11. Würzburger Gedächtnislauf - Bin ich zu blöd für einen Marathon?
Verfasst: 13.03.2005, 01:42
Ursprünglich wollte ich heute in Würzburg beim Gedächtnislauf einen Bestzeitversuch über 21,1 km angehen - nachdem ich aber vom Frühlingslauf in München nächste Woche mit hoher Forumspräsenz erfahren hatte, verlegte ich meine HM-Ambitionen 8 Tage nach hinten in die Weltstadt mit Herz. Nun stellte sich mir die Frage: Soll ich vielleicht aber trotzdem in Würzburg starten? Da könnte man doch so einen klitzekleinen Trainingsmarathon über 44 km in lockeren 4 1/2 Stunden hinlegen. Soll ja landschaftlich ganz nett sein am Main. Aber andererseits - 8 Tage nach einem 44 km-Lauf schon wieder ein HM? Und das mit Bestzeitambitionen? Das kann doch nicht vernünftig sein. Ist es auch nicht. Ich habe aber nie für mich in Anspruch genommen, vernünftig zu sein. Und 44 km hört sich doch nochmal etwas geiler an als ein Marathon. Und ich wußte definitiv, daß mir diese 44 km Spaß machen würden. Außerdem brauche ich das im Moment. Mitten in der Vorbereitung auf's zweite juristische Staatsexamen, kein nennenswertes Privatleben - also anmelden für 4 1/2 Stunden Fun & Excitement.
Als Realdedo letztens hier im Forum meinte, er laufe den Halbmarathon mit und habe auch keinen Zeitdruck, waren die ersten 21 km - jedenfalls sozialintegrativ-unterhaltungstechnisch - auch schon geritzt. Nur die zweite Hälfte könnte - wie in Bad Füssing - wieder ein sehr einsamer Kampf werden.
Natürlich wollte ich mein eigentliches Marathontraining für den Trainingsmarathon nicht aufgeben und einfach den 35er mit 6 km Endbeschleunigung der dritten Greif-CD-Woche durch den 44er ohne Endbeschleunigung ersetzen (nach den 3 km Endbeschleunigung letzten Samstag konnte ich mir auch überhaupt nicht vorstellen, das ganze eine Woche später 6 km durchzuhalten). Also nix Tapering, da nur Trainingsmarathon. Montag 10 km Tempodauerlauf in 46 Minuten, Mittwoch 4 x 2000m Intervalle in jeweils 8:24 min, Donnerstag nochmal locker 13 km und dann am Freitag Ruhepause. Mir tat am Freitag wirklich alles weh.
Als ich heute früh aufstand, war ich nicht wirklich in der Stimmung, bei einem Volkslauf mitzulaufen. Und schon gar nicht 44 km. Die Wettervorhersage war auch nicht gerade rosig. Dann reißt mir bei meiner Wintertight noch ein Reißverschluß-Verschluß und ich krieg das Ding kaum noch über die Ferse drüber. Ach ja - ich bin seit ein paar Tagen stolzer Besitzer eines MP3-Players - das wäre doch eine tolle Alternative zur möglicherweise stillen Einsamkeit auf der zweiten Hälfte der Runde. Erst heute früh kam mir der Gedanke, daß ich das Ding vielleicht noch mit Musik vollpacken sollte. Also hing ich von 5:30 Uhr bis kurz vor acht vor dem Rechner und machte mich mit der Kunst des MP3-Erstellens vertraut. Lebenswichtig für Durchhänger: Der Rocky-Soundtrack.
Um halb zehn war ich dann im Startbereich, holte meine Unterlagen ab, monierte, daß ich eigentlich nicht nur HM, sonder 44 km laufen wollte, alles kein Problem, gibt's halt bloß keine Urkunde. Kurz noch mal auf's Klo, dann Realdedo suchen und lospurzeln. Da muß ich noch was loswerden: Jedesmal bei Volksläufen, gibt es rücksichtslose Penner, die die Sitztoiletten z.T. 10 bis 15 Minuten unter Verschluß halten. Man hört sie hundertmal Toilettenpapier abreißen, fünfmal spülen, Flaschen werden auf den Boden gestellt, sie stehen auf, setzen sich wieder hin usw. Was machen die Kerle eigentlich da drin?
