übervoll, und wir bleiben eng aneinander gedrängt in der Nähe der Tür stehen. Das hohe Fahrgastaufkommen verdankt sich, nach der Farbe der Kultgewänder etlicher Anwesender zu urteilen, dem Umstand, daß Borussia Dortmund irgendwo in der Nähe gespielt haben muß. Bei dem hier herrschenden Raumklima ist man wahrscheinlich spätestens nach dem dritten Atemzug sturztrunken. Das Gegröle der Gelbhemden übertönt selbst noch das Scheppern halbleerer Bierdosen und ähnlicher Flugkörper, die hier derzeit unterwegs sind. Der Fußboden klebt vom Gerstensaft. Fräulein V. fragt, warum niemand etwas gegen diese Sauerei unternehme. Ich versuche mich an einer ehrlichen Antwort: "Das ist nicht ganz ungefährlich. Diese Typen sind stockbesoffen und kennen wahrscheinlich überhaupt keine Hemmungen mehr. Trotzdem: Wenn ich mich darauf verlassen könnte, daß ich die anderen Leute hier auf meiner Seite habe, würde ich was sagen. Aber ich habe schon öfter erlebt, daß mich am Ende alle anglotzten, als wäre ich hier der Unruhestifter. Das muß ich nicht ausgerechnet jetzt schon wieder haben." Meine Ehrlichkeit reicht allerdings nicht so weit, ihr das vielfältige Waffenarsenal zu beschreiben, das mir bei solchen Gelegenheiten bereits präsentiert worden ist. All die so genannten Schals sind in Wirklichkeit Stolen, an denen man den potentiellen Opferpriester erkennt. Also besser kein falsches Wort!
Diejenigen, die noch halbwegs artikulieren können (ich selbst halte es immer so: Ich sage laut "Alkohol macht diszpliniert", und solange mir das flüssig und deutlich über die Lippen kommt, bestelle ich noch ein Bier), tauschen sich darüber aus, wie viel sie im letzten Urlaub gebechert haben, ohne umzufallen. Das glaube ich denen gern, angesichts der stattlichen Resorptionsmasse, die da unterm Trikot hervorquillt.
Vorbildlich indes ist, in welch christlichem Geist sie brüderlich (ja, es handelt sich um einen der wenigen Fälle, in denen man dieses Wort guten Gewissens verwenden darf und es nicht durch das politisch korrekte "geschwisterlich" ersetzen muß) ihre Habe miteinander teilen, nachdem die letzte Flasche Bier geleert ist: Einer hat Cola, der zweite Whiskey (bzw. was man eben in den USA so nennt...), der dritte einige Plastikbecher. Daraus wird nun flugs Bölkstoff für eine Eucharistie der besonderen Art gemixt.
Heimat, du hast mich wieder...
Stets aufs neue erstaunt mich, daß der Fußball so viele Anhänger findet, die selber in einem Spiel spätestens nach drei Minuten völlig außer Puste wären und beim Zuschauen wahrscheinlich spätestens in der zweiten Halbzeit den Ball nicht mehr von einer Bierflasche unterscheiden können.
Ist das eigentlich auch beim Laufen so? Bilde ich mir nur ein, daß die wenigsten, die sich einen Langstreckenlauf im Fernsehen anschauen, dabei die Kartoffelchips auf der Plauze parken, sondern eher zu denen gehören, die auch selber gelegentlich die Laufschuhe schnüren? Hat man jemals einen Menschen in einem Fan-Shirt mit dem Bildnis Haile Gebrselassies herumlaufen sehen?
Immerhin: Der Fußball bringt selbst unmusikalischste Zeitgenossen zum Singen, sei es die Nationalhymne oder irgendein Stadionschlager. Zwischen dem Gelalle meine ich auch eine Ode auf einen Spieler mir unbekannten Namens vernommen zu haben. Derartiger Ehren werden sonst nur Leute wie Jesus oder Che Guevara zuteil. Aber so ist es nun einmal: Diese Gesänge sind Liturgie. Sie vereinen die Fans miteinander und mit ihren Heiligen. Fürwahr, der Fußball entrückt seine treuesten Fans der Welt, in der sie tagein, tagaus leben.
