Laufbericht Frankfurt-Marathon 2005: Beautiful Sunday
Verfasst: 01.11.2005, 02:30
Frankfurt-Marathon 2005: Beautiful Sunday
Nach dem Marathon ist vor dem Marathon
„Ich Idiot! Ich Esel! Ich… Anfänger.“
Fassungslos und enttäuscht erhebe ich kurz vor der Ziellinie doch noch meine Arme. Aber statt der Siegerpose kommt dabei eher ein gekreuzigter Jesus heraus. Hinter dem Ziel fallen dem Jesus die Arme dann auch ganz schnell wieder runter.
Das war der Köln-Marathon im September: Zu schnell losgelaufen, zu wenig gegessen, viel zu wenig getrunken. Qual und Schmerz waren die Rache, eine Minute Verbesserung gegenüber der Bestleistung ein zu karger Lohn. „Ich will noch eine Chance!“ schrie es aus mir heraus, „ich will, ich will, ich will – nach Frankfurt.“
Meine beste Frau der Welt konnte den Seelenschmerz ihres geliebten Gatten natürlich nachvollziehen und erklärte mein Vorhaben, einen dritten Marathon dieses Jahr zu laufen, für vollkommen verrückt. Aber sie kennt mich und weiß, dass rationale Argumente in Bezug aufs Laufen überhaupt nichts ausrichten können und so resignierte sie.
Training zwischen Regeneration und Tapering
Wie trainiert man in den sieben Wochen zwischen zwei Marathons? Ich verordnete mir zehn Tage Regeneration, dreieinhalb Wochen eher längere und schnellere Einheiten und danach zwei Wochen Tapering. In den dreieinhalb Wochen wurde ich natürlich wieder zum Trainingsweltmeister mit ca. 85 km pro Woche, orientiert an den H. Steffny-Plänen für die umfangreichsten Wochen eines 3:30 Stunden-Finishers, mit den langen Läufen auf 33 km ausgedehnt. Intervalle von 4x2.000 bis 3x5.000m, Tempodauerläufe von 10-15km, der Rest langsam.
Die Einheiten zu absolvieren war keine Schwierigkeit, aber ein richtiger Trainingseffekt mit kontinuierlicher Absenkung des Pulses trat nicht ein, auch nicht in den Tapering-Wochen. Trotzdem fühlte ich mich am Marathontag fit.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Der Frankfurt-Marathon wurde mir geschenkt. Von meiner Familie, weil sie mir einen freien Sonntag schenkten. Von dem Online-Magazin running pur, weil es mir einen Startplatz als Testläufer schenkte. Vor allem aber als dritte Chance, die 3:30 Stunden zu bezwingen. Es gab nur eine Zielzeit und kein Zweit- oder Drittziel.
Während der Vorbereitung hatte ich mich aber von der Verbissenheit verabschiedet, dieses Ziel um jeden Preis – sprich: meine Gesundheit - zu erreichen. Ich wollte locker laufen, clever laufen, mir auf dem ersten Drittel Zeit lassen, langsam wieder aufholen und dann auf dem letzten Drittel sehen, was noch geht.
Vor allem aber wollte ich Spaß haben. Möglichst viele Foris im wahren Leben erleben und ruhig mal eine Minute bei den Groupies vertrödeln. Selten genug, dass ich im Hellen laufe, und noch seltener, dass ich an Wettkämpfen teilnehme und dort Gleichgesinnte treffe. Soviel gute Zeit muss sein. Entweder ich packe die 3:30 locker und mit allen Späßchen oder halt nicht.
Mit dieser entspannten Haltung machte ich mich am frühen Sonntagmorgen auf nach Frankfurt.
Marathon - Mall hier, Mall dort
Zwei Stunden später stehe ich vor dem „Marathon der kurzen Wege“. Aber von den kurzen Wegen muss man ziemlich viele nehmen. Durchgang hier – verkehrt. Treppe dort – ganz verkehrt. Herrendusche – noch nicht. Festhalle – super, aber leider erst zum Schluss. Startunterlagen? Ganz nach oben, richtig. „Viel Erfolg und viel Spaß!“ „Oh, vielen Dank“.