Gegen 10:15 Uhr habe ich mich dann mit Realdedo getroffen - sympathisch auf den ersten Anblick, immer zu Scherzen aufgelegt - selbst in Gegenwart einer Frau, die ihm gerade seine Startnummer mit Sicherheitsnadeln auf der Jacke festpinnt. Ehrlich gesagt sah ich schon kurze Zeit schwarz für die piercingtechnische Jungfräulichkeit seiner Brustwarzen.
Um 11 Uhr fiel dann der Startschuß oder etwas ähnliches und wir laufen los. Meine Beine fühlen sich schwer an und lachen mich und meinen Wahnsinn aus. Das kann ja heiter werden. Wenigsten kommt in genau diesem Moment die Sonne raus und bringt mich so richtig in Volkslaufstimmung.
Die ersten 6 Kilometer waren eher eine Quälerei. Die Strecke war viel zu eng, und nachdem das vordere Feld den frisch gefallenen Schnee bereits in eine tückischen Wettkampfring für Schlammcatcherinnen verwandelt hatte, war von Laufgenuß eigentlich wenig zu spüren. Meine Füße waren innerhalb von wenigen Minuten klatschnaß, und das Rumgespringe zwischen den Pfützen wirkte sich auch nicht gerade regenerativ auf meine müden Oberschenkel aus.
Es ging trotzdem recht flott. Trotz schwerer Beine fühlte ich mich bei unserem Tempo (immer so um die 5:40 min/km) eigentlich sehr wohl. Ich versuchte zwar immer, mich zu bremsen und unter 6 Minuten pro Kilometer zu kommen, aber irgendwie siegte die Laufsucht dann wohl über die Vernunft. Etwa bei Kilometer 7 sahen wir vor uns eine junge Frau mit einem "P" auf dem Rücken. Interessiert fragte ich sie, wofür sie denn Pacemaker mache. "Für 1:15", war die Antwort. Aha. Für HM in 1:15 war sie definitiv zu langsam (ich glaube auch nicht wirklich, daß es für diese Zeit Pacemaker gibt) und für den 9 km-Lauf viel zu schnell. Also fragte ich sie, für welche Strecke sie denn Pacemaker mache. "Für 10 km", war die Antwort. Ich meine zu ihr, daß es aber als Strecken heute nur 9, 21, 28 und 44 km gäbe. "Oh, echt? Dann laufe ich wohl 9 km." Tolle Pacemakerin.
Der nächste Pacemaker sah schon vertrauenserweckender (wenn auch unkonventioneller) aus. Er trug eine riesige bunte Fahne mit der unmißverständlichen Aufschrift "Pace" mit sich. Mal schauen, was der läuft. Mit der Antwort hatte ich nicht wirklich gerechnet. "Pace ist italienisch und heißt Frieden". Also doch kein Pacemaker, eher ein Peacemaker. Oder so ähnlich.
Der Rest der Reise mit Realdedo verlief relativ ereignislos. Nervig war nur, daß die Finisher in jedem Zwischenziel überhaupt nicht daran dachten, für diejenigen Platz zu machen, die noch weiter mußten.
Ich hatte schon befürchtet, daß es sich nach dem HM-Ziel demotivierend ausdünnen würde - aber weit gefehlt. Ich fand sofort Anschluß an eine Gruppe Läufer, mit denen die nächsten 7 km ebenfalls wie im Flug vergingen.
Das 28 km-Ziel war wiederum nur ein einziges Ärgernis. Keine Schilder, wo's jetzt weitergeht, keine Streckenposten, der Verpflegungsbereich proppenvoll. Mir platzt der Kragen und ich drängle mich rücksichtslos zu den Getränken durch die euphorischen 28 km-Finisher, die überhaupt nicht verstehen, warum ich es so eilig habe. Kein anderer weit und breit, der irgendwie noch von diesem Ziel wegläuft. Toll. Ich frage ein paar Leute, wo ich jetzt weiterlaufen soll, bekomme sogar Antworten, und weiter geht's. Das Wetter ist inzwischen wieder semi-beschissen (dunkle Wolken, Nieselregen).