Und hier nähern wir uns dem Gipfel der Erkenntnis: Fußball ist Religion! Auch die Kirche hat das ja bereits begriffen, wenn sie für das Christentum den Rang der einzig wahren Normalreligion in Deutschland beansprucht und dies u.a. mit Statistiken begründet, denen zufolge mehr Menschen den sonntäglichen Gottesdiensten beiwohnen als den samstäglichen Bundesligaspielen. Wobei hier freilich all diejenigen unter den Tisch fallen, die sich - Premiere sei Dank! - die Spiele am heimischen Fernseher ansehen. Mit ihnen dürften die Zuschauer der sonntäglichen Fernsehgottesdienste zahlenmäßig kaum mithalten können.
Aber zurück zum Fußball: Wie in jeder Religion, so bleiben auch hier die Priester nur so lange im Stande der Heiligmäßigkeit, bis ruchbar wird, daß auch sie nur Menschen sind. Die Vereinigung der weit verbreiteten religiösen Symbole des Rades und des stellvertretend als Opferlamm oder Sündenbock Leidenden materialisiert sich beim Fußball im Trainerkarussell. Diese Priesterkönige werden wahlweise in großer Prozession durch das Stadion getragen oder aber unter den Füßen der desillusionierten Anhänger zermalmt.
Zwischendurch erscheint der Schaffner. Unsere Fahrscheine will er sehen. Ich äußere die Vermutung, daß dieser Wunsch seinen Ursprung in den Beförderungsbestimmungen habe, die von den Fahrgästen den Besitz eines gültigen Fahrscheins verlangen. Der Schaffner bestätigt dies. Daraufhin frage ich ihn, ob denn das Verhalten der Gottesdienstteilnehmer den Beförderungsbestimmungen entspreche. Dies wiederum verneint der Schaffner. Daraufhin bitte ich ihn, zunächst in bezug auf die lautstarke Kulthandlung den Beförderungsbestimmungen zur Geltung zu verhelfen. Anschließend würde ich ihm dann selbstverständlich gern unsere Fahrscheine zeigen. Er seufzt resigniert und geht seinem Geschäft weiter bei den anderen Fahrgästen nach.
Von rechts tönt es: "Ey, wisse paar aufe Fresse, Alter?" "Vergelt's Gott", erwidere ich freundlich. Ach ja, Heimat ist dort, wo man dieselbe Sprache spricht und sich unter seinesgleichen wiederfindet. Zum Beispiel an diesem lauen Samstagabend, dem letzten April.
Samstag, der 30.4.2011, 19.40 Uhr. Hinter mir liegen zwei Wochen Urlaub in Griechenland. In den letzten Monaten hatte ich mir manchen Genuß versagen müssen. Das habe ich jetzt nachgeholt, mit allem, was die griechische Zuckerbäckerkunst zu bieten hat. Um bei der angestammten Konfektionsgröße zu bleiben, hatte ich ein paar Laufschuhe im Gepäck und was man sonst so zum Behufe der sportlichen Ertüchtigung benötigt.
U.a. werde ich in Olympia von Fräulein V. im Lauf über ein Stadion geschlagen; selbstverständlich nur, weil ich meinen großzügigen Tag habe. Auf Ägina gibt es viele Hundehalter. Nicht alle halten ihre Tiere angekettet oder hinter unüberwindbaren Gartenzäunen. Zum Glück sind diese Vierbeiner keine Langstreckenspezialisten. In Sparta bin ich erstmals in einem Stadion auf einer Bahn unterwegs. Gegeben wurden in dieser Arena Gewitter und Wolkenbruch. Aber mein Intervalltraining von 9x1 km habe ich eisern durchgezogen, weil ich mir vor all den Spartanern, die sich auch nicht ums Wetter scheren, keine Blöße geben wollte. Nur die Hartan renn'n in Spartan auf dem Tartan (schon in der Antike hat Sparta meines Wissens keine herausragenden Dichter hervorgebracht). Die Einheimischen zeigen sich von meiner Leistung immerhin mäßig beeindruckt und quittieren sie mit ein paar typisch lakonischen Bemerkungen. Hinter Nafplio fällt ein Bergrücken steil ins Meer ab. Dort sind die Läufer am liebsten auf einem wunderschönen Weg direkt am Ufer entlang unterwegs, und ringsherum blüht jetzt alles in den herrlichsten Farben, wie überall im griechischen Frühling. So bunt kannte ich das Land bisher noch gar nicht.
Aber das alles ist nun vorbei. Es ist, wie gesagt, Samstag, der 30.4.2011, 19.40. Soeben sind wir am Flughafen Düsseldorf in den Zug nach Hause gestiegen. Der ist übervoll, und wir bleiben eng aneinander gedrängt in der Nähe der Tür stehen. Das hohe Fahrgastaufkommen verdankt sich, nach der Farbe der Kultgewänder etlicher Anwesender zu urteilen, dem Umstand, daß Borussia Dortmund irgendwo in der Nähe gespielt haben muß. Bei dem hier herrschenden Raumklima ist man wahrscheinlich spätestens nach dem dritten Atemzug sturztrunken. Das Gegröle der Gelbhemden übertönt selbst noch das Scheppern halbleerer Bierdosen und ähnlicher Flugkörper, die hier derzeit unterwegs sind. Der Fußboden klebt vom Gerstensaft. Fräulein V. fragt, warum niemand etwas gegen diese Sauerei unternehme. Ich versuche mich an einer ehrlichen Antwort: "Das ist nicht ganz ungefährlich. Diese Typen sind stockbesoffen und kennen wahrscheinlich überhaupt keine Hemmungen mehr. Trotzdem: Wenn ich mich darauf verlassen könnte, daß ich die anderen Leute hier auf meiner Seite habe, würde ich was sagen. Aber ich habe schon öfter erlebt, daß mich am Ende alle anglotzten, als wäre ich hier der Unruhestifter. Das muß ich nicht ausgerechnet jetzt schon wieder haben." Meine Ehrlichkeit reicht allerdings nicht so weit, ihr das vielfältige Waffenarsenal zu beschreiben, das mir bei solchen Gelegenheiten bereits präsentiert worden ist. All die so genannten Schals sind in Wirklichkeit Stolen, an denen man den potentiellen Opferpriester erkennt. Also besser kein falsches Wort!
Diejenigen, die noch halbwegs artikulieren können (ich selbst halte es immer so: Ich sage laut "Alkohol macht diszpliniert", und solange mir das flüssig und deutlich über die Lippen kommt, bestelle ich noch ein Bier), tauschen sich darüber aus, wie viel sie im letzten Urlaub gebechert haben, ohne umzufallen. Das glaube ich denen gern, angesichts der stattlichen Resorptionsmasse, die da unterm Trikot hervorquillt.
Vorbildlich indes ist, in welch christlichem Geist sie brüderlich (ja, es handelt sich um einen der wenigen Fälle, in denen man dieses Wort guten Gewissens verwenden darf und es nicht durch das politisch korrekte "geschwisterlich" ersetzen muß) ihre Habe miteinander teilen, nachdem die letzte Flasche Bier geleert ist: Einer hat Cola, der zweite Whiskey (bzw. was man eben in den USA so nennt...), der dritte einige Plastikbecher. Daraus wird nun flugs Bölkstoff für eine Eucharistie der besonderen Art gemixt.
Heimat, du hast mich wieder...