Erheiterung für alle bei der Kleiderbeutelabgabe: Die drei Helfer hatten ihr Ablageareal überhaupt nicht im Griff. Immer zwei von ihnen irrten suchend im hinteren Teil umher, der jeweils dritte traute sich nach vorne zum Tisch, wo die Läuferscharen ihm ihre Taschen entgegen streckten. Verschüchtert nahm er zwei, drei Taschen entgegen und verschwand erst einmal wieder, um angestrengt auf dem Boden nach irgendwelchen Markierungen zu suchen. Hoffentlich bekomme ich nachher meine Tasche wieder.
Das viele Herumirren zwischen den Stockwerken und Gängen hatte zumindest den Vorteil, dass ich mir die Illusion einer gepflegten, ruhigen Toilette auf der Messe abschminken konnte. Notdurft-gedrungen reihte ich mich zumindest in die Schlange an den Urinalen ein und ermunterte die Vorderleute mit einem „locker laufen lassen“, sich zu beeilen.
Aber schließlich war noch genug Zeit zum Warmlaufen und Dehnen und eine Viertelstunde vor dem Start entledigte ein Dixi-Klo am Rand der Startaufstellung mich größerer Sorgen.
Alles ist himmelblau, gold und rosa
Mit dem Startschuss steigen hunderte roter Luftballons in den hellblauen Vormittagshimmel. Noch ist es leicht bedeckt, um die 18 Grad warm. Viele der Läufer scheinen Sauna zu lieben. Lange Hosen, langarmige Oberteile, teilweise haben sie sogar Laufjacken an. Da sind ja selbst die Zuschauer schlauer! Aber das sind vielleicht auch keine Sauna-Fans. Egal, wir laufen los, der eine mit langen Hosen, der andere auf kurzen Beinen.
Auf den ersten Metern beherrscht hellblau auch die Zuschauermenge: Radio hr1 hat blaue Aufblas-Röhren und Tröten verteilt, und da ich ganz rechts laufe, dröhnt es mir mächtig in die Ohren. Die Straße ist zwar breit, aber es ist trotzdem sehr eng. Ich muss auf jeden Schritt acht geben und übersehe glatt die ersten Kilometerschilder. Sofern der Forerunner überhaupt eine Pace anzeigt, pendelt er um die 5 min/km – goldrichtig.
Bei Kilometer acht püschelt es auf der linken Laufseite leuchtend rosa aus der Masse der Zuschauer. Das kann nur FrauSchmitt sein. In Kamikaze-Manier setze ich einen Sturzflug nach links an um dann ziemlich unvermindert zum Stehen zu kommen. Die nachfolgenden Läufer mögen keine Sturzflüge, vor allen Dingen keine eigenen. Mir egal, ich begrüße die Groupies mit einem „Frau Schmitt… ich möchte… ein Bild…. von mir“. FrauSchmitt beeilt sich, ihre Kamera rauszuholen und zu aktivieren. Dabei hab ich doch so viel Zeit. Aber das weiß sie ja nicht.
Satisfaction
So hab ich mir den Frankfurt-Marathon vorgestellt: links ein Hochhaus, rechts ein Hochhaus und tief in der Straßenschlucht die Läufer. Mein Blick wandert immer wieder nach oben und ich stelle mir vor, dass es so oder ähnlich beim New York-Marathon aussieht. Die meisten Läufer scheint das nicht zu beeindrucken oder nicht zu interessieren. Sie schauen nach unten oder bestenfalls geradeaus. Haben auch kein Auge und kein Ohr für die Bands an der Strecke.
Apropos Bands: Samba-Bands sind ja so was von mega-out. Das hat doch nun jeder Marathon. Und in Frankfurt gibt es davon so viele, dass teilweise nur jede zweite spielt, um die nebenstehende nicht zu stören. Gibt’s auch noch was anderes? Ah ja, irgendwo zwischen km 9 und 10 erklingen die Gitarren-Riffs des Rolling-Stones-Hits „Satisfaction“. Die Leute singen mit: „I can’t get no…“ und auch ich rocke ab. Während des Laufens, versteht sich. Super Band, super Stimmung, ich bin begeistert.