Jedenfalls war die restliche Strecke nicht so einsam wie in Bad Füssing. Sondern viel schlimmer. Es dauerte 10 Minuten, bis ich überhaupt wieder einen anderen Läufer sah. Also MP3-Player rausgeholt. Ich habe fast einen ganzen Kilometer gebraucht, um die Kopfhörer zu entknäueln.
Bei km 30 - die Uhr zeigte 2:48:07 - kam dann die Vision. Und dann der Entschluß. Schnell. Eisern. Ich hatte schon auf der ersten Hälfte mit Realdedo schon darüber gesprochen, daß es bei unserem Tempo für mich sogar noch möglich wäre, die 44 km in unter vier Stunden zu laufen - aber nicht nach der harten Trainingswoche, bei den schweren Beinen und angesichts des Halbmarathons in München nächsten Sonntag. Inwischen war mir das alles egal. Ich wollte Spaß, ich wollte mir was beweisen, also scheiß' auf alles andere.
In dem Moment zieht das 31-km Schild vorbei. 2:53:51. Ich gebe Gas. Richtig Gas. Kilometer 32 passiere ich bei 2:59:02. Ich fliege. Verdränge alle Gedanken daran, daß mir irgendwo zwischen km 36 und 40 die Kraft ausgehen wird. Nur laufen. Rennen. Purer Spaß an der Qual. Langsam werden auch wieder andere Läufer in der Ferne sichtbar. Ich kämpfe mich von einem zum nächsten, überhole sie alle. Das 33er-Schild übersehe ich irgendwie. Kilometer 34 bei 3:09:44. Kurz rechnen - ab jetzt muß ich einen 5er-Schnitt laufen, sonst packe ich es nicht. Über 10 km nach bereits 34 in den Knochen. Das kann doch nicht gutgehen. Letzten Samstag war ich noch froh, daß ich nach 32 km die letzten 3 im 5:03er-Schnitt geschafft habe und dabei keinen Herzinfarkt bekommen habe. Egal. Beißen. Wenn ich einbreche, dann breche ich halt ein. Damit kann ich leben. Ich will verdammt noch mal eine 3 ganz vorne bei der Zielzeit stehen haben!
Kilometer 35 - 3:14:29.
Kilometer 36 - 3:19:18.
Kilometer 37 - 3:24:32. Heftiger Schneeregen.
Kilometer 38 - gab's da überhaupt ein Schild?
Kilometer 39 - 3:34:29. Die Sonne scheint wieder und spendet Kraft.
Kilometer 40 - nein, es ist Kilometer 41! wieder eins übersehen - 3:44:13.
Kilometer 42,195 - 3:50:13 - Yessss! Nur 1 1/2 Minuten unter Marathon-PB!
Kilometer 43 - 3:53:54. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen! 1 km in 6 Minuten, Kinderfasching. Selbst der letzte Anstieg in Gemünden kann mich nicht mehr bremsen. Keine Zuschauer, aber was soll's. Ich achte etwas genauer auf die Markierungen. Ein Radfahrer kommt mir entgegen, sieht mich, und dreht wieder um. Da hinten scheinen mehr Leute zu sein. Da - ein gelber Pfeil auf dem Boden. Die Uhr zeigt 3:58:00. Ich biege rechts ab.
Das war mein Fehler.
Nach etwa zwei Minuten merke ich, daß ich mich verlaufen habe. Frage Passanten, wo das Ziel vom Gedächtnislauf ist. "Da hinten, müssen's nur da quer durchlaufen." Durch das Haus? Durch massiven Beton? Ich laufe links daran vorbei.
Und sehe endlich das Ziel.
Von hinten.
Zielzeit (netto): 4:02:25.
Ich bin enttäuscht. Keine 3:59:59, kein Zieleinlauf. Ich ärgere mich über meine eigene Blödheit. Nachher habe ich mir die Stelle nochmal angesehen - der Pfeil zeigte eindeutig geradeaus. Ich war mir sicher, daß er nach rechts zeigte. Jetzt verlaufe ich mich schon ohne Greenhörnchen. Die Stelle, an der ich falsch abgebogen bin, war nicht mal 100 m vom Ziel entfernt. Man hat es nur nicht gesehen, und auch nicht gehört.
Gut, es war mein eigener Fehler. Aber ich war verwirrt und habe mich nur auf das Rennen konzentriert. Bis km 43 gab es nur Schilder als Wegweiser. Auf den letzten Kilometer wechseln sie einfach auf gelbe Pfeile am Boden, von denen ich nicht wußte, ob sie jetzt zum Gedächtnislauf gehören oder ein Überbleibsel von irgendeinem anderen sind. Keine Zuschauer, keine Streckenposten. Irgendwann wird ihnen da mal einer krepieren. Kaum Verpflegungsstellen, und die, die da waren, waren absolute Bremser. Kein Shuttle-Service vom Ziel zum 2 km entfernten Bahnhof. Als ich einen Organisator fragte, wie ich da dann hinkomme und wie weit das ist, fragte er mich, ob ich da jetzt im Ernst noch hinlaufen will. Nö, ich wollte mich gern in Gemünden für immer niederlassen.
Ich will ja bei so einem Lauf nicht gewickelt und gepudert werden, aber ein Mindestmaß an Betreuung (wenigstens ein paar Streckenposten und einheitliche Beschilderung, gerade in verwinkelten Ortschaften kurz vorm Ziel) erwarte ich mir doch für meine Startgebühr. Ich will laufen, mich richtig verausgaben und keinen Orientierungslauf durch verschlafene unterfränkische Nester machen.
Die Zielzeit ist natürlich trotzdem toll. Ich weiß ja auch, daß ich es unter 4 h geschafft hätte, hätte ich mich nicht verlaufen (100 Meter in 2 Minuten? Definitiv). Aber jeder, der schon mal einen Marathon in 4:00:01, 3:30:35 oder 3:01:04 gelaufen ist, wird meine Enttäuschung hoffentlich verstehen. Wär' halt der perfekte Abschluß für einen insgesamt schönen Lauf gewesen.
Ich hoffe, ich habe mit dem Gemecker jetzt keinen falschen Eindruck erweckt. Es war bis auf das selbst verschuldete Malheur kurz vorm Ziel wirklich ein schöner Lauf. Er verging wie im Flug, keine Längen, keine Einbrüche. Der Greif-Countdown wird zwar aufheulen, daß ich bereits in der dritten Woche statt eines 35ers mit 6 km Endbeschleunigung einen 44er mit 13 km Endbeschleunigung laufe, aber darauf kommt es nicht an. Ich habe heute einen Haufen Spaß gehabt.
Die kommende Woche ruhe ich mich aus. Pfeife auf den Greif-CD. Und am Sonntag wird Halbmarathon in München gelaufen. Auf Teufel komm' raus. Ich will die 1:39. Und wenn's nicht klappt, klemme ich mir nach dem Lauf den Einfach-Marcus unter den Arm und schieße mir mit ihm irgendwo in Schwabing die Lichter aus (der sieht so aus, als würde er was vertragen). Sozusagen ein Reverse-Bertlich.
Als Realdedo letztens hier im Forum meinte, er laufe den Halbmarathon mit und habe auch keinen Zeitdruck, waren die ersten 21 km - jedenfalls sozialintegrativ-unterhaltungstechnisch - auch schon geritzt. Nur die zweite Hälfte könnte - wie in Bad Füssing - wieder ein sehr einsamer Kampf werden.
Natürlich wollte ich mein eigentliches Marathontraining für den Trainingsmarathon nicht aufgeben und einfach den 35er mit 6 km Endbeschleunigung der dritten Greif-CD-Woche durch den 44er ohne Endbeschleunigung ersetzen (nach den 3 km Endbeschleunigung letzten Samstag konnte ich mir auch überhaupt nicht vorstellen, das ganze eine Woche später 6 km durchzuhalten). Also nix Tapering, da nur Trainingsmarathon. Montag 10 km Tempodauerlauf in 46 Minuten, Mittwoch 4 x 2000m Intervalle in jeweils 8:24 min, Donnerstag nochmal locker 13 km und dann am Freitag Ruhepause. Mir tat am Freitag wirklich alles weh.
Als ich heute früh aufstand, war ich nicht wirklich in der Stimmung, bei einem Volkslauf mitzulaufen. Und schon gar nicht 44 km. Die Wettervorhersage war auch nicht gerade rosig. Dann reißt mir bei meiner Wintertight noch ein Reißverschluß-Verschluß und ich krieg das Ding kaum noch über die Ferse drüber. Ach ja - ich bin seit ein paar Tagen stolzer Besitzer eines MP3-Players - das wäre doch eine tolle Alternative zur möglicherweise stillen Einsamkeit auf der zweiten Hälfte der Runde. Erst heute früh kam mir der Gedanke, daß ich das Ding vielleicht noch mit Musik vollpacken sollte. Also hing ich von 5:30 Uhr bis kurz vor acht vor dem Rechner und machte mich mit der Kunst des MP3-Erstellens vertraut. Lebenswichtig für Durchhänger: Der Rocky-Soundtrack.
Um halb zehn war ich dann im Startbereich, holte meine Unterlagen ab, monierte, daß ich eigentlich nicht nur HM, sonder 44 km laufen wollte, alles kein Problem, gibt's halt bloß keine Urkunde. Kurz noch mal auf's Klo, dann Realdedo suchen und lospurzeln. Da muß ich noch was loswerden: Jedesmal bei Volksläufen, gibt es rücksichtslose Penner, die die Sitztoiletten z.T. 10 bis 15 Minuten unter Verschluß halten. Man hört sie hundertmal Toilettenpapier abreißen, fünfmal spülen, Flaschen werden auf den Boden gestellt, sie stehen auf, setzen sich wieder hin usw. Was machen die Kerle eigentlich da drin?
Gegen 10:15 Uhr habe ich mich dann mit Realdedo getroffen - sympathisch auf den ersten Anblick, immer zu Scherzen aufgelegt - selbst in Gegenwart einer Frau, die ihm gerade seine Startnummer mit Sicherheitsnadeln auf der Jacke festpinnt. Ehrlich gesagt sah ich schon kurze Zeit schwarz für die piercingtechnische Jungfräulichkeit seiner Brustwarzen.
Um 11 Uhr fiel dann der Startschuß oder etwas ähnliches und wir laufen los. Meine Beine fühlen sich schwer an und lachen mich und meinen Wahnsinn aus. Das kann ja heiter werden. Wenigsten kommt in genau diesem Moment die Sonne raus und bringt mich so richtig in Volkslaufstimmung.
Die ersten 6 Kilometer waren eher eine Quälerei. Die Strecke war viel zu eng, und nachdem das vordere Feld den frisch gefallenen Schnee bereits in eine tückischen Wettkampfring für Schlammcatcherinnen verwandelt hatte, war von Laufgenuß eigentlich wenig zu spüren. Meine Füße waren innerhalb von wenigen Minuten klatschnaß, und das Rumgespringe zwischen den Pfützen wirkte sich auch nicht gerade regenerativ auf meine müden Oberschenkel aus.
Es ging trotzdem recht flott. Trotz schwerer Beine fühlte ich mich bei unserem Tempo (immer so um die 5:40 min/km) eigentlich sehr wohl. Ich versuchte zwar immer, mich zu bremsen und unter 6 Minuten pro Kilometer zu kommen, aber irgendwie siegte die Laufsucht dann wohl über die Vernunft. Etwa bei Kilometer 7 sahen wir vor uns eine junge Frau mit einem "P" auf dem Rücken. Interessiert fragte ich sie, wofür sie denn Pacemaker mache. "Für 1:15", war die Antwort. Aha. Für HM in 1:15 war sie definitiv zu langsam (ich glaube auch nicht wirklich, daß es für diese Zeit Pacemaker gibt) und für den 9 km-Lauf viel zu schnell. Also fragte ich sie, für welche Strecke sie denn Pacemaker mache. "Für 10 km", war die Antwort. Ich meine zu ihr, daß es aber als Strecken heute nur 9, 21, 28 und 44 km gäbe. "Oh, echt? Dann laufe ich wohl 9 km." Tolle Pacemakerin.
Der nächste Pacemaker sah schon vertrauenserweckender (wenn auch unkonventioneller) aus. Er trug eine riesige bunte Fahne mit der unmißverständlichen Aufschrift "Pace" mit sich. Mal schauen, was der läuft. Mit der Antwort hatte ich nicht wirklich gerechnet. "Pace ist italienisch und heißt Frieden". Also doch kein Pacemaker, eher ein Peacemaker. Oder so ähnlich.
Der Rest der Reise mit Realdedo verlief relativ ereignislos. Nervig war nur, daß die Finisher in jedem Zwischenziel überhaupt nicht daran dachten, für diejenigen Platz zu machen, die noch weiter mußten.
Ich hatte schon befürchtet, daß es sich nach dem HM-Ziel demotivierend ausdünnen würde - aber weit gefehlt. Ich fand sofort Anschluß an eine Gruppe Läufer, mit denen die nächsten 7 km ebenfalls wie im Flug vergingen.
Das 28 km-Ziel war wiederum nur ein einziges Ärgernis. Keine Schilder, wo's jetzt weitergeht, keine Streckenposten, der Verpflegungsbereich proppenvoll. Mir platzt der Kragen und ich drängle mich rücksichtslos zu den Getränken durch die euphorischen 28 km-Finisher, die überhaupt nicht verstehen, warum ich es so eilig habe. Kein anderer weit und breit, der irgendwie noch von diesem Ziel wegläuft. Toll. Ich frage ein paar Leute, wo ich jetzt weiterlaufen soll, bekomme sogar Antworten, und weiter geht's. Das Wetter ist inzwischen wieder semi-beschissen (dunkle Wolken, Nieselregen).
Jedenfalls war die restliche Strecke nicht so einsam wie in Bad Füssing. Sondern viel schlimmer. Es dauerte 10 Minuten, bis ich überhaupt wieder einen anderen Läufer sah. Also MP3-Player rausgeholt. Ich habe fast einen ganzen Kilometer gebraucht, um die Kopfhörer zu entknäueln.
Bei km 30 - die Uhr zeigte 2:48:07 - kam dann die Vision. Und dann der Entschluß. Schnell. Eisern. Ich hatte schon auf der ersten Hälfte mit Realdedo schon darüber gesprochen, daß es bei unserem Tempo für mich sogar noch möglich wäre, die 44 km in unter vier Stunden zu laufen - aber nicht nach der harten Trainingswoche, bei den schweren Beinen und angesichts des Halbmarathons in München nächsten Sonntag. Inwischen war mir das alles egal. Ich wollte Spaß, ich wollte mir was beweisen, also scheiß' auf alles andere.
In dem Moment zieht das 31-km Schild vorbei. 2:53:51. Ich gebe Gas. Richtig Gas. Kilometer 32 passiere ich bei 2:59:02. Ich fliege. Verdränge alle Gedanken daran, daß mir irgendwo zwischen km 36 und 40 die Kraft ausgehen wird. Nur laufen. Rennen. Purer Spaß an der Qual. Langsam werden auch wieder andere Läufer in der Ferne sichtbar. Ich kämpfe mich von einem zum nächsten, überhole sie alle. Das 33er-Schild übersehe ich irgendwie. Kilometer 34 bei 3:09:44. Kurz rechnen - ab jetzt muß ich einen 5er-Schnitt laufen, sonst packe ich es nicht. Über 10 km nach bereits 34 in den Knochen. Das kann doch nicht gutgehen. Letzten Samstag war ich noch froh, daß ich nach 32 km die letzten 3 im 5:03er-Schnitt geschafft habe und dabei keinen Herzinfarkt bekommen habe. Egal. Beißen. Wenn ich einbreche, dann breche ich halt ein. Damit kann ich leben. Ich will verdammt noch mal eine 3 ganz vorne bei der Zielzeit stehen haben!
Kilometer 35 - 3:14:29.
Kilometer 36 - 3:19:18.
Kilometer 37 - 3:24:32. Heftiger Schneeregen.
Kilometer 38 - gab's da überhaupt ein Schild?
Kilometer 39 - 3:34:29. Die Sonne scheint wieder und spendet Kraft.
Kilometer 40 - nein, es ist Kilometer 41! wieder eins übersehen - 3:44:13.
Kilometer 42,195 - 3:50:13 - Yessss! Nur 1 1/2 Minuten unter Marathon-PB!
Kilometer 43 - 3:53:54. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen! 1 km in 6 Minuten, Kinderfasching. Selbst der letzte Anstieg in Gemünden kann mich nicht mehr bremsen. Keine Zuschauer, aber was soll's. Ich achte etwas genauer auf die Markierungen. Ein Radfahrer kommt mir entgegen, sieht mich, und dreht wieder um. Da hinten scheinen mehr Leute zu sein. Da - ein gelber Pfeil auf dem Boden. Die Uhr zeigt 3:58:00. Ich biege rechts ab.
Das war mein Fehler.
Nach etwa zwei Minuten merke ich, daß ich mich verlaufen habe. Frage Passanten, wo das Ziel vom Gedächtnislauf ist. "Da hinten, müssen's nur da quer durchlaufen." Durch das Haus? Durch massiven Beton? Ich laufe links daran vorbei.
Und sehe endlich das Ziel.
Von hinten.
Zielzeit (netto): 4:02:25.
Ich bin enttäuscht. Keine 3:59:59, kein Zieleinlauf. Ich ärgere mich über meine eigene Blödheit. Nachher habe ich mir die Stelle nochmal angesehen - der Pfeil zeigte eindeutig geradeaus. Ich war mir sicher, daß er nach rechts zeigte. Jetzt verlaufe ich mich schon ohne Greenhörnchen. Die Stelle, an der ich falsch abgebogen bin, war nicht mal 100 m vom Ziel entfernt. Man hat es nur nicht gesehen, und auch nicht gehört.
Gut, es war mein eigener Fehler. Aber ich war verwirrt und habe mich nur auf das Rennen konzentriert. Bis km 43 gab es nur Schilder als Wegweiser. Auf den letzten Kilometer wechseln sie einfach auf gelbe Pfeile am Boden, von denen ich nicht wußte, ob sie jetzt zum Gedächtnislauf gehören oder ein Überbleibsel von irgendeinem anderen sind. Keine Zuschauer, keine Streckenposten. Irgendwann wird ihnen da mal einer krepieren. Kaum Verpflegungsstellen, und die, die da waren, waren absolute Bremser. Kein Shuttle-Service vom Ziel zum 2 km entfernten Bahnhof. Als ich einen Organisator fragte, wie ich da dann hinkomme und wie weit das ist, fragte er mich, ob ich da jetzt im Ernst noch hinlaufen will. Nö, ich wollte mich gern in Gemünden für immer niederlassen.
Ich will ja bei so einem Lauf nicht gewickelt und gepudert werden, aber ein Mindestmaß an Betreuung (wenigstens ein paar Streckenposten und einheitliche Beschilderung, gerade in verwinkelten Ortschaften kurz vorm Ziel) erwarte ich mir doch für meine Startgebühr. Ich will laufen, mich richtig verausgaben und keinen Orientierungslauf durch verschlafene unterfränkische Nester machen.
Die Zielzeit ist natürlich trotzdem toll. Ich weiß ja auch, daß ich es unter 4 h geschafft hätte, hätte ich mich nicht verlaufen (100 Meter in 2 Minuten? Definitiv). Aber jeder, der schon mal einen Marathon in 4:00:01, 3:30:35 oder 3:01:04 gelaufen ist, wird meine Enttäuschung hoffentlich verstehen. Wär' halt der perfekte Abschluß für einen insgesamt schönen Lauf gewesen.
Ich hoffe, ich habe mit dem Gemecker jetzt keinen falschen Eindruck erweckt. Es war bis auf das selbst verschuldete Malheur kurz vorm Ziel wirklich ein schöner Lauf. Er verging wie im Flug, keine Längen, keine Einbrüche. Der Greif-Countdown wird zwar aufheulen, daß ich bereits in der dritten Woche statt eines 35ers mit 6 km Endbeschleunigung einen 44er mit 13 km Endbeschleunigung laufe, aber darauf kommt es nicht an. Ich habe heute einen Haufen Spaß gehabt.
Die kommende Woche ruhe ich mich aus. Pfeife auf den Greif-CD. Und am Sonntag wird Halbmarathon in München gelaufen. Auf Teufel komm' raus. Ich will die 1:39. Und wenn's nicht klappt, klemme ich mir nach dem Lauf den Einfach-Marcus unter den Arm und schieße mir mit ihm irgendwo in Schwabing die Lichter aus (der sieht so aus, als würde er was vertragen). Sozusagen ein Reverse-Bertlich.