Stets aufs neue erstaunt mich, daß der Fußball so viele Anhänger findet, die selber in einem Spiel spätestens nach drei Minuten völlig außer Puste wären und beim Zuschauen wahrscheinlich spätestens in der zweiten Halbzeit den Ball nicht mehr von einer Bierflasche unterscheiden können.
Ist das eigentlich auch beim Laufen so? Bilde ich mir nur ein, daß die wenigsten, die sich einen Langstreckenlauf im Fernsehen anschauen, dabei die Kartoffelchips auf der Plauze parken, sondern eher zu denen gehören, die auch selber gelegentlich die Laufschuhe schnüren? Hat man jemals einen Menschen in einem Fan-Shirt mit dem Bildnis Haile Gebrselassies herumlaufen sehen?
Immerhin: Der Fußball bringt selbst unmusikalischste Zeitgenossen zum Singen, sei es die Nationalhymne oder irgendein Stadionschlager. Zwischen dem Gelalle meine ich auch eine Ode auf einen Spieler mir unbekannten Namens vernommen zu haben. Derartiger Ehren werden sonst nur Leute wie Jesus oder Che Guevara zuteil. Aber so ist es nun einmal: Diese Gesänge sind Liturgie. Sie vereinen die Fans miteinander und mit ihren Heiligen. Fürwahr, der Fußball entrückt seine treuesten Fans der Welt, in der sie tagein, tagaus leben.
Und hier nähern wir uns dem Gipfel der Erkenntnis: Fußball ist Religion! Auch die Kirche hat das ja bereits begriffen, wenn sie für das Christentum den Rang der einzig wahren Normalreligion in Deutschland beansprucht und dies u.a. mit Statistiken begründet, denen zufolge mehr Menschen den sonntäglichen Gottesdiensten beiwohnen als den samstäglichen Bundesligaspielen. Wobei hier freilich all diejenigen unter den Tisch fallen, die sich - Premiere sei Dank! - die Spiele am heimischen Fernseher ansehen. Mit ihnen dürften die Zuschauer der sonntäglichen Fernsehgottesdienste zahlenmäßig kaum mithalten können.
Aber zurück zum Fußball: Wie in jeder Religion, so bleiben auch hier die Priester nur so lange im Stande der Heiligmäßigkeit, bis ruchbar wird, daß auch sie nur Menschen sind. Die Vereinigung der weit verbreiteten religiösen Symbole des Rades und des stellvertretend als Opferlamm oder Sündenbock Leidenden materialisiert sich beim Fußball im Trainerkarussell. Diese Priesterkönige werden wahlweise in großer Prozession durch das Stadion getragen oder aber unter den Füßen der desillusionierten Anhänger zermalmt.
Zwischendurch erscheint der Schaffner. Unsere Fahrscheine will er sehen. Ich äußere die Vermutung, daß dieser Wunsch seinen Ursprung in den Beförderungsbestimmungen habe, die von den Fahrgästen den Besitz eines gültigen Fahrscheins verlangen. Der Schaffner bestätigt dies. Daraufhin frage ich ihn, ob denn das Verhalten der Gottesdienstteilnehmer den Beförderungsbestimmungen entspreche. Dies wiederum verneint der Schaffner. Daraufhin bitte ich ihn, zunächst in bezug auf die lautstarke Kulthandlung den Beförderungsbestimmungen zur Geltung zu verhelfen. Anschließend würde ich ihm dann selbstverständlich gern unsere Fahrscheine zeigen. Er seufzt resigniert und geht seinem Geschäft weiter bei den anderen Fahrgästen nach.
Von rechts tönt es: "Ey, wisse paar aufe Fresse, Alter?" "Vergelt's Gott", erwidere ich freundlich. Ach ja, Heimat ist dort, wo man dieselbe Sprache spricht und sich unter seinesgleichen wiederfindet. Zum Beispiel an diesem lauen Samstagabend, dem letzten April.