Stadtidylle und Kleingartenkolonie
Die Frankfurter mögen mir verzeihen: Ich bin ortsunkundig und weiß eigentlich kaum, wo ich längs gelaufen bin. Da war noch der Henninger Turm und irgendwann ging es auch über den Main (der Streckenplan sagt: bei km 12), ein Stück breitere Zubringerstraße und ab dann gepflegte Reihenhaussiedlungen. Nur noch vereinzelt Musik aus Musikboxen, ab und zu eine unvermeidbare Samba-Band, ansonsten alles recht friedlich. Überraschenderweise ruft mir jemand bei km14 ein „Hallo, Oliver“ zu, obwohl auf meiner Startnummer nur „Oli“ steht. Ich kann nur noch ein kurzes „Hallo“ zurückgeben, ohne zu wissen, wer das war. Greenlab, warst du das? Oder Eva77?
Bei km 15 gibt es erstmals auch Bananen und ich mache voller Genuss eine Geh- und Trinkpause. Es ist mir gelungen, bis jetzt im niedrigen Pulsbereich zu laufen und trotzdem bin ich nur 17 Sekunden hinter der Zielzeit. So soll es weiter laufen.
Zuschauer gibt es inzwischen weniger. Es wird mir ein wenig fad und ich krame meinen MP3-Player raus. Aus der Buddah-Bar umspülen orientalische Chillout-Sounds meine Gehörgänge. Bei km 20 wieder Rast gemacht, frisch geduscht (na ja, Becher Wasser über Kopf, Brust und Rücken) und auch mal den Iso-Drink probiert. Das wirkt sich natürlich auf die nachfolgende HM-Zeit aus: 1:45:45 Std, macht 45 Sekunden Rückstand auf die Zielzeit, mindestens gleich bleibendes Tempo vorausgesetzt.
Vereinzelte Anfeuerungen kommen jetzt übrigens aus den Vorgärten, wo Mutti im Gartenstuhl sitzt und Vatti am Grill steht. Riecht lecker. Im krassen Gegensatz dazu stinkt es wenig später aus der Abwasser-Reinigungs-Anlage ARA, dass man am liebsten nicht mehr atmen möchte. Wer hat sich denn diese Scheiß-Strecke ausgedacht?
Bissige Banghra-Beats aus dem MP3-Player treiben mich über die Mainbrücke zurück nach Norden.
Höchstleistung erwartet
Nun bin ich aber gespannt: die beste Stimmung der ganzen Strecke soll in Höchst sein. Hmm, Samba-Band. Immerhin mit Sänger. Viele Zuschauer, o.k. Begeisterungsfaktor auch in Ordnung. Aber kein Vergleich zu Köln (Chlodwigplatz, Hohenzollernring) oder Hamburg (Landungsbrücken, Klosterstern). Das richtige Gänsehaut-Feeling stellt sich bei mir nicht ein.
Auf der Gegenfahrbahn kommen mir Läufer entgegen, also gibt es einen Wendepunkt. Mit den Wendepunkten ist das so eine Sache. Testen die Veranstalter damit, wie es um die mentale Stärke bestellt ist? Oder wie ehrlich die Läufer sind und nicht abkürzen? Ich hoffe bei jeder Wendestrecke, dass sich am Ende eine Zeitkontrolle befindet und alle Schummler disqualifiziert werden. In Frankfurt sind zumindest in den meisten Wendestrecken auch 5 km-Messpunkte, aber gerade in Höchst könnte man exakt einen Kilometer abkürzen, da man die 30 km-Marke auf der Gegenstrecke sehen kann. Aber mir sind an anderen Streckenteilen auch zusätzliche Messpunkte aufgefallen, also ist das Problem bekannt.
