Frankfurt Marathon; Bekenntnisse eines Technik-Freaks oder: Machs doch mal mit Gefühl
Verfasst: 31.10.2005, 17:48
Für den Frankfurt-Marathon hatte ich mir viel vorgenommen. Nach Hamburg (4:03.10) sollten die sub4 fallen und auch eine 3:54 sollte drin sein und wenn alles rund läuft, alles perfekt geht *träum* vielleicht sogar sub 3:50.
Die Vorbereitung lief bis auf wenige Ausnahmen fast schon beängstigend gut und ein Test-HM vier Wochen vor dem Marathon am Fühlinger See ergab mit 1:44:16 eine Superbestzeit.
Also die bewährten Tempotabellen gestrickt mit der „Haupttafel“ für 3:54:59 und den dazugehörigen Pulswerten und zwei Szenarien auf die Rückseite, für den Notfall die 3:59:59 und die Traumzeit 3:49:59. Seit Hamburg habe ich meinen optimalen Pulsverlauf für den Marathon, den ich so laufen kann, dass ich gut durchkomme und die Gefahr des Einbrechens minimiere.
29.10.2005
Am Samstag dann Anreise nach Frankfurt, das Hotel hat für uns nicht nur ein überraschend großes und komfortables Zimmer, es ist auch nur ca. 300m vom Start-/Zielbereich an der Messe entfernt, optimal also!
Also Startnummer abholen und später dann Versuch eines Fori-Treffens. Wir stehen vor dem Messeeingang und schauen, ob andere auch schauen. Die beiden da drüben, der mit den längeren Haaren könnte Roadie sein. Langsames Anschleiche, Kathy und Roadie sind gefunden. Und die nette junge Frau da nebenan. Ein unverbindliches „Heidi“ führt Frau Schmitt unserer Gruppe zu. Na immerhin, sind wir schon zu fünft. Jens (Fräse) stößt später in der Festhalle zu uns, er hatte am „richtigen“ Treffpunkt gewartet, allerdings als einziger.
Später muß Frau Schmitt dann los, Kathy und Roadie wollen auf Schnäppchenjagd in die Messe, Anke, Jens und ich wollen das wunderschöne Wetter geniessen. Später noch ein leckeres Essen mit Jens und einem Bekannten von ihm beim Italiener.
30.10.2005
Am Marathonmorgen haben wir viel Zeit. Der Start ist erst um 11 Uhr, durch die Umstellung auf Winterzeit haben wir eine zusätzliche Stunde gewonnen. Es ist morgens noch recht neblig, wird sich aber mittags wohl aufklären und dann sonnig sein. Ich beschließe, im Singlet zu laufen und für die ersten Kilometer ein Wegwerf-T-Shirt überzuziehen, im Nachhinein betrachtet eine ideale Kombination. Nach der Kleiderbeutelabgabe finde ich Jens bei Anke, gemeinsam machen wir uns Richtung Startblöcke, dort müssen wir uns dann trennen, weil Jens weiter hinten steht.
Pünktlich zum Start dringt die Sonne durch den Nebel und kündigt ein tolles Wetter an. Dann geht es endlich los. Noch ein kurzer Blick auf meine Marschtabellen: Puls auf den ersten 5 Kilometern maximal 152/153, Schnitt 5:30 bis 5:35min/km. Nach wenigen Minuten geht es über die Startmatte, die Uhr wird angedrückt, das Projekt sub4 kann beginnen. Es herrscht ein riesiger Zuschauerandrang und ein toller Lärm, Gänsehautfeeling. Mein Puls bewegt sich langsam Richtung 148, ich winke in die Fernsehkamera, die aber live gerade die Spitzengruppe überträgt.
Ein Blick auf die Uhr zeigt alles. Ja alles, das komplette Display meiner ziemlich neuen Polar RS200d ist schwarz, alles blinkt und wenige Sekunden ist das Display leer. Grau, leer, keine Anzeige. Kein Puls, keine Zeit, einfach leer. Ich bin absolut fassungslos, drücke völlig verzweifelt sämtlich Knöpfe, das Display bleibt leer. Aus. Vorbei. Wie soll ich denn diesen Lauf überstehen? Ich laufe mit der trägen Masse und passiere planlos das erste Kilometerschild. Tja, wie schnelle laufe ich? 5:30er Schnitt, 5:50er? Keine Ahnung. Ich bin am Boden zerstört und würde am liebsten aussteigen, ich kann doch so planlos nicht noch 41 Kilometer laufen. Aber Aussteigen ohne Verletzung, kann doch wohl auch nicht sein.
Die Stimmung im Innenstadtbereich ist fantastisch. Ich laufe weiter in der Masse und versuche, ein sinnvolles Tempo zu finden. Immer wieder geht mein verzweifelter Blick zur Uhr, das Display bleibt leer. Die Kilometerschilder 2, 3 und 4 werden passiert, mit welcher Zeit auch immer. Peter alleine im Informationsnirwana. Ich versuche die Lage zu analysieren. Was wird nun passieren? Es gibt drei grundsätzliche Möglichkeiten:
1. Ich treffe zufällig das richtige Tempo, welches das auch immer sein mag und komme einigermaßen gleichmäßig durch. Ein 5:30er Tempo habe ich im Training viele Male geübt, habe also ein ungefähres Gefühl, wie sich das anfühlt.
2. Ich laufe aus Angst zu langsam, was ich spätestens merke, wenn mich der 3:59-Pacer überholt. Na, dann hänge ich mich an den dran und laufe halt mein Minimalziel sub4
3. Ich überpace und gehe auf den letzten 10 Kilometern jämmerlich ein.
Ich bin zwar von der Grundhaltung eher optimistisch veranlagt, aber in meiner Verzweiflung schient mir die dritte Möglichkeit irgendwie die wahrscheinlichste zu sein.
Kurz vor dem nächsten Kilometerschild fällt mir ein, dass an den 5km-Abschnitten Uhren aufgestellt sein sollen. Die zeigen zwar die Bruttozeit, aber ich hätte wenigstens einen groben Anhaltspunkt. Rechts kommt das 5km-Schild in Sicht und ich kann einen Blick auf die darunter angebrachte Uhr erhaschen: 34:xx. Tja, was will mir diese Zahl sagen? Ich habe keine Ahnung, wie hoch meine Brutto/Netto-Differenz ist. Außerdem weiß ich schon nach wenigen Sekunden nicht mehr, ob es 34:00 oder 34:59 waren. Na, sagen wir mal es waren 34:30, die goldene Mitte. Wenn ich da jetzt 5 Minuten abziehe, ne das kann nicht stimmen, das wäre viel zu langsam. War das überhaupt eine 34? Meine Verzweiflung wird nicht geringer.
Also weiter geht es durch tollen Zuschauerspaliere. Jede Menge Samba-bands geben hier einen flotten Rhythmus vor. In den Hochhäuserschluchten ist es etwas schattig, aber ansonsten hat die Sonne den Nebel komplett aufgelöst. Da drüben, etwas bei km7, erblicke ich unübersehbar Frau Schmitts Puschel und da steht auch Anke. Ich schnalle meinen Pulsgurt ab und drücke ihn Anke in die Hand, den muß ich ja nun nicht noch 35 Kilometer sinnlos durch Frankfurt schleppen. Ich heule verzweifelt was von „Uhr kaputt“ und werde mit ein paar tröstenden Worten weiter geschickt. Ich laufe weiter durch die jubelnden Menschenmassen, ein komisch freies Gefühl so ohne Brustgurt. Die Uhr behalte ich vorsichtshalber an, vielleicht…Nach einer kurzen Schleife geht es wieder am Puschel vorbei, ich winke artig. Ich habe jetzt ein Tempo gefunden, das sich ganz gut anfühlt, allerdings überhole ich ständig und werde nur sehr wenig überholt in diesem noch sehr dichten Feld. Nun, wohl zu schnell, siehe Szenario 3. Die 10 Kilometer-Uhr zeigt etwas mit 59:1x, netto wären das knapp 25 Minuten für den letzten 5km-Abschnitt statt der optimalen 27:15 meiner 3:49:59 Marschtabelle. Viel zu schnell. Ich verlangsame mein Tempo um eine Nuance und überhole nicht mehr ganz so viele Läufer. Kilometer 15 sollte etwa 1:27 zeigen, dann wäre ich zwar schnell, aber halbwegs im vertretbaren Lot.
Die Strecke führt über den Main und das Zuschauerinferno lässt etwas nach. Mein Tempo fühlt sich gut und vor allem regelmäßig an, auch wenn leichte Zweifel und eine massive Orientierungslosigkeit bleiben. Kurz vor Niederrad zeigt die 15km-Uhr 1:26 glatt, immer noch zu schnell halt. Dem Schicksal ergeben rechne ich, dass ich ich die 20km-Marke bei 1:53 erreichen müsste, denn ich laufe vom Gefühl her gleichmäßig und stelle mich mental auf bittere letzte 10km ein. Die Strecke führt jetzt immer wieder durch zuschauerloses Industrie/Gewerbegebiet, gelegentlich überraschend unterbrochen z.B. durch einen fröhlichen Pulk vor einem Kleingärtnergebiet.
Überhaupt hatte ich nach den bisherigen Berichten außerhalb des Zentrums mit deutlich weniger Zuschauerzuspruch gerechnet, aber das Traumwetter hat wohl eine an die Strecke gelockt. Immer wieder gab es auch Musikdarbietungen, vom langhaarigen Querflötenspiele, der eine schwungvolle Version des „Pink Panther“ Themas aus den Lautsprechern klingen ließ, über Jazzbands, Musikkapellen, Rockbands bis zur Schlagerkonserve des Kleingärtnervereins war alles dabei. Und wenn sich größere Zuschauergruppen bildeten, dann war auch die Stimmung gut. Mein Singlet und die auf die Startnummer gedruckten Vornamen halfen bei der individuellen Ansprache, die einfach nur gut tat. So lief es locker weiter und plötzlich war ich schon bei Kilometer 20, die Uhr zeigt satte 1:52:50. Wow, ich bin ein Uhrwerk, aber ein verdammt schnelles Uhrwerk. Ich verdränge den Gedanken an einen Einbruch und laufe dieses Tempo weiter, es fühlt sich immer noch ok an. Kilometeruhr 25 sollte etwas in Richtung 2:20 anzeigen, das wäre gleichmäßig.
Die nächsten Kilometer führen uns nach Schwanheim. Auch hier wieder schöne Stimmung, aber so langsam merke ich die Anstrengung. Kilometer 25 bei 2:19:30, tüdelö. 30 sollte dann mal grob unter 2:47 liegen, Ich habe zwar jeden Bezug zu irgendeiner Endzeit verloren, aber ein 27er Schnitt je 5km kommt mir aus welchen Gründen auch immer tatsächlich völlig plausibel vor. Aber erst einmal gilt es einen ziemlichen Anstieg auf die Schwanheimer Brücke zu überwinden, der reichlich Kraft kostet. Aber zum Glück kann ich ja meinen hohen Pulswert nicht sehen, also weiter geht es über den Main, zurück auf die „schäl sick“, wie man in Bonn sagen würde.
Wir laufen auf den Stadtteil Höchst zu und auch hier sind wieder Zuschauermassen auf den Beinen. In Höchst ist der ultimative Wendepunkt der Marathonstrecke, danach geht es wieder recht geradlinig zur Frankfurter Innenstadt zurück. An einer Bahnlinie kommen uns auf der rechten Seite Läufer entgegen, sie haben den Rückweg bereits angetreten.
Höchst wird umrundet, die Uhr am 30km-Schild zeigt knapp über 2:47, ich bin also schon nicht mehr ganz so flott unterwegs, auch wenn ich gegenteiliges hätte beschwören können. Aber hey: ich habe 30km geschafft und bin zwar angestrengt, aber ich kann mein Tempo halbwegs halten. Ganz im Gegensatz zu vielen Läufern, die hier schon Gehpausen einlegen müssen, was mich in dieser Zahl doch etwas überrascht. Die Leute, die ich hier einsammle, müssten ja so etwa auf 3:30er Zeit losgelaufen sein, in der Regel also eher erfahrene Läufer. Nun, mir tut es trotz aller damit verbundenen menschlichen Abgründe sehr gut, hier nicht nur gehende, sondern auch langsamere Läufer zu überholen. Und zwar deutlich mehr, als mich überholen. Es ist anstrengend und ganz tief hinten lauert der böse Gedanke an einen Totaleinbruch, aber ich beiße mental die Zähne zusammen und laufe weiter. Zielzeit 35km sind immer noch optimistische 3:14, Ihr wißt schon, 27er-Schnitt halt.
Streckenmäßig folgt ab Kilometer 32 das ödeste Stück der gesamten Strecke, eine sich ewig hinziehende Mainzer Landstraße fast ohne Zuschauer. Wo sollten die auch stehen, links ist Böschung, rechts Schnellstrasse oder Bahnschienen. Ich überhole immer weiter, werde gelegentlich überholt und so langsam bekomme ich das Gefühl, ich müsste das wohl packen können. Kilometer 35-Uhr zeigt 3:14:45, ja ich werde langsamer, aber ich laufe immer weiter. Der Kopf verweigert so langsam seine Rechenkünste. Gut, sagen wir mal es waren 3:15, plus 27min gibt, ähm, ja 3:42 für die 40-km Tafel, aber wenn ich erst mal da wäre! Ich sehe in der Ferne den Messeturm, das Ziel, weiß aber, das er nicht nur noch ganz schön weit weg ist, sondern dass ich auch erst einmal an ihm vorbei laufen werde zur letzten Schleife durch die Innenstadt.
Aus irgendwelchen Gründen heißt die Mainzer Strasse jetzt Frankenallee. Das ist zwar komisch, mir aber eigentlich völlig egal. Vielleicht gibt es auch Zuschauer, aber ich habe genug zu mit mir selbst zu kämpfen. Ich versuche ein so hohes Tempo wie möglich zu halten, es ist doch nicht mehr so weit. Kilometer 36, 37. Nur noch 5 Kilometer, lächerlich, aber alles tut weh. Dann wieder Samba, Krawall, die Mainzer Landstraße zum Vierten. Wo ist der rosa Puschel, ah dahinten, ich winke, laufe weiter, versuche mich von der Stimmung antreiben zu lassen. Auf der anderen Seite die Läufer, die schon km41 passiert haben. Ihr habt es gleich geschafft, toll, ich hasse Euch.
Wo ist das 38er Schild? Der Kilometer kann doch nicht so lang sein. Immer weiter, Schritt für Schritt, nicht nachlassen jetzt. Immer noch kein Schild, hoffentlich habe ich es verpasst. Ich kann nicht mehr, wenn jetzt noch das 38er Schild kommt, dann falle ich tot um. Es muß doch jetzt mal links gehen, wie lang zieht sich diese Schleife noch? Endlich eine Linkskurve, und das 39km-Schild, was ein Glück, nur noch lächerliche 3 Kilometer und ich bin so am Ende. Ich merke das ich langsamer werde, das tempo nicht mehr halten kann. Egal, durchlaufen, immer weiter. Ein Riesenturm mit Lautsprecheranlage: „Da kommt die Post und sie ist schnell, Applaus für die Post“. Ich bin die Schneckenpost, aber ich laufe weiter. Kilometer 40 bei 3:42:40. Zwar noch etwas langsamer aber das hätte schlimmer kommen können.
Weiter, noch 12 oder 13 min, dann bin ich im Ziel. Ich tappe weiter, versuche eine Endzeit abzuschätzen. Ein sinnloses und völlig blödsinniges Unterfangen, der Kopf rechnet nicht mehr richtig und ich habe noch immer keinen blassen Schimmer von meiner Brutto-/Nettodifferenz. Aber so vergeht die Zeit und ich erreiche endlich das 41km-Schild. Ich habe tempomäßig das Gefühl, nur noch gemütlich zu joggen, ich bin völlig erledigt, aber die nächsten vermutlich 6-7 Minuten überstehe ich jetzt auch noch. Vorne ist wieder der rosa Puschel, aber ich kann mir nicht einmal ein gequältes Lächeln abringen. Ich werde jetzt deutlich mehr überholt, aber ich bewege mich zielstrebig um die Bühne auf die Friedrich-Ebert-Anlage. Auch hier tosende Zuschauermengen, eine Riesentrubel auf den letzten paar hundert Metern, da vorne ist der Hammermann, die große metallene Skulptur vor der Festhalle. Ist diese Strasse lang, wann geht es endlich links in die Festhalle. Da, jetzt. Das Schild für den Kilometer 42. Die Festhalle, hinein, der rote Teppich, Wärme, Dunkelheit, Lautsprecher, Krach, das Ziel, die Uhr zeigt 3:54:xx, was immer das für meine Nettozeit bedeuten mag.
Im Ziel, ich habe es geschafft. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so erschlagen gefühlt. Ich gehe wie in Trance weiter, mir wird die Medaille umgehängt, ich lege mir eine Folie um und dann bin ich im Paradies. Es ist ein volles Paradies, aber es ist zweifelsfrei das Paradies: Wasser, Cola, Bier, Energiegetränke, Fruchtschorle, Energieriegel, Trauben, Äpfel, Bananen, Kuchen. Zweifelsfrei das Paradies.
Gut gestärkt holte ich mir dann meinen Kleiderbeutel, um Anke anzurufen und mir meine Finisher-SMS anzusehen. Die SMS war da, sie teilte mir stolz meine Bruttozeit von 3:54:33 mit, sonst nichts, na toll. Treffpunkt mit Anke verabredet, da erschien die nächste SMS eines Freundes, der mir zu meinen 3:49:19 netto gratulierte. Die Halle 1 des Frankfurter Messe erbebte unter meinem Gejubel. Meine Freude ließ mich die kalte Dusche mit Gelassenheit ertragen, von mr aus hätten auch Eiswürfel aus dem Duschkopf kommen können.
Hier noch zum Abschluß meine offiziellen Nettozeiten:
Zeit 3.49:19
Erste Hälfte in 1:53:30, zweite Hälfte in 1:55:49 (gar keine so schlechte Einteilung)
km 5: 27:53 min
km 10: 26:11 min
km 15: 26:43 min
km 20: 26:47 min
km 25: 26:45 min
km 30: 27:29 min
km 35: 27:39 min
km 40: 27:55 min
Die Vorbereitung lief bis auf wenige Ausnahmen fast schon beängstigend gut und ein Test-HM vier Wochen vor dem Marathon am Fühlinger See ergab mit 1:44:16 eine Superbestzeit.
Also die bewährten Tempotabellen gestrickt mit der „Haupttafel“ für 3:54:59 und den dazugehörigen Pulswerten und zwei Szenarien auf die Rückseite, für den Notfall die 3:59:59 und die Traumzeit 3:49:59. Seit Hamburg habe ich meinen optimalen Pulsverlauf für den Marathon, den ich so laufen kann, dass ich gut durchkomme und die Gefahr des Einbrechens minimiere.
29.10.2005
Am Samstag dann Anreise nach Frankfurt, das Hotel hat für uns nicht nur ein überraschend großes und komfortables Zimmer, es ist auch nur ca. 300m vom Start-/Zielbereich an der Messe entfernt, optimal also!
Also Startnummer abholen und später dann Versuch eines Fori-Treffens. Wir stehen vor dem Messeeingang und schauen, ob andere auch schauen. Die beiden da drüben, der mit den längeren Haaren könnte Roadie sein. Langsames Anschleiche, Kathy und Roadie sind gefunden. Und die nette junge Frau da nebenan. Ein unverbindliches „Heidi“ führt Frau Schmitt unserer Gruppe zu. Na immerhin, sind wir schon zu fünft. Jens (Fräse) stößt später in der Festhalle zu uns, er hatte am „richtigen“ Treffpunkt gewartet, allerdings als einziger.
Später muß Frau Schmitt dann los, Kathy und Roadie wollen auf Schnäppchenjagd in die Messe, Anke, Jens und ich wollen das wunderschöne Wetter geniessen. Später noch ein leckeres Essen mit Jens und einem Bekannten von ihm beim Italiener.
30.10.2005
Am Marathonmorgen haben wir viel Zeit. Der Start ist erst um 11 Uhr, durch die Umstellung auf Winterzeit haben wir eine zusätzliche Stunde gewonnen. Es ist morgens noch recht neblig, wird sich aber mittags wohl aufklären und dann sonnig sein. Ich beschließe, im Singlet zu laufen und für die ersten Kilometer ein Wegwerf-T-Shirt überzuziehen, im Nachhinein betrachtet eine ideale Kombination. Nach der Kleiderbeutelabgabe finde ich Jens bei Anke, gemeinsam machen wir uns Richtung Startblöcke, dort müssen wir uns dann trennen, weil Jens weiter hinten steht.
Pünktlich zum Start dringt die Sonne durch den Nebel und kündigt ein tolles Wetter an. Dann geht es endlich los. Noch ein kurzer Blick auf meine Marschtabellen: Puls auf den ersten 5 Kilometern maximal 152/153, Schnitt 5:30 bis 5:35min/km. Nach wenigen Minuten geht es über die Startmatte, die Uhr wird angedrückt, das Projekt sub4 kann beginnen. Es herrscht ein riesiger Zuschauerandrang und ein toller Lärm, Gänsehautfeeling. Mein Puls bewegt sich langsam Richtung 148, ich winke in die Fernsehkamera, die aber live gerade die Spitzengruppe überträgt.
Ein Blick auf die Uhr zeigt alles. Ja alles, das komplette Display meiner ziemlich neuen Polar RS200d ist schwarz, alles blinkt und wenige Sekunden ist das Display leer. Grau, leer, keine Anzeige. Kein Puls, keine Zeit, einfach leer. Ich bin absolut fassungslos, drücke völlig verzweifelt sämtlich Knöpfe, das Display bleibt leer. Aus. Vorbei. Wie soll ich denn diesen Lauf überstehen? Ich laufe mit der trägen Masse und passiere planlos das erste Kilometerschild. Tja, wie schnelle laufe ich? 5:30er Schnitt, 5:50er? Keine Ahnung. Ich bin am Boden zerstört und würde am liebsten aussteigen, ich kann doch so planlos nicht noch 41 Kilometer laufen. Aber Aussteigen ohne Verletzung, kann doch wohl auch nicht sein.
Die Stimmung im Innenstadtbereich ist fantastisch. Ich laufe weiter in der Masse und versuche, ein sinnvolles Tempo zu finden. Immer wieder geht mein verzweifelter Blick zur Uhr, das Display bleibt leer. Die Kilometerschilder 2, 3 und 4 werden passiert, mit welcher Zeit auch immer. Peter alleine im Informationsnirwana. Ich versuche die Lage zu analysieren. Was wird nun passieren? Es gibt drei grundsätzliche Möglichkeiten:
1. Ich treffe zufällig das richtige Tempo, welches das auch immer sein mag und komme einigermaßen gleichmäßig durch. Ein 5:30er Tempo habe ich im Training viele Male geübt, habe also ein ungefähres Gefühl, wie sich das anfühlt.
2. Ich laufe aus Angst zu langsam, was ich spätestens merke, wenn mich der 3:59-Pacer überholt. Na, dann hänge ich mich an den dran und laufe halt mein Minimalziel sub4
3. Ich überpace und gehe auf den letzten 10 Kilometern jämmerlich ein.
Ich bin zwar von der Grundhaltung eher optimistisch veranlagt, aber in meiner Verzweiflung schient mir die dritte Möglichkeit irgendwie die wahrscheinlichste zu sein.
Kurz vor dem nächsten Kilometerschild fällt mir ein, dass an den 5km-Abschnitten Uhren aufgestellt sein sollen. Die zeigen zwar die Bruttozeit, aber ich hätte wenigstens einen groben Anhaltspunkt. Rechts kommt das 5km-Schild in Sicht und ich kann einen Blick auf die darunter angebrachte Uhr erhaschen: 34:xx. Tja, was will mir diese Zahl sagen? Ich habe keine Ahnung, wie hoch meine Brutto/Netto-Differenz ist. Außerdem weiß ich schon nach wenigen Sekunden nicht mehr, ob es 34:00 oder 34:59 waren. Na, sagen wir mal es waren 34:30, die goldene Mitte. Wenn ich da jetzt 5 Minuten abziehe, ne das kann nicht stimmen, das wäre viel zu langsam. War das überhaupt eine 34? Meine Verzweiflung wird nicht geringer.
Also weiter geht es durch tollen Zuschauerspaliere. Jede Menge Samba-bands geben hier einen flotten Rhythmus vor. In den Hochhäuserschluchten ist es etwas schattig, aber ansonsten hat die Sonne den Nebel komplett aufgelöst. Da drüben, etwas bei km7, erblicke ich unübersehbar Frau Schmitts Puschel und da steht auch Anke. Ich schnalle meinen Pulsgurt ab und drücke ihn Anke in die Hand, den muß ich ja nun nicht noch 35 Kilometer sinnlos durch Frankfurt schleppen. Ich heule verzweifelt was von „Uhr kaputt“ und werde mit ein paar tröstenden Worten weiter geschickt. Ich laufe weiter durch die jubelnden Menschenmassen, ein komisch freies Gefühl so ohne Brustgurt. Die Uhr behalte ich vorsichtshalber an, vielleicht…Nach einer kurzen Schleife geht es wieder am Puschel vorbei, ich winke artig. Ich habe jetzt ein Tempo gefunden, das sich ganz gut anfühlt, allerdings überhole ich ständig und werde nur sehr wenig überholt in diesem noch sehr dichten Feld. Nun, wohl zu schnell, siehe Szenario 3. Die 10 Kilometer-Uhr zeigt etwas mit 59:1x, netto wären das knapp 25 Minuten für den letzten 5km-Abschnitt statt der optimalen 27:15 meiner 3:49:59 Marschtabelle. Viel zu schnell. Ich verlangsame mein Tempo um eine Nuance und überhole nicht mehr ganz so viele Läufer. Kilometer 15 sollte etwa 1:27 zeigen, dann wäre ich zwar schnell, aber halbwegs im vertretbaren Lot.
Die Strecke führt über den Main und das Zuschauerinferno lässt etwas nach. Mein Tempo fühlt sich gut und vor allem regelmäßig an, auch wenn leichte Zweifel und eine massive Orientierungslosigkeit bleiben. Kurz vor Niederrad zeigt die 15km-Uhr 1:26 glatt, immer noch zu schnell halt. Dem Schicksal ergeben rechne ich, dass ich ich die 20km-Marke bei 1:53 erreichen müsste, denn ich laufe vom Gefühl her gleichmäßig und stelle mich mental auf bittere letzte 10km ein. Die Strecke führt jetzt immer wieder durch zuschauerloses Industrie/Gewerbegebiet, gelegentlich überraschend unterbrochen z.B. durch einen fröhlichen Pulk vor einem Kleingärtnergebiet.
Überhaupt hatte ich nach den bisherigen Berichten außerhalb des Zentrums mit deutlich weniger Zuschauerzuspruch gerechnet, aber das Traumwetter hat wohl eine an die Strecke gelockt. Immer wieder gab es auch Musikdarbietungen, vom langhaarigen Querflötenspiele, der eine schwungvolle Version des „Pink Panther“ Themas aus den Lautsprechern klingen ließ, über Jazzbands, Musikkapellen, Rockbands bis zur Schlagerkonserve des Kleingärtnervereins war alles dabei. Und wenn sich größere Zuschauergruppen bildeten, dann war auch die Stimmung gut. Mein Singlet und die auf die Startnummer gedruckten Vornamen halfen bei der individuellen Ansprache, die einfach nur gut tat. So lief es locker weiter und plötzlich war ich schon bei Kilometer 20, die Uhr zeigt satte 1:52:50. Wow, ich bin ein Uhrwerk, aber ein verdammt schnelles Uhrwerk. Ich verdränge den Gedanken an einen Einbruch und laufe dieses Tempo weiter, es fühlt sich immer noch ok an. Kilometeruhr 25 sollte etwas in Richtung 2:20 anzeigen, das wäre gleichmäßig.
Die nächsten Kilometer führen uns nach Schwanheim. Auch hier wieder schöne Stimmung, aber so langsam merke ich die Anstrengung. Kilometer 25 bei 2:19:30, tüdelö. 30 sollte dann mal grob unter 2:47 liegen, Ich habe zwar jeden Bezug zu irgendeiner Endzeit verloren, aber ein 27er Schnitt je 5km kommt mir aus welchen Gründen auch immer tatsächlich völlig plausibel vor. Aber erst einmal gilt es einen ziemlichen Anstieg auf die Schwanheimer Brücke zu überwinden, der reichlich Kraft kostet. Aber zum Glück kann ich ja meinen hohen Pulswert nicht sehen, also weiter geht es über den Main, zurück auf die „schäl sick“, wie man in Bonn sagen würde.
Wir laufen auf den Stadtteil Höchst zu und auch hier sind wieder Zuschauermassen auf den Beinen. In Höchst ist der ultimative Wendepunkt der Marathonstrecke, danach geht es wieder recht geradlinig zur Frankfurter Innenstadt zurück. An einer Bahnlinie kommen uns auf der rechten Seite Läufer entgegen, sie haben den Rückweg bereits angetreten.
Höchst wird umrundet, die Uhr am 30km-Schild zeigt knapp über 2:47, ich bin also schon nicht mehr ganz so flott unterwegs, auch wenn ich gegenteiliges hätte beschwören können. Aber hey: ich habe 30km geschafft und bin zwar angestrengt, aber ich kann mein Tempo halbwegs halten. Ganz im Gegensatz zu vielen Läufern, die hier schon Gehpausen einlegen müssen, was mich in dieser Zahl doch etwas überrascht. Die Leute, die ich hier einsammle, müssten ja so etwa auf 3:30er Zeit losgelaufen sein, in der Regel also eher erfahrene Läufer. Nun, mir tut es trotz aller damit verbundenen menschlichen Abgründe sehr gut, hier nicht nur gehende, sondern auch langsamere Läufer zu überholen. Und zwar deutlich mehr, als mich überholen. Es ist anstrengend und ganz tief hinten lauert der böse Gedanke an einen Totaleinbruch, aber ich beiße mental die Zähne zusammen und laufe weiter. Zielzeit 35km sind immer noch optimistische 3:14, Ihr wißt schon, 27er-Schnitt halt.
Streckenmäßig folgt ab Kilometer 32 das ödeste Stück der gesamten Strecke, eine sich ewig hinziehende Mainzer Landstraße fast ohne Zuschauer. Wo sollten die auch stehen, links ist Böschung, rechts Schnellstrasse oder Bahnschienen. Ich überhole immer weiter, werde gelegentlich überholt und so langsam bekomme ich das Gefühl, ich müsste das wohl packen können. Kilometer 35-Uhr zeigt 3:14:45, ja ich werde langsamer, aber ich laufe immer weiter. Der Kopf verweigert so langsam seine Rechenkünste. Gut, sagen wir mal es waren 3:15, plus 27min gibt, ähm, ja 3:42 für die 40-km Tafel, aber wenn ich erst mal da wäre! Ich sehe in der Ferne den Messeturm, das Ziel, weiß aber, das er nicht nur noch ganz schön weit weg ist, sondern dass ich auch erst einmal an ihm vorbei laufen werde zur letzten Schleife durch die Innenstadt.
Aus irgendwelchen Gründen heißt die Mainzer Strasse jetzt Frankenallee. Das ist zwar komisch, mir aber eigentlich völlig egal. Vielleicht gibt es auch Zuschauer, aber ich habe genug zu mit mir selbst zu kämpfen. Ich versuche ein so hohes Tempo wie möglich zu halten, es ist doch nicht mehr so weit. Kilometer 36, 37. Nur noch 5 Kilometer, lächerlich, aber alles tut weh. Dann wieder Samba, Krawall, die Mainzer Landstraße zum Vierten. Wo ist der rosa Puschel, ah dahinten, ich winke, laufe weiter, versuche mich von der Stimmung antreiben zu lassen. Auf der anderen Seite die Läufer, die schon km41 passiert haben. Ihr habt es gleich geschafft, toll, ich hasse Euch.
Wo ist das 38er Schild? Der Kilometer kann doch nicht so lang sein. Immer weiter, Schritt für Schritt, nicht nachlassen jetzt. Immer noch kein Schild, hoffentlich habe ich es verpasst. Ich kann nicht mehr, wenn jetzt noch das 38er Schild kommt, dann falle ich tot um. Es muß doch jetzt mal links gehen, wie lang zieht sich diese Schleife noch? Endlich eine Linkskurve, und das 39km-Schild, was ein Glück, nur noch lächerliche 3 Kilometer und ich bin so am Ende. Ich merke das ich langsamer werde, das tempo nicht mehr halten kann. Egal, durchlaufen, immer weiter. Ein Riesenturm mit Lautsprecheranlage: „Da kommt die Post und sie ist schnell, Applaus für die Post“. Ich bin die Schneckenpost, aber ich laufe weiter. Kilometer 40 bei 3:42:40. Zwar noch etwas langsamer aber das hätte schlimmer kommen können.
Weiter, noch 12 oder 13 min, dann bin ich im Ziel. Ich tappe weiter, versuche eine Endzeit abzuschätzen. Ein sinnloses und völlig blödsinniges Unterfangen, der Kopf rechnet nicht mehr richtig und ich habe noch immer keinen blassen Schimmer von meiner Brutto-/Nettodifferenz. Aber so vergeht die Zeit und ich erreiche endlich das 41km-Schild. Ich habe tempomäßig das Gefühl, nur noch gemütlich zu joggen, ich bin völlig erledigt, aber die nächsten vermutlich 6-7 Minuten überstehe ich jetzt auch noch. Vorne ist wieder der rosa Puschel, aber ich kann mir nicht einmal ein gequältes Lächeln abringen. Ich werde jetzt deutlich mehr überholt, aber ich bewege mich zielstrebig um die Bühne auf die Friedrich-Ebert-Anlage. Auch hier tosende Zuschauermengen, eine Riesentrubel auf den letzten paar hundert Metern, da vorne ist der Hammermann, die große metallene Skulptur vor der Festhalle. Ist diese Strasse lang, wann geht es endlich links in die Festhalle. Da, jetzt. Das Schild für den Kilometer 42. Die Festhalle, hinein, der rote Teppich, Wärme, Dunkelheit, Lautsprecher, Krach, das Ziel, die Uhr zeigt 3:54:xx, was immer das für meine Nettozeit bedeuten mag.
Im Ziel, ich habe es geschafft. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so erschlagen gefühlt. Ich gehe wie in Trance weiter, mir wird die Medaille umgehängt, ich lege mir eine Folie um und dann bin ich im Paradies. Es ist ein volles Paradies, aber es ist zweifelsfrei das Paradies: Wasser, Cola, Bier, Energiegetränke, Fruchtschorle, Energieriegel, Trauben, Äpfel, Bananen, Kuchen. Zweifelsfrei das Paradies.
Gut gestärkt holte ich mir dann meinen Kleiderbeutel, um Anke anzurufen und mir meine Finisher-SMS anzusehen. Die SMS war da, sie teilte mir stolz meine Bruttozeit von 3:54:33 mit, sonst nichts, na toll. Treffpunkt mit Anke verabredet, da erschien die nächste SMS eines Freundes, der mir zu meinen 3:49:19 netto gratulierte. Die Halle 1 des Frankfurter Messe erbebte unter meinem Gejubel. Meine Freude ließ mich die kalte Dusche mit Gelassenheit ertragen, von mr aus hätten auch Eiswürfel aus dem Duschkopf kommen können.
Hier noch zum Abschluß meine offiziellen Nettozeiten:
Zeit 3.49:19
Erste Hälfte in 1:53:30, zweite Hälfte in 1:55:49 (gar keine so schlechte Einteilung)
km 5: 27:53 min
km 10: 26:11 min
km 15: 26:43 min
km 20: 26:47 min
km 25: 26:45 min
km 30: 27:29 min
km 35: 27:39 min
km 40: 27:55 min