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Wo alle ganz klein anfangen - Alpenbrevet 2016

Verfasst: 31.08.2016, 11:27
von aghamemnun
Ja, ich weiß. Das hier ist ein Laufforum. Aber Crosstraining hat ja noch niemandem geschadet - also warum nicht auch einmal ein Bericht von einer Veranstaltung in einer anderen Sportart? Deshalb also heute:

Wo alle ganz klein anfangen - Alpenbrevet 2016

"Sie haben zu mir gesagt, ich kann Sie mal am A#### lecken?!" Gar so arg hätte er doch gar nicht schreien müssen, schliesslich hat er sich gerade eine knappe Handbreit vor mir zu voller Grösse aufgerichtet. Wenigstens hat er eine trockene Aussprache.

"Was? Das habe ich überhaupt nicht gesagt. Ich wollte bloß fragen..."

Himmelblaues Hemd, dunkelblaue Weste, rote Dienstmütze. Sein Aufzug weist ihn aus als Handlanger des grössten deutschen Veranstalters für Abenteuerreisen.

"Nein, das hat er überhaupt nicht gesagt," bestätigt die Frau, die gerade ihren Rollkoffer vorbeizieht.

"Hören Sie auf, mich zu bedrohen! Sie bleiben jetzt weg von mir und halten Abstand!" (Stand ich nicht zuerst hier?) "Ich wollte Sie bloss fragen..." "Halten Sie Abstand! Wir reden hier wie erwachsene Menschen miteinander oder gar nicht!" (Oder täusche ich mich?) "Könnten Sie mir sagen..." "Ich muss erstmal rausfinden, wie das weitergeht mit diesem Zug!" (Kurzer Blick auf meine Fahrkarte: Bin ich im richtigen Film?) "Ich habe aber eine ganz andere Frage."

So geht das noch ein Weilchen fort, bis uns ein weiterer Herr in gleicher Gewandung wie mein, nun ja, Gesprächspartner begegnet. "Entschuldigen Sie, gerade wurde durchgesagt, Fahrgäste, die bis Mannheim oder Karlsruhe fahren, sollten hier den Zug verlassen und später den ICE nehmen. Das betrifft mich. Aber wird mein Fahrrad denn auch in dem ICE mitgenommen?" "Fahrräder werden im ICE grundsätzlich nicht transportiert, das wissen Sie doch!" "Nein, das wusste ich nicht, es ist das erste Mal, dass ich versuche, mit einem Fahrrad Bahn zu fahren." "Ach, was Sie immer daherlabern..."

So viel herrlicher Nervenkitzel! Und dabei bin ich noch keinen einzigen Meter gefahren! Die ausgefallene Klimaanlage, der wir die Verspätung und die Animateure ihre stark überhitzten Hirnwindungen verdanken, arbeitet nach der Abfahrt zwar noch immer nicht, sorgt aber eben deshalb für eine kaum zu übertreffende Einstimmung auf die Hitze, die mich morgen beim Alpenbrevet erwartet. Auf den vier Pässen wird es zwar kühler, aber dort muss man sich ja auch erst einmal hinaufarbeiten. Das wird auf keinen Fall ganz glatt gehen, schon allein deshalb, weil der Weg auf den Gotthardpass über die Tremola vecchia, die alte Kopfsteinpflasterstrasse führen wird.

Schliesslich aber erreiche ich meinen Zielbahnhof - nicht ohne eine weitere Verspätung verursacht zu haben, da eine verschlossene Wagentür meinen Ausstieg verhindert und der freundliche Zugführer ("halt's Maul, du gehst mir so was von auf den Sack!") eine Zugbegleiterin hinzurufen muss, die über einen Schlüssel verfügt.

Die weitere Fahrt ins malerisch im Aaretal gelegene Meiringen verläuft mit dem Auto, und zwar in völlig unspektakulärer Begleitung. Lauter Leute, die so normal waren, dass eine es sich nicht lohnt, hier irgendwelche Worte über sie zu verlieren, obschon sie es selbstverständlich verdient hätten.