Der Luxus, sich keine Bestleistungen zu erlauben
Meine Höchstleistungen lassen inzwischen auch zu wünschen übrig. Die Schmerzen in den Beinen nehmen zu. Bei km 30 bin ich eine Minute zurück, bei km 35 zwei Minuten. Du musst dich jetzt entscheiden, Kleines: Willst du Kandidatin A mit der erotischen Zielzeit, die dich allerdings bis zur Bewusstlosigkeit treibt oder Kandidatin B mit einer neuen Bestzeit, mit der du aber eigentlich nicht glücklich wirst oder Kandidatin C, die deinen Lustgewinn sofort steigert?
Kandidatin B scheidet sofort aus. Entweder 3:30 oder nix. Basta.
Die Entscheidung zwischen A und C dauert fünf Minuten. Gebe ich nicht leichtfertig eine Chance weg? Wäre das eine Aufgabe, wäre mein Wille gebrochen? So richtig mies geht es mir doch noch nicht. Würde ich nächstes Mal bei km 35 an meiner Leistung zweifeln?
Egal wie, aber es muss eine bewusste Entscheidung sein, keine halbherzige. Und ich werde mich hinterher nicht ärgern, egal wie es ausgeht.
Ich entscheide mich für C.
Genau in diesem Augenblick ertönt links Live-Musik: Ha – ha – ha, Beautiful Sunday, this is my - my – my – beautiful day. Oldie aus den Siebzigern, Daniel Boone, One-Hit-Wonder. Das ist der richtige Song für diesen Tag. Dieser Tag, dieser Marathon wurde mir geschenkt, und jetzt genieße ich ihn.
Marathon-Jogging
Die Skyline der City ist wieder in Sicht, die Mainzer Landstraße nimmt langsam ein Ende und die Zuschauer werden wieder zahlreicher. Mal sehen, ob es neue Sprüche auf den Anfeuerungsschildern gibt. „Robert, du machst das freiwillig“, nicht schlecht. „We love to entertain you“, noch besser. „DAS soll LAUFEN sein??“, Moment mal. Und dann steht da auch noch laufen-aktuell drunter. Das muss sofort gecheckt werden. Lahme-Ente/Heike, du wirst ab sofort zum Kampf-Groupie ernannt!
Und auch die anderen Groupies FrauSchmitt, Anke, Ralf und (wen hab ich noch vergessen) stehen bei km 38 wie versprochen. Diesmal kann ich mir verständlicherweise noch mehr Zeit nehmen und wir halten einen ausgiebigen Plausch. Da ich ja bereits seit einer Viertelstunde gejoggt bin, sehe ich recht unangestrengt aus, was mir auch sofort vorgeworfen wird.
Ja ja, andere quälen sich jetzt so richtig. Ich bin faul und bester Laune.
Aber so richtig faul sind viele Zuschauer. Die stehen nur rum und tun nix. Sind anscheinend noch nicht mal guter Laune. Die muss ich dann doch noch anfeuern. Ich schmettere ihnen ein „Haltet durch, ich hab’s nicht mehr weit“ entgegen. Manchmal hebt ein Spruch die Stimmung mehr als eine Samba-Band. Richtig schräge Musik gibt es bei km 40 vom Trompeter: Leise rieselt der Schnee. Ich rufe ihm ein „Hast du nicht was Passenderes?“ zu, worauf hin er das letzte Geleit anstimmt.
Feststimmung
Ich mache mich bereit für den Zieleinlauf in der Festhalle. Roter Teppich, Dunkelheit, bunte Lichter, ich auf der Großbildleinwand. Publikum jubelt, ich auch. Spitzenlauf. Bin nicht gekreuzigt, also heb ich auch nicht die Arme. Bin doch nicht Jesus, lauf doch keine 3:30. Jedenfalls nicht heute.
Jetzt meld ich mich zum Hamburg-Marathon an. Nach dem Marathon ist vor dem Marathon. Und ratet mal, was ich als Zielzeit angebe.
Vielen Dank, Frankfurt, vielen Dank, Groupies!
Ha – ha – ha – Beautiful Sunday,
oLi
Nach dem Marathon ist vor dem Marathon
„Ich Idiot! Ich Esel! Ich… Anfänger.“
Fassungslos und enttäuscht erhebe ich kurz vor der Ziellinie doch noch meine Arme. Aber statt der Siegerpose kommt dabei eher ein gekreuzigter Jesus heraus. Hinter dem Ziel fallen dem Jesus die Arme dann auch ganz schnell wieder runter.
Das war der Köln-Marathon im September: Zu schnell losgelaufen, zu wenig gegessen, viel zu wenig getrunken. Qual und Schmerz waren die Rache, eine Minute Verbesserung gegenüber der Bestleistung ein zu karger Lohn. „Ich will noch eine Chance!“ schrie es aus mir heraus, „ich will, ich will, ich will – nach Frankfurt.“
Meine beste Frau der Welt konnte den Seelenschmerz ihres geliebten Gatten natürlich nachvollziehen und erklärte mein Vorhaben, einen dritten Marathon dieses Jahr zu laufen, für vollkommen verrückt. Aber sie kennt mich und weiß, dass rationale Argumente in Bezug aufs Laufen überhaupt nichts ausrichten können und so resignierte sie.
Training zwischen Regeneration und Tapering
Wie trainiert man in den sieben Wochen zwischen zwei Marathons? Ich verordnete mir zehn Tage Regeneration, dreieinhalb Wochen eher längere und schnellere Einheiten und danach zwei Wochen Tapering. In den dreieinhalb Wochen wurde ich natürlich wieder zum Trainingsweltmeister mit ca. 85 km pro Woche, orientiert an den H. Steffny-Plänen für die umfangreichsten Wochen eines 3:30 Stunden-Finishers, mit den langen Läufen auf 33 km ausgedehnt. Intervalle von 4x2.000 bis 3x5.000m, Tempodauerläufe von 10-15km, der Rest langsam.
Die Einheiten zu absolvieren war keine Schwierigkeit, aber ein richtiger Trainingseffekt mit kontinuierlicher Absenkung des Pulses trat nicht ein, auch nicht in den Tapering-Wochen. Trotzdem fühlte ich mich am Marathontag fit.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Der Frankfurt-Marathon wurde mir geschenkt. Von meiner Familie, weil sie mir einen freien Sonntag schenkten. Von dem Online-Magazin running pur, weil es mir einen Startplatz als Testläufer schenkte. Vor allem aber als dritte Chance, die 3:30 Stunden zu bezwingen. Es gab nur eine Zielzeit und kein Zweit- oder Drittziel.
Während der Vorbereitung hatte ich mich aber von der Verbissenheit verabschiedet, dieses Ziel um jeden Preis – sprich: meine Gesundheit - zu erreichen. Ich wollte locker laufen, clever laufen, mir auf dem ersten Drittel Zeit lassen, langsam wieder aufholen und dann auf dem letzten Drittel sehen, was noch geht.
Vor allem aber wollte ich Spaß haben. Möglichst viele Foris im wahren Leben erleben und ruhig mal eine Minute bei den Groupies vertrödeln. Selten genug, dass ich im Hellen laufe, und noch seltener, dass ich an Wettkämpfen teilnehme und dort Gleichgesinnte treffe. Soviel gute Zeit muss sein. Entweder ich packe die 3:30 locker und mit allen Späßchen oder halt nicht.
Mit dieser entspannten Haltung machte ich mich am frühen Sonntagmorgen auf nach Frankfurt.
Marathon - Mall hier, Mall dort
Zwei Stunden später stehe ich vor dem „Marathon der kurzen Wege“. Aber von den kurzen Wegen muss man ziemlich viele nehmen. Durchgang hier – verkehrt. Treppe dort – ganz verkehrt. Herrendusche – noch nicht. Festhalle – super, aber leider erst zum Schluss. Startunterlagen? Ganz nach oben, richtig. „Viel Erfolg und viel Spaß!“ „Oh, vielen Dank“.
Erheiterung für alle bei der Kleiderbeutelabgabe: Die drei Helfer hatten ihr Ablageareal überhaupt nicht im Griff. Immer zwei von ihnen irrten suchend im hinteren Teil umher, der jeweils dritte traute sich nach vorne zum Tisch, wo die Läuferscharen ihm ihre Taschen entgegen streckten. Verschüchtert nahm er zwei, drei Taschen entgegen und verschwand erst einmal wieder, um angestrengt auf dem Boden nach irgendwelchen Markierungen zu suchen. Hoffentlich bekomme ich nachher meine Tasche wieder.
Das viele Herumirren zwischen den Stockwerken und Gängen hatte zumindest den Vorteil, dass ich mir die Illusion einer gepflegten, ruhigen Toilette auf der Messe abschminken konnte. Notdurft-gedrungen reihte ich mich zumindest in die Schlange an den Urinalen ein und ermunterte die Vorderleute mit einem „locker laufen lassen“, sich zu beeilen.
Aber schließlich war noch genug Zeit zum Warmlaufen und Dehnen und eine Viertelstunde vor dem Start entledigte ein Dixi-Klo am Rand der Startaufstellung mich größerer Sorgen.
Alles ist himmelblau, gold und rosa
Mit dem Startschuss steigen hunderte roter Luftballons in den hellblauen Vormittagshimmel. Noch ist es leicht bedeckt, um die 18 Grad warm. Viele der Läufer scheinen Sauna zu lieben. Lange Hosen, langarmige Oberteile, teilweise haben sie sogar Laufjacken an. Da sind ja selbst die Zuschauer schlauer! Aber das sind vielleicht auch keine Sauna-Fans. Egal, wir laufen los, der eine mit langen Hosen, der andere auf kurzen Beinen.
Auf den ersten Metern beherrscht hellblau auch die Zuschauermenge: Radio hr1 hat blaue Aufblas-Röhren und Tröten verteilt, und da ich ganz rechts laufe, dröhnt es mir mächtig in die Ohren. Die Straße ist zwar breit, aber es ist trotzdem sehr eng. Ich muss auf jeden Schritt acht geben und übersehe glatt die ersten Kilometerschilder. Sofern der Forerunner überhaupt eine Pace anzeigt, pendelt er um die 5 min/km – goldrichtig.
Bei Kilometer acht püschelt es auf der linken Laufseite leuchtend rosa aus der Masse der Zuschauer. Das kann nur FrauSchmitt sein. In Kamikaze-Manier setze ich einen Sturzflug nach links an um dann ziemlich unvermindert zum Stehen zu kommen. Die nachfolgenden Läufer mögen keine Sturzflüge, vor allen Dingen keine eigenen. Mir egal, ich begrüße die Groupies mit einem „Frau Schmitt… ich möchte… ein Bild…. von mir“. FrauSchmitt beeilt sich, ihre Kamera rauszuholen und zu aktivieren. Dabei hab ich doch so viel Zeit. Aber das weiß sie ja nicht.
Satisfaction
So hab ich mir den Frankfurt-Marathon vorgestellt: links ein Hochhaus, rechts ein Hochhaus und tief in der Straßenschlucht die Läufer. Mein Blick wandert immer wieder nach oben und ich stelle mir vor, dass es so oder ähnlich beim New York-Marathon aussieht. Die meisten Läufer scheint das nicht zu beeindrucken oder nicht zu interessieren. Sie schauen nach unten oder bestenfalls geradeaus. Haben auch kein Auge und kein Ohr für die Bands an der Strecke.
Apropos Bands: Samba-Bands sind ja so was von mega-out. Das hat doch nun jeder Marathon. Und in Frankfurt gibt es davon so viele, dass teilweise nur jede zweite spielt, um die nebenstehende nicht zu stören. Gibt’s auch noch was anderes? Ah ja, irgendwo zwischen km 9 und 10 erklingen die Gitarren-Riffs des Rolling-Stones-Hits „Satisfaction“. Die Leute singen mit: „I can’t get no…“ und auch ich rocke ab. Während des Laufens, versteht sich. Super Band, super Stimmung, ich bin begeistert.
Stadtidylle und Kleingartenkolonie
Die Frankfurter mögen mir verzeihen: Ich bin ortsunkundig und weiß eigentlich kaum, wo ich längs gelaufen bin. Da war noch der Henninger Turm und irgendwann ging es auch über den Main (der Streckenplan sagt: bei km 12), ein Stück breitere Zubringerstraße und ab dann gepflegte Reihenhaussiedlungen. Nur noch vereinzelt Musik aus Musikboxen, ab und zu eine unvermeidbare Samba-Band, ansonsten alles recht friedlich. Überraschenderweise ruft mir jemand bei km14 ein „Hallo, Oliver“ zu, obwohl auf meiner Startnummer nur „Oli“ steht. Ich kann nur noch ein kurzes „Hallo“ zurückgeben, ohne zu wissen, wer das war. Greenlab, warst du das? Oder Eva77?
Bei km 15 gibt es erstmals auch Bananen und ich mache voller Genuss eine Geh- und Trinkpause. Es ist mir gelungen, bis jetzt im niedrigen Pulsbereich zu laufen und trotzdem bin ich nur 17 Sekunden hinter der Zielzeit. So soll es weiter laufen.
Zuschauer gibt es inzwischen weniger. Es wird mir ein wenig fad und ich krame meinen MP3-Player raus. Aus der Buddah-Bar umspülen orientalische Chillout-Sounds meine Gehörgänge. Bei km 20 wieder Rast gemacht, frisch geduscht (na ja, Becher Wasser über Kopf, Brust und Rücken) und auch mal den Iso-Drink probiert. Das wirkt sich natürlich auf die nachfolgende HM-Zeit aus: 1:45:45 Std, macht 45 Sekunden Rückstand auf die Zielzeit, mindestens gleich bleibendes Tempo vorausgesetzt.
Vereinzelte Anfeuerungen kommen jetzt übrigens aus den Vorgärten, wo Mutti im Gartenstuhl sitzt und Vatti am Grill steht. Riecht lecker. Im krassen Gegensatz dazu stinkt es wenig später aus der Abwasser-Reinigungs-Anlage ARA, dass man am liebsten nicht mehr atmen möchte. Wer hat sich denn diese Scheiß-Strecke ausgedacht?
Bissige Banghra-Beats aus dem MP3-Player treiben mich über die Mainbrücke zurück nach Norden.
Höchstleistung erwartet
Nun bin ich aber gespannt: die beste Stimmung der ganzen Strecke soll in Höchst sein. Hmm, Samba-Band. Immerhin mit Sänger. Viele Zuschauer, o.k. Begeisterungsfaktor auch in Ordnung. Aber kein Vergleich zu Köln (Chlodwigplatz, Hohenzollernring) oder Hamburg (Landungsbrücken, Klosterstern). Das richtige Gänsehaut-Feeling stellt sich bei mir nicht ein.
Auf der Gegenfahrbahn kommen mir Läufer entgegen, also gibt es einen Wendepunkt. Mit den Wendepunkten ist das so eine Sache. Testen die Veranstalter damit, wie es um die mentale Stärke bestellt ist? Oder wie ehrlich die Läufer sind und nicht abkürzen? Ich hoffe bei jeder Wendestrecke, dass sich am Ende eine Zeitkontrolle befindet und alle Schummler disqualifiziert werden. In Frankfurt sind zumindest in den meisten Wendestrecken auch 5 km-Messpunkte, aber gerade in Höchst könnte man exakt einen Kilometer abkürzen, da man die 30 km-Marke auf der Gegenstrecke sehen kann. Aber mir sind an anderen Streckenteilen auch zusätzliche Messpunkte aufgefallen, also ist das Problem bekannt.
Der Luxus, sich keine Bestleistungen zu erlauben
Meine Höchstleistungen lassen inzwischen auch zu wünschen übrig. Die Schmerzen in den Beinen nehmen zu. Bei km 30 bin ich eine Minute zurück, bei km 35 zwei Minuten. Du musst dich jetzt entscheiden, Kleines: Willst du Kandidatin A mit der erotischen Zielzeit, die dich allerdings bis zur Bewusstlosigkeit treibt oder Kandidatin B mit einer neuen Bestzeit, mit der du aber eigentlich nicht glücklich wirst oder Kandidatin C, die deinen Lustgewinn sofort steigert?
Kandidatin B scheidet sofort aus. Entweder 3:30 oder nix. Basta.
Die Entscheidung zwischen A und C dauert fünf Minuten. Gebe ich nicht leichtfertig eine Chance weg? Wäre das eine Aufgabe, wäre mein Wille gebrochen? So richtig mies geht es mir doch noch nicht. Würde ich nächstes Mal bei km 35 an meiner Leistung zweifeln?
Egal wie, aber es muss eine bewusste Entscheidung sein, keine halbherzige. Und ich werde mich hinterher nicht ärgern, egal wie es ausgeht.
Ich entscheide mich für C.
Genau in diesem Augenblick ertönt links Live-Musik: Ha – ha – ha, Beautiful Sunday, this is my - my – my – beautiful day. Oldie aus den Siebzigern, Daniel Boone, One-Hit-Wonder. Das ist der richtige Song für diesen Tag. Dieser Tag, dieser Marathon wurde mir geschenkt, und jetzt genieße ich ihn.
Marathon-Jogging
Die Skyline der City ist wieder in Sicht, die Mainzer Landstraße nimmt langsam ein Ende und die Zuschauer werden wieder zahlreicher. Mal sehen, ob es neue Sprüche auf den Anfeuerungsschildern gibt. „Robert, du machst das freiwillig“, nicht schlecht. „We love to entertain you“, noch besser. „DAS soll LAUFEN sein??“, Moment mal. Und dann steht da auch noch laufen-aktuell drunter. Das muss sofort gecheckt werden. Lahme-Ente/Heike, du wirst ab sofort zum Kampf-Groupie ernannt!
Und auch die anderen Groupies FrauSchmitt, Anke, Ralf und (wen hab ich noch vergessen) stehen bei km 38 wie versprochen. Diesmal kann ich mir verständlicherweise noch mehr Zeit nehmen und wir halten einen ausgiebigen Plausch. Da ich ja bereits seit einer Viertelstunde gejoggt bin, sehe ich recht unangestrengt aus, was mir auch sofort vorgeworfen wird.
Ja ja, andere quälen sich jetzt so richtig. Ich bin faul und bester Laune.
Aber so richtig faul sind viele Zuschauer. Die stehen nur rum und tun nix. Sind anscheinend noch nicht mal guter Laune. Die muss ich dann doch noch anfeuern. Ich schmettere ihnen ein „Haltet durch, ich hab’s nicht mehr weit“ entgegen. Manchmal hebt ein Spruch die Stimmung mehr als eine Samba-Band. Richtig schräge Musik gibt es bei km 40 vom Trompeter: Leise rieselt der Schnee. Ich rufe ihm ein „Hast du nicht was Passenderes?“ zu, worauf hin er das letzte Geleit anstimmt.
Feststimmung
Ich mache mich bereit für den Zieleinlauf in der Festhalle. Roter Teppich, Dunkelheit, bunte Lichter, ich auf der Großbildleinwand. Publikum jubelt, ich auch. Spitzenlauf. Bin nicht gekreuzigt, also heb ich auch nicht die Arme. Bin doch nicht Jesus, lauf doch keine 3:30. Jedenfalls nicht heute.
Jetzt meld ich mich zum Hamburg-Marathon an. Nach dem Marathon ist vor dem Marathon. Und ratet mal, was ich als Zielzeit angebe.
Vielen Dank, Frankfurt, vielen Dank, Groupies!
Ha – ha – ha – Beautiful Sunday,
oLi