Der laue Samstagmorgen lässt die knapp 30 Grad bereits ahnen, unter denen das Tal heute ächzen wird. Anders als beim Laufen sehe ich mir das Startfeld heute dezent von hinten an. Noch nie bin ich auch nur die winzigste RTF mitgefahren. Also gleichsam von 0 auf 172 km. Und das mir, der ich selbst von relativ sehr harmlosen Himmelfahrtskommandos wie "von 0 auf 42" stets konsequent abgeraten habe und dies bei jedem anderen als mir selbst natürlich auch weiterhin tun werde. Aber man wird eben immer wagemutiger mit dem Alter.

Der grosse Volksradwandertag beginnt mit einem kleinen Hümpel, nach dem es erst einmal wieder bergab geht. Schon in der ersten Kurve schneiden mehrere Radler meine Fahrlinie, während hinter mir ein stürzender Fahrer mit ohrenbetäubendem Geschepper auf sich aufmerksam macht. Damit steht mein Entschluss fest: Ich muss dieses Gruppetto grosso umgehend verlassen, andernfalls steht es auf der Abfahrt vom ersten Pass übel um meine Überlebenschancen. Also schiebe ich mich langsam aber konsequent nach vorn in dem sich ohnedies auseinanderziehenden Feld.

1500 Höhenmeter sind es bis hinauf zum Grimselpass. Noch stellen die Berghänge sich schützend zwischen uns und die Sonne, die mittlerweile aufgegangen ist, wie die rötlich leuchtenden Bergzinnen kundtun, die das mehr als 4000 Meter hohe Finsteraarhorn flankieren. Einstweilen unbehelligt vom eisenschmelzenden Griff des von keiner Wolke getrübten Gestirns ziehen wir unsere Kurven durch das Haslital. Das klingt sehr niedlich, wie so vieles, was aus der Schweiz kommt und auf -li endet. Später auf dem Pass werde ich die Biberli kennenlernen, von denen ich zuvor noch nie etwas gehört hatte. Aber davon später. Zuerst stehen noch männigliche Kehrli an. Die Bäume verchümmern erscht zu Bäumli, um schliesslich ganz zu verschwinden und grünen Matten, roten Flechten, grauen Felsen und weissen Gletschern zu weichen. Und natürlich der Sonne, vor der selbst Aletsch- und Rhônegletscher jeden Tag aufs Neue kapitulieren und deren baldiges Hereinbrechen der sich zusehends ins Stahlblaue erhellende Himmel ankündigt. Voraus türmt sich der Bergsattel, und mehrere kaskadierende Staumauern täuschen die Passhöhe vor, die sich in Wirklichkeit noch Hunderte von Metern weiter oben befindet. Weit oben (kurz vor der Kimm, wenn ich das aus alter Verbundenheit zum Meer heraus einmal so sagen darf) sieht man diejenigen radeln, die ein höheres Tempo angeschlagen haben. Das ist anders als beim Laufen, wo die schnellen Teilnehmer bald dem Blick entschwinden. Dort wähnt man sich weit vorn, hier gibt die weite Sicht nach oben den Blick auf die nüchterne Wirklichkeit frei.

400 Höhenmeter vor dem Pass geht es ein Stück am Räterichsbodensee entlang, also auf vollkommen ebener Strecke. Ein seit fast anderthalb Stunden nicht mehr erlebtes Gefühl, das ich aber nicht lange auskosten muss, denn schon locken die nächsten Kehren. Man merkt schon, ich fange an, mir die Sache schönzureden. In Wirklichkeit wäre es sehr freundlich vom Pass, wenn er endlich einmal käme. Tut er aber nicht. Wer stattdessen kommt, ist die Sonne. Aber noch ist sie wohl nicht richtig wach, und ich bin ihr ja auch schon auf fast 2000 Meter Höhe entgegengekommen, wo ein sachter Fallwind die heisser werdende Stirn umschmeichelt - nur um auch mal in das barocke Gesülze zu verfallen, dem die von der Züricher Reformation des Huldrych Zwingli stark geprägten Schweizer eher abhold zu sein scheinen. Das Elend hält sich also noch in Grenzen. In jeder Hinsicht. Ein gelbes Schild verheisst Verpflegung nach 1000 m. Weit unten sieht man diejenigen radeln, die ein geringeres Tempo angeschlagen haben.

Nun also noch einmal ein wenig angezogen, dann empfängt mich lieblicher Alphörnerklang. Drei leibhaftige Musici mit überlangen Tröten hat der Veranstalter aufgeboten, um mit Schweizer Lokalkolorit zu prunken! Ich habe schon so viele Läufe und Zielbereiche erlebt, die alle nur erdenklichen Musikanten und Perkussionisten mit brachialer Gewalt in folkloristische Themenparks umzuwidmen bestrebt waren - dies hat nun endlich einmal wirklichen Charme! Schappo!!! (Keine Ahnung, ob letzteres wirklich Schweizerdeutsch ist, aber es klingt jedenfalls so, als würde es hier verstanden.)

Nebenan ein Parkplatz, auf dem sich einige Automobilisten eingefunden haben, von denen manche Radfahrer heute auf der Strecke begleitet werden und die immer wieder für Verkehrsstau sorgen.

Der Ausschreibung war zu entnehmen, dass auf den Gipfeln auch Schokolade gereicht werden würde. Das hatte ich naserümpfend zur Kenntnis genommen. Welchen energetischen Sinn sollte die Aufnahme derartiger Genussmittel während der Fahrt schon haben? Sehr bald jedoch bekenne ich mich bedingungslos dazu, dass die Streckenverpflegung nicht nur der physischen, sondern vor allem auch der mentalen Regeneration zu dienen habe. Anders gesagt: Neben all den aufgebotenen Bouillons, Riegeln, Gels und Sportgetränken, die den Leib wieder aufbauen, braucht es durchaus auch die gute Schweizer Schokolade für die Seele. Ausserdem mache ich Bekanntschaft mit einer mindestens ebenbürtigen Alternative zu den heimischen Printen: den (niedlichen, wie wir uns erinnern) Biberli, einer Art Mittelding aus Honig- und Pfefferkuchen (von letzteren haben sie ihren Namen). Gern verweile ich eine gute Viertelstunde auf dem Pass. Außerdem will ich warten, bis ich wieder im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin, um mich alsdann voll konzentriert in die Abfahrt stürzen zu können. Aber schon nach wenigen Metern brauche ich wieder eine Pause. Vor mir winden sich zahlreiche Serpentinen in ein Tal, das einen türkis in der Sonne leuchtenden und kristallklar sprudelnden, kleinen Gebirgsfluss beherbergt, den Rotten. Wenige Kilometer von hier nimmt er seinen Anfang, und sein Weg ist weiter als meiner. 800 km hat er vor sich, dann endlich ergiesst er sich in einem mächtigen Delta ins Mittelmeer - nachdem er zuvor noch den Genfer See durchquert hat, wo er schon längst auf den Namen Rhône hört. Kein Wunder, denn hier bin ich im Wallis, wo nicht nur Deutsch gesprochen wird, sondern auch Französisch.

Diese Szenerie muss fotografisch festgehalten werden. Auf die wenigen Minuten kommt es nicht an. Bergab sind ohnehin alle schneller als ich. Am nächsten Anstieg sind wir wieder vereint, ganz fest versprochen!

Unten in Gletsch teilt sich die Strecke: Der kürzere Kurs führt links hinauf zum Furkapass, die längeren halten sich noch einige km im Rhônetal. James (wie auf seiner Startnummer zu lesen ist) und ich geben einander abwechselnd Windschatten und bringen die Ebene zügig hinter uns, bevor es wiederum in eine andere Welt geht. Noch manches Mal werden wir einander heute ein fröhliches und aufmunterndes "Hi again" zuwerfen.

Die versprochene andere Welt wartet unserer jenseits des Nufenenpasses. In Ulrichen hinter der Rhônebrücke beginnt der Aufstieg. Der grosse Alpendesigner (dem mit der Schweiz überhaupt ein Glanzstück von unbeschreiblicher Schönheit gelungen ist!) hat ihn sehr wohlwollend gestaltet und uns über 1200 Höhenmeter eine ziemlich konstante Steigung von 8-9% eingeschenkt, vergleichbar also einem mittelstarken belgischen Bier (na gut, ist wenigstens kalt...) oder einem kühlen, leichten Vinho verde aus Portugal (maravilhoso!!!). Überhaupt ist es an den Anstiegen wichtig, sich - so lange das Delirium nicht eh von allein kommt - vor Augen zu halten, welchem Getränk die momentane Steigung von den Prozentzahlen her entspricht. Dann wird man sich stets ein wenig zu früh, aber beschwingten Herzens und Sinnens auf der Passhöhe wiederfinden. Apropos - das Roadbook für diese Tour hatte doch für den Aufstieg zum Grimselpass zwischendurch einen Kilometer guten Portweins verheissen. Wo ist der geblieben?! An der betreffenden Stelle musste ich mit einem in der Sonne lauwarm gewordenen Bockbier vorlieb nehmen. Aber das bleibt der einzige Wermutstropfen des Tages. Und das noch nicht einmal im Wortsinne, denn dazu hätte es mindestens 15% gebraucht.

Indes mogelt man sich noch im Schatten hoher Hänge gleichmässig bergan, bis die Sonne irgendwann dahinterkommt, dass sich da jemand anschleicht. Aber zu spät! Schon sind fast 2000 Meter Höhe erreicht. Vor mir liegt nicht einmal mehr das Doppelte meines Haushügels.

Und dann bin ich oben. Hier lasse ich das Wallis hinter mir und gelange ins Tessin. Weit öffnet sich der Blick auf die Umlande. Der Kamm gegenüber am anderen Ufer des Ticino gehört bereits zu Italien. Auf weniger als einen Kilometer werde ich mich der Grenze nähern. Allerdings erst unten im Tal. Also abermals Stärkung und mentale Regeneration. Diesmal ist der Weg bergab mit Betonplatten gepflastert. Darauf verstehen sich die Schweizer freilich besser als ihre belgischen Kollegen, die bei mir in der Gegend eine Piste aus mittlerweile stark angefressenen Elementen hinterlassen haben, die man besser nur mit ohnehin bereits schrottreifem Material befährt.

Bald ist die Talsohle des Val Bedretto erreicht. Der Ticino fliesst dem Lago Maggiore entgegen, der von hier aus ein ganzes Stück näher liegt als mein heutiges Ziel. Alle Schilder und Beschriftungen grüssen auf Italienisch, und kurz vor Ende des Sommers kommt noch einmal üppige südländische Stimmung auf. Tante Grazie ist hierzulande keine klapprige Anverwandte, deren Millionen ich dereinst zu ererben hoffe, sondern ein Ausdruck tiefster Dankbarkeit. Zum Beispiel für das grossartige Panorama, das sich heute den ganzen Tag über dem Auge des Nordländers darbietet. Oder für die leibliche und seelische Erquickung, die uns die vielen freundlichen Freiwilligen an den Verpflegungsstationen unermüdlich bereitstellen!

Da es weiter leicht bergab geht, der Weg sich also von allein fährt, verbringe ich die Zeit mit Singen:

Steinschlag, ein Löchlein,
Blut fliesst im Bächlein,
Haken löst sich aus der Wand.
Freund stürzt kopfüber
an mir vorüber,
reisst mich aus sicherem Stand.
(Eukalyptusbonbon!)
Lebt wohl, ihr Berge, sonnige Höhen,
Bergvagabunden war'n wir, ja wir.
Lebt wohl, ihr Berge, sonnige Höhen,
Bergvagabunden war'n wir.

Das hören allerdings höchstens die, die es auch hier eiliger haben als ich und auch darauf verzichten, an ihrer Fotosammlung zu arbeiten. Und auch die nur im Vorbeifahren.

Airolo. Hier wurde einst das Chaos erfunden. Ein ständig wachsendes Über-, Unter- und Durcheinander von Strassen, Eisenbahnen und sonstigen Verkehrswegen. Es fing wohl damit an, dass hier einst der weithin bequemste Weg über die Alpen gebahnt wurde. Seither zieht der Gotthardpass jedweden Verkehr derart magisch an, dass mindestens alle paar Jahrhunderte eine neue und noch grössere Strasse gebaut werden muss. Drei Tunnel durchlöchern mittlerweile die Berge nördlich der Stadt. Ach, armer Hannibal! Hättest du nur ein paar tausend Jahre länger gewartet mit deiner Transalp - du hättest alle deine 37 Kriegselefanten sicher durchgebracht und wärst so vieler Strapazen ledig geblieben! Und über allem thronen damals wie heute Pizzo Lucendro und Gemsstock mit ihren jeweils fast 3000 Metern und grinsen über das hektische Gedränge hienieden.

Holprig ist die Tremola, die altehrwürdige Kopfsteinstrasse hinauf zum Pass. Im unteren Teil begegnen immer wieder gnädige Asphaltpassagen, denen die Schweizer es verdanken, dass die Tremola immer noch nicht in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde. Aber vielleicht wird der Belag ja abgetragen und wieder durch Granitpflaster ersetzt, über das sich dann künftige Radfahrergenerationen freuen dürfen. Weil sich dann nämlich nicht einmal mehr die wenigen Automobilisten hier entlang trauen, die uns heute hier begegnen. Es ist vielleicht der schönste Abschnitt der Strecke, denn mit unseren Fahrrädern sind wir hier endlich einmal unter uns. Ich geniesse die Ruhe. Hier gibt es nur das sachte Rattern der Reifen auf den Steinen und die gleichmässigen Atemzüge der Leidens- oder auch Genussgenossen, die sich die 1000 Höhenmeter emporarbeiten. Die Steigung bleibt beständig unterhalb der Weingrenze. Schade. Aber inzwischen ist es selbst in den Lagen um die 2000 Meter so warm geworden, dass mir auch ein kühles belgisches Tripelbier sehr zupass kommt.

Schliesslich erreiche ich die dritte Höhe. Hier verweile ich nur für einen kurzen Rundumblick, denn jäh ist der Kontrast zwischen der idyllische Nostalgie atmenden Tremola und dem Pass, wo sich offenkundig der Ballermann der Alpen befindet. Nicht einmal meine von der Sonne verdunkelte orangefarbene Brille macht das wirre Treiben mit Motorrädern, Bussen und deren nicht immer ganz nüchternen Insassen erträglich. Dies ist ein legendärer Ort. Also wähnen auch alle, sie müssten einmal hier gewesen sein ("Ach, wären Sie bitte mal so freundlich, von mir vor dem Passschild ein Selfie zu machen?"). Nein, Merci vielmals! Nichts wie weg hier.

Hinab nach Andermatt geht es nun auf einer ziemlich neuen Strasse. Ich weiss nicht, um die wievielte Gotthardtrasse es sich handelt, niemand hat sie je gezählt. Aber auch sie muss inzwischen schon wieder veraltet sein, denn der grösste Teil des Verkehrs ist anscheinend längst wieder anderswo unterwegs. Mir ist es recht, dann kommt mir wenigstens keiner dazwischen auf meiner wieder einmal dilettantischen und defensiven Abfahrt. Nun bin ich beinahe wieder im Rheinland. Nur wenige Kilometer sind es von hier bis zur Quelle des Vorderrheins. Rhein, Rhône, Ticino, aghamemnun - zwischen diesen Gipfeln fangen sie alle ganz klein an.

Hinter Andermatt lauert die Schöllenenschlucht, sozusagen die Via Mala unserer Strecke. Ein teilweise steil bergab verlaufendes Panoptikum an Baustellen und Tunneln. Tief schneidet sich die Schlucht ins Tal der Reuss. Beiderseits nichts als Berghänge. Eigentlich kann man sich hier also gar nicht verfahren. Dennoch meinen offensichtlich alle anderen Verkehrsteilnehmer, meiner ortskundigen Führung zu bedürfen. Denn keines der hinter mir einhertrottenden Automobile überholt mich, so dass ich bald eine ansehnliche Schlange hinter mir herziehe. So geht's her bis Göschen, wo die Strecke wieder übersichtlicher wird.

Kurz darauf ist Wassen erreicht. Hier beginnt der 1300 m hohe Aufstieg zum Sustenpass. Die Berge drumherum tragen so possierliche Namen wie Fleckistock oder Stucklistock und überragen das Tal, das ich nun durchfahre, um mehrere tausend Meter. Aber die Idylle täuscht. In Wirklichkeit sieht man vor sich mindestens tausend Kilometer weit nichts als zimmerwarmes Starkbier der Duvel-Klasse. Igitt! Irgendwo auf halber Höhe schiebt sich eine riesige Wolke huldvoll vor die Spottfratze der Sonne, die der sich ins Unendliche dehnenden Szenerie bis jetzt noch eine schillernde, geradezu trügerische Schönheit verliehen hatte.

Alle hundert Höhenmeter gönne ich mir ein wenig Abwechslung: einige Umdrehungen Wiegetritt und anschliessend eine kühle Dusche aus der Flasche. Aber es hilft alles nichts - zusehends gewinnt der Stumpfsinn überhand. Verzweifelt suche ich nach Fotomotiven, die eine Pause rechtfertigen würden. Aber da ist nichts. Nur die Strasse am Berghang vor dem sich himmelhoch türmenden Massiv des Wendenhorns. Also keine Ausrede für einen kurzen Abstieg vom Rad. Zu allem Überfluss werde ich auch noch von zwei Fahrern überholt. Das ist mir den ganzen Tag lang noch nicht passiert. Und zwar ausgerechnet Flachlandtiroler aus meiner Nachbarschaft. Welche Demütigung!

Endlich zeigen ein paar Kehren an, dass die Qual bald ein Ende hat. Wieder das gelbe, Erquickung verheissende Schild. Ein Tunnel, dahinter die Verpflegungsstation.

Der Tag scheint sich seinem Ende entgegen zu neigen. Oder liegt das nur daran, dass ich, angelangt auf der letzten Passhöhe, das Ziel dicht vor Augen habe? In Wirklichkeit ist es noch mitten am Nachmittag. Also geniesse ich noch einmal ausgiebig die zumindest dem Vernehmen nach sehr gesunde Höhenluft und begebe mich dann auf die letzte und längste Abfahrt. Wieder werde ich von so manchen überholt, an denen ich auf dem Anstieg noch locker vorbeigezogen war. Beneidenswert! Andererseits - vielleicht haben die armen Hunde ja niemanden, der zuhause auf sie wartet oder sind ganz einfach des Lebens überdrüssig.

Ein paar letzte Fotos noch, dann bin ich wieder im Tal. Dort noch einmal ein Kilometer herrlich kühler und herber, prickelnder Cidre - dann ist der Blick frei auf Meiringen, wo die sich Tour rundet. Im Ziel sind gerade die Riegel alle, die unterwegs so gut geschmeckt haben. Gut. Dann also direkt zurück zum Campingplatz. Nach ein paar Stunden Ruhe und frisch geduscht fahre ich wieder in den Zielbereich, um zu schauen, ob meine Begleiter auch schon da sind. Ich brauche nicht lange zu warten, bevor sie eingefahren kommen. Dann beschliessen wir den Tag mit einer Hopfenkaltschale irgendwo im Prozentbereich des mittleren Grimselpasses. Pröschtli!

Verfasst: 31.08.2016, 19:08
von Steffen42
Danke für den tollen Bericht und allen Respekt vor Deiner Leistung.

Verfasst: 31.08.2016, 22:15
von Murks
Steffen42 hat geschrieben:Danke für den tollen Bericht und allen Respekt vor Deiner Leistung.
Denn kann ich mich nur vollumfänglich anschließen! Der Erwerb des Rennrads hat sich wohl gelohnt.

Gruß
Markus

Verfasst: 01.09.2016, 10:14
von Fusio
Herrlicher Bericht und Glückwunsch. Der Susten zum Schluss ist schon nochmal ein ordentliches Kaliber. :)

Verfasst: 01.09.2016, 18:27
von Raffi
Auch von mir :respekt: Gratulation.
Da bekommt man ja wieder Sehnsucht mal wieder ins Wallis zu fahren.
In Ulrichen gibt es eine super Bäckerei mit einer Wahnsinns Hausplatte :sabber:
Musste mal einen ganzen Tag dort verbringen, weil ich auf ein Ersatzteil warten musste :zwinker2:
Grüße Raffi

Verfasst: 01.09.2016, 20:03
von aghamemnun
Vielen Dank für Glückwünsche, Lob und alle übrigen Wohltaten! Ich fange hier schon wieder an, mit den Hufen zu scharren und kann das Wochenende gar nicht erwarten. Am Samstag werde ich hoffentlich in den Genuß einer gemütlichen 100-km-Tour durch die Eifel kommen. Vorher ist aber morgen wieder eine Laufeinheit dran. Wenn die Beine mitmachen, gibt es zur Belohnung Lauf-ABC oder Bergsprints.

Verfasst: 13.09.2016, 14:09
von alcano
Schappoo! :